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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Meine erste Edward-Gorey-Geschichte las ich 1987 in einem Band der Volk-und-Welt-Reihe "Ad libitum", einer Art internationalem Geschichten-Potpourri-Format, in dem damals (also in der DDR) sogar einmal etwas von Charles Bukowski erschienen ist. "Das Geheimnis der Ottomane" (1961) spielte damit, daß irgendwie etwas Anzügliches, vielleicht sogar Pornographisches, berichtet wurde (weshalb ich die Geschichte wahrscheinlich auch las), daß davon aber nichts im Bild auftauchte. Die Personen sahen seltsam distinguiert und statisch aus, irgendwie "englisch", wie in "Das Haus am Eaton Place", der Serie im ZDF, die ich so mochte, weil ich es mir schön vorstellte, in einem Haus mit so viel Personal zu leben, und vor allem mit einem eigenen Butler. Der Begriff "Ottomane" hat sich mir eingeprägt, es ist so etwas ähnliches wie eine Récamière, die sich gut zum Ohnmächtigwerden eignet. (Später kam es zu Verwirrung, als ich erfuhr, daß es einmal ein "Ottomanisches Reich" gegeben hatte.)
Nach der Wende zeigte mir ein Freund "The Unstrung harp", und ich erinnerte mich wieder an "Das Geheimnis der Ottomane", das offenbar vom selben Autor gestammt hatte. Gleich in diesem seinem ersten Buch, das 1953 erschienen ist, widmet sich Edward Gorey einem Lieblingsthema vieler Autoren: dem Schreiben. Der Schriftsteller Mr. C(lavius) F(rederick) Earbrass kommt mit seinem neuen Roman nicht voran:
"On November 18th of alternate years Mr Earbrass begins writing 'his new novel'. Weeks ago he chose its title at random from a list of them he keeps in a little green note-book."
Das ganze Elend der Schriftstellerexistenz wird hier äußerst stilvoll und idiosynkratisch parodiert, die Prokrastination, das Warten auf Inspiration, das Gerüst stark ritualisierter Abläufe bis zum fertigen Buch, dessen Erscheinen nur eine große Leere hinterläßt. Nachdem Mr. Earbrass sein fertiges Manuskript persönlich in "pink butcher's paper" eingewickelt abgegeben hat (neulich drehte sich eine Frage bei "Wer wird Millionär?" um solches Papier!) erlaubt sich der zurückgezogen lebende Autor den Besuch eines literarischen Dinners:
"The talk deals with disappointing sales, inadequate publicity, worse than inadequate royalties, idiotic or criminal reviews, others' declining talent, and the unspeakable horrors of the literary life."
Auch hier handelt es sich um ein sehr "englisches" Ambiente, mit allen verführerischen Bequemlichkeits-Gadgets (obwohl Gorey natürlich Amerikaner war). Auf der ersten Seite sieht man Mr. Earbrass in seinem verschneiten Garten mit einem Croquet-Schläger in der Hand:
"Mr Earbrass is seen on the croquet lawn of his home, Hobbies Odd, near Collapsed Pudding in Mortshire. He is studying a game left unfinished at the end of summer."
Eine wundervolle Szene, wie er versonnen die im Schnee liegenden Kugel und das Croquet-Törchen betrachtet, als handle es sich um eine Denkaufgabe! Außerdem deutet sich Goreys Freude an sprachlichem Nonsens an, man fühlt sich an Edward Lear erinnert.
(Hier sieht man, daß Gorey eine sehr komische und lakonische Lösung für das leidige Problem, beim Signieren originell sein zu müssen, gefunden hat, indem er auf der Titelseite im Buch einfach seinen gedruckten Namen durchgestrichen und mit Hand wieder eingefügt hat.)
Am Ende plant Mr. Earbrass, von dieser Entscheidung selbst überrascht, ein paar Wochen auf dem Kontinent zu verbringen und sinniert am Wasser stehend: "Though he is a person to whom things do not happen, perhaps they may when he is on the other side."
