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Literatur

Leseferien mit Jonathan und Hervé

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelSonntag, 17.10.2021

Hans Blumenberg sagte mal über Bücher, dass sie fettärschig machen und Indoor-Lesen zu Lebensverdruss führt. Millionen Romanleserinnen haben sich den Spruch zu Herzen genommen und lesen de facto nur noch im Freien: am Strand, am Pool, im Urlaub. So auch wir in diesen Herbstferien.

Aus Gründen der Sonnensicherheit entschieden P. und ich uns für Kreta, aus Gründen der Lesesicherheit für die beiden Top-Romane der Saison: Crossroads von Jonathan Franzen und Die Anomalie von Hervé le Tellier. Puristisch als Realbücher der Easyjet-Gepäckgewichts-Vorgabe abgetrotzt.

Die Hotelanlage liegt abgelegen und weitläufig gestaltet im felsigen Süden Kretas, so wie Leser es lieben, die mit ihrem Roman in Ruhe gelassen werden wollen und nicht vorhaben, diesen Nicht-Ort in den nächsten Tagen zu verlassen.

Der Franzen ist für P.: 800 Seiten dysfunktionales Amerika als Familienschmöker. Auf der Strandliege neben ihr lese ich nur den ersten Satz und breche gleich lachend zusammen:

Der von kahlen Eichen und Ulmen durchbrochene Himmel, an dem zwei Frontensysteme die grauen Köpfe zusammensteckten, um New Prospect weiße Weihnachten zu bescheren, war voll feuchter Verheißung, als Russ Hildebrandt wie jeden Morgen in seinem Plymouth-Fury-Kombi zu den Bettlägerigen und Senilen der Gemeinde fuhr.

Was war das?! Selbstparodie? Der Romanfake einer Künstlichen Schreib-Intelligenz (inklusive Wetter-Anleihe bei Musil)? Ich reiche P. das Buch zurück und lese ihr im Gegenzug den ersten Satz aus Die Anomalie vor, le Telliers dystopischem Flugzeug-Doppelgänger-Drama:

Jemanden umlegen, das ist noch gar nichts.

Geht doch! Bereits in diesem kurzen Vergleich zeigt sich unser unterschiedliches Lesepensum. P. schafft locker 200 Seiten am Tag in der prallen Sonne. Ich hingegen höchstens 20 im Schatten – weil ich dauernd aufspringe, um selbst was zu notieren, danach die rote Boje umschwimmen, Kaffee holen, eine rauchen muss. So gesehen sind wir ein gutes Paar: die Epikerin und der Lakoniker.

Abends beim Essen erzählt sie mir dafür Franzens Plot um drogensüchtige Kinder, sexbesessene Väter und geisteskranke Mütter so detailliert nach, als wäre man selbst dabeigewesen. Während ich mir nur die besten „Anomalie“-Sprüche gemerkt habe („Wenn die Batterien der Beziehung schwächeln, musst du die Knöpfe der Fernbedienung umso fester drücken“ oder so ähnlich).

Nach wenigen Tagen haben wir uns aber mit unseren Büchern im ewig Gleichen der Tage bei Sonne, siebenundzwanzig Grad eingelebt. Die Ereignisarmut des Strandurlaubs bietet einen Hallraum für Gelesenes, Erinnertes, nachts intensiv Geträumtes. Der Blick wandert vom Buch zu den vom Meer umspülten Felsen am Strand, auf die vielleicht schon die kretischen Vorsokratiker gestarrt haben. Wir finden raus, wie tief das Mittelmeer ist (5.000 Meter sagt Google), und ich habe plötzlich Jay-Z’s Oceans im Ohr, wo er im weißen Tuxedo auf seiner Luxusyacht Champagner trinkt und an die Vertriebenen und Vorfahren denkt. Es ist leider nicht sein bester Song und ich plane den Ausbruch aus der Romanferien-Welt:

Abends laufe ich auf dem Küstenhighway. Außerhalb des Hotels holt einen sofort das reale Kreta ein. Bauruinen, marodierende Hunde-Rudel, tote Katzen auf dem Seitenstreifen. Man tut gut daran, auf der Straßenseite mit Gegenverkehr zu laufen – und Blickkontakt mit dem Fahrer zu suchen, der dich möglicherweise über den Haufen fährt.

Als Wendepunkt dient mir ein verlassener Tennisplatz mit Blick übers Hinterland und die verfallenden Gewächshäuser dort, bei denen man an die Murakami-Verfilmung Burning denkt, wo der Held an Gewächshäusern vorbeiläuft, um zu überlegen, welche er abfackeln soll.

Das einzige Buch, das ich von Murakami aber jemals ganz gelesen habe, ist sein Lauf-Buch. Dort beschreibt er, wie er sich gegen das sogenannte Runner’s High mit dem Gedanken wappnet, seine Frau hätte in der Zwischenzeit etwas Schlimmes über ihn rausgefunden, während er gerade euphorisch ins Ziel läuft. Ein dunkles Geheimnis.

Was könnte das sein?, frage ich mich und laufe zur Franzen-Leserin im Hotel zurück. Vielleicht bin ich schon längst nicht mehr der ruhige Romanleser, in den P. sich mal verliebt hat. Sondern jemand, der vor lauter Selberschreiben-Müssen inzwischen nur noch die Rezensionen liest.

Zum Glück freut sich P. trotzdem, mich zu sehen und wir gehen zum Abendessen. Mit Crossroads ist sie fast fertig. Die Anomalie schaffe ich erst in Berlin zu Ende, weil ich im Flugzeug nicht lesen kann.

Leseferien mit Jonathan und Hervé

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Kommentare 2
  1. Peter Groth
    Peter Groth · vor 3 Jahren

    Danke für den coolen Urlaubsbericht, inklusive Anspieltipps. War mir ein Fest (und Trost im grauen Herbstberlin)!

    1. Andreas Merkel
      Andreas Merkel · vor 3 Jahren

      Danke für den netten Kommentar, freut mich!
      (Langfassung erscheint Mittwoch im Tagesspiegel.)

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