Wieder ein paar Jahre später habe ich nun entdeckt, daß Edward Gorey auch zahlreiche Kinderbücher geschrieben und/oder illustriert hat, viele davon sind schon in den 70ern im Diogenes-Verlag erschienen. Seitdem hat sich die Mainstream-Kinderbuch-Ästhetik enorm verändert, und viele Eltern würden sich sicher fragen, ob Goreys Kinderbücher für ihre an Conny-Bücher und Käpt'n-Blaubär-Heftchen gewöhnten Kinder überhaupt "geeignet" sind. Am besten, man probiert es aus! Im Fall von "Schorschi schrumpft" ("The Shrinking of Treehorn"), einer Geschichte von Florence Parry Heide, illustriert von Edward Gorey, 1971 auf Englisch und 1976 -von Hans Wollschläger (der sich sonst ja u. a. mit "Ulysses" und "Finnegans Wake" befaßt hat) übersetzt-, bei Diogenes auf Deutsch erschienen, kann ich das entschieden bejahen. (Übrigens ist von der Autorin, die zahlreiche Kinderbücher geschrieben hat, sonst nichts auf Deutsch erschienen.)
In Superheldengeschichten braucht der Held immer eine besondere Fähigkeit, ich habe mir einmal lange den Kopf zerbrochen, weil mir keine neue einfallen wollte, es schien schon alle zu geben: Schleimspuren hinterlassen, auf denen Verfolger ausrutschen, unsichtbar werden, schweben, in die Zukunft sehen, in die Vergangenheit sehen, mit Tieren sprechen, Unfälle überleben ("Unbreakable"), sich in eine Spinne verwandeln und Wände hochklettern, mit spitzen Schreien Glas zerbersten lassen. Oft ist der Held im Alltag ein Niemand, was es jugendlichen Lesern erlaubt, sich mit ihm zu identifizieren und sich vorzustellen, daß sie selbst auch in Wirklichkeit Superhelden sind, was sie leider nur keinem verraten dürfen. Gerade die Durchschnittlichkeit im Alltag kann dafür ein Beleg sein, es ist ja alles nur Tarnung. Da man sich als Jugendlicher gerne verkannt fühlt, ist das sicher ein attraktives Identifikationsmodell. Im Fall von "Schorschi schrumpft" stellt ein Junge, der ungefähr sechs oder sieben Jahre alt ist, eines Tages fest, daß er schrumpft, was eher eine Superantihelden-Eigenschaft ist, obwohl man auch sagen könnte, daß es eine Superhelden-Eigenschaft ist, daß Kinder und Jugendliche wachsen, ich könnte das gar nicht mehr! Als er es seiner Mutter erzählt, die in der Küche beschäftigt ist, sagt sie: "Das ist ja schlimm, Kind" und sieht in den Backofen. "Hoffentlich geht der Kuchen auch auf". Sein Vater stellt beim Essen gleich einmal apodiktisch fest: "Kein Mensch schrumpft." Und seine Mutter sagt: "Wenn du unbedingt schrumpfen willst, dann meinetwegen. Aber bitte nicht bei Tisch." Das ist die Art, wie Schorschis Eltern, und die meisten Erwachsenen, in allen drei Schorschi-Geschichten, die es bei Diogenes in einem Sammelband gibt, mit ihm kommunizieren. Die Erwachsenen haben zu allem nur Floskeln zu bieten, sich dem Kind zuwenden, hinhören oder hinsehen tun sie nicht. Man darf sich dabei als Eltern natürlich selbst ertappt fühlen, denn vor in der eigenen Kindheit aufgeschnappten Eltern-Floskel, die man dann als Erwachsener zum eigenen Schrecken reproduziert, ist niemand sicher.
Wie es manche Kinder tun, denen niemand zuhört, zieht sich Schorschi zurück, er liegt gerne bäuchlings auf dem Teppich und sieht fern: "Schorschi sah gerne fern. Jetzt lag er auf dem Bauch vor dem Fernseher und sah eine seiner Lieblingssendungen. Er hatte sechsundfünfzig Lieblingssendungen." (In "Schorschis Schatz" liest er in seinem Wandschrank manisch Comics. Als er sein Taschengeld einfordert, speist sein Vater ihn mit Floskeln über Geld und Sparen ab. Schorschi entdeckt dann, daß die Blätter vom Baum im Garten zu Dollarscheinen werden, was ihm aber keiner glaubt. Er kauft sich dafür massenhaft Comics, Schokoladenriegel, Knallkaugummis und Limo.)
Als Schorschis Eltern eingesehen haben, daß er tatsächlich schrumpft, sorgen sie sich lediglich um ihre Reputation: "Was sollen wir bloß machen? Was werden die Leute sagen?" (Ganz typisch: unloyale Eltern). Der Vater sagt: "Ich möchte bloß wissen, ob er das mit Absicht macht. Bloß weil er was Besonderes sein will." (Auch typisch: dem "auffälligen" Kind werden Schuldgefühle eingeredet.) Schorschi schafft es wegen seiner Größe gerade noch so in den Schulbus, aber auch in der Schule nimmt sich keiner seiner an. Die Lehrerin sagt: "In unserer Klasse wird nicht geschrumpft." (Ein in seiner autoritären Hilflosigkeit vor einem unbekannten Phänomen herrlich absurder Satz.) Weil Schorschi in seiner Not auf dem Flur an einem Wasserspender hochhüpft, den er nicht mehr erreicht, wird er zum Direktor geschickt, wo er bei der Vorzimmerdame zunächst ein Formular ausfüllen muß ("Das spart Zeit") und als Grund für sein Kommen einträgt: "Unentschuldigtes Schrumpfen." Der Direktor hat eine andere Kategorie von Weghör-Floskeln zu bieten, den kumpelhaften, optimistischen, coachhaften Spruch ("Eine Mannschaft ist nur so gut wie ihr Trainer, stimmt's?" "Ein gelöstes Problem ist kein Problem mehr, stimmt's?")
Am Abend kehrt sich die Stimmung von Schorschis Mutter in Selbstmitleid: "'Er schrumpft immer noch', schnuffelte Schorschis Mutter. 'Der Himmel ist mein Zeuge: ich habe immer versucht, im eine gute Mutter zu sein!'" (Wieder typisch: passiv-aggressiv die Opferrolle einnehmen.)
Schorschi hat die Gewohnheit, die Haferflockenpackungen zu lesen, um sich über eventuell stattfindende Gewinnspiele zu informieren und in dem Fall die Packung leer zu essen, weil man z. B. eine Hundepfeife geschickt bekommen kann. Er hat schon den ganzen Schrank voll solcher Gewinne. Zum Glück hat er von der Haferflockenfirma auch einmal ein Spiel gewonnen: "Das Große Spiel für Kinder die wachsen wollen", das noch unter seinem Bett steht. Damit kann er sich gerade noch rechtzeitig, bevor er zu klein für die Spielfiguren ist, wieder größer machen.
"Guck mal", sagte Schorschi. "Meine Größe ist wieder normal. Ich hab meine ganz normale Größe."
"Das ist schön, Kind", sagte Schorschis Mutter. "Du hast eines sehr schöne Größe, ganz bestimmt. Ich an deiner Stelle würde nie wieder schrumpfen. Vergiß nicht, es deinem Vater zu erzählen, wenn er heute abend heimkommt."
(Typisch: die Mutter hört beim Hinhören weg und delegiert das Kind an den Vater, von dem aber auch nicht mehr Aufmerksamkeit zu erwarten ist.)
Am Schluß stellt Schorschi, vor dem Fernseher stehend, als er in den Spiegel sieht, fest, daß er grün wird. "'Schorschi seufzte. 'Ich glaube, das erzähle ich lieber keinem', dachte er. 'wenn ich nichts sage, dann merken sie es überhaupt nicht.'"
Tatsächlich bemerkt es seine Mutter nicht, als sie reinkommt.
Hier steckt vielleicht ein Hinweis darauf, daß Schorschi in Wirklichkeit gar nicht geschrumpft ist, sondern es nur behauptet, um von seinen Eltern beachtet zu werden. (Daß er "grün" wird, scheint ja auch nur am Licht aus dem Fernseher zu liegen).
Es ist eine große Freude, den dicht formulierten Text zu lesen, es ist ja auch überhaupt nicht einzusehen, warum Kinderbücher schlecht geschrieben sein sollten. So, wie es ein großer Irrtum ist, zu denken, Kindermusik müßte "simpler" klingen als Erwachsenenmusik. In vielen Kinderbüchern wird allerdings überhaupt nicht mehr formuliert, Sprache scheint dort zweitrangig zu sein, bzw. man biedert sich ans Publikum an und unterfordert es. Dabei genießen Kinder sprachliche Elemente, neue Wörter, absurde Reime, schräge Formulierungen, lustige Namen.
Anders als bei Gorey gewohnt, spielt die Geschichte in der damaligen Gegenwart, wobei er bei den Dekors und bei der Kleidung so viel Stilbewußtsein beweist, daß die Gegenwart schon retro wirkt, bevor sie vergangen ist. Die Kleidung der Personen ist eine Fashion-Version der späten 60er. Besonders schön ist der Strickanzug des Schuldirektors in Kombination mit der Tropfenbrille und vor dem Hintergrund eines abstrakten Schwünge-Bilds. Das Buch ist diesmal voller "amerikanischer" Details: Einbauherd mit großer Scheibe, Wasserspender, Schulbus, Schulsekretärin, Briefkasten mit Tonnendach vor dem Haus. Es fehlen leider die freistehenden Schulstühle mit Tischfläche zum Klappen, die ich in Filmen immer so auffällig fand. Ich freue mich auch, an den Begriff "Knallkaugummi" erinnert worden zu sein.
Schorschi hat offenbar relativ wohlhabende Eltern, die eine beeindruckende Bücherwand besitzen, eine modern ausgestattete Küche und einen großen Fernseher. Die junge, hübsche Mutter scheint Hausfrau zu sein. Schorschis Einsamkeit könnte bedrückend wirken, aber in Goreys Darstellung wirken die Personen wie immer fast teilnahmslos, auch Schorschi. Außerdem freut man sich an Goreys Sinn für Oberflächenstrukturen, Schraffuren, Materialien, die Maserung einer Tür, was er alles schwarz-weiß nur mit der Feder gezeichnet hat (ich habe es ausprobiert, es hat etwas Sedierendes, das Bild dieser Bücherwand Buch für Buch abzuzeichnen).
Im dritten Band "Schorschis Wunsch" hat Schorschi Geburtstag und freut sich auf die Geschenke, er räumt sogar schon in seinem Wandschrank auf, um Platz zu schaffen, vielleicht bekommt er ja eine elektrische Eisenbahn? Aber dann scheinen sich seine Eltern gar nicht an seinen Geburtstag zu erinnern. Am Ende bekommt er einen neuen Pullover mit zu langen Ärmeln geschenkt, der den Pullover vom letzten Jahr ersetzen soll. Immerhin hat er im Garten in einem Loch im Rasen einen Krug mit einem lethargischen Dschinn entdeckt ("Ich stelle es mir ganz schön langweilig vor, immerfort in dem Krug zu sitzen", sagte Schorschi. "Nicht so langweilig, wie herauskommen zu müssen", sagte der Dschinn."), so daß er sich mit den drei Wünschen, die der Dschinn ihm erfüllen mußte, einen mit seinem Namen beschrifteten Geburtstagskuchen mit Kerzen wünschen konnte, den er am Ende alleine anschneidet.
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