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*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)
Ich lese seit nunmehr gut zehn Jahren immer wieder in den mir zugänglichen Texten Lew Schestows. Es gibt im deutschen Sprachraum bisher kaum flankierende Lektüren außer den Vor- und Geleitworten in den Ausgaben selbst, dabei hat Schestow in der Geistesgeschichte keine unwesentliche Rolle gespielt, in der russischen nicht, aber auch nicht in der westeuropäischen, in der französischen, zum Beispiel als Lehrer und später theoretischer Kontrapunkt z. B. Batailles'.
In Deutschland so scheint mir, ist Schestow noch immer zu entdecken, obwohl bei Matthes und Seitz mittlerweile große Teile seines Werkes in Übersetzung erschienen sind.
Zuletzt erschien dort ein Band von Peter Maximowitsch: Philosophie des Einzelnen. Leo Schestow zwischen Denken und Leben. Dabei handelt es sich um nicht weniger als den höchst lesbare Versuch einer Gesamtdarstellung der Schestowschen Werkes.
Lew Isaakowitsch Schestow, der eigentlich Jehuda Leib Schwarzmann hieß, wurde 1866 in Kiew geboren wurde. Er starb 1936 in Paris und er war ... Ja was war er? In seinen Schriften entzieht er sich der Bestimmung, weil er die Kategorien einfach nicht erfüllt. Er war Philosoph, Religionsphilosoph, Literaturwissenschaftler und Kritiker, und er war nichts von alldem. Vielleicht trifft auf Schestow das Wort Literat noch am besten.
Felix Filipp Ingold, der Schestow übersetzt und herausgegeben hat, schreibt in seinem Vorwort zu dem Buch „Siege und Niederlagen2 das 2013 bei Mathes und Seitz erschien:
„Mit Nietzsche ging Schestow, der als philosophischer Autodidakt gleichsam naturgemäß zum Frei- und Querdenkertum neigte, einig nicht nur in seiner Fundamentalkritik an der europäischen Schulphilosophie, sondern auch in seiner Vorliebe für Musik und Tanz, von der sein sprunghafter Stil – im Denken nicht anders als in der Schreibbewegung – deutlich geprägt war.“
Und das ist fürs erste das bemerkenswerte an Schestows Texten, die in diesem Band: „Siege und Niederlagen“ zusammengefasst sind. So wie er nicht einzuordnen ist, ordnet er nicht ein. Übertritt jegliche Gattungsgrenze, macht aus philosophischen Texten literarische und aus literarischen solche der Erkenntnistheorie. Und: noch einmal aus Ingolds Vorwort:
„Man könnte den Eindruck gewinnen, Schestow lasse 'seine' Autoren durchweg und bedenkenlos in seinem Namen, an seiner Stelle argumentieren. Er selbst hat dieses wissenschaftlich unhaltbare Vorgehen als ›Seelenwanderung‹ gerechtfertigt, sein Freund und Kollege Berdjajew fand dafür den passenden, leicht ironischen Ausdruck „Schestowisierung“, was für eine vereinnahmende „Überschreitung“ oder für eine Art von synthetisierender Nachschrift stehen mag.“
Was Schestow macht, ist ein Abenteuer auf ungesichertem Gelände. In dem er die Texte um sich selbst herum gruppiert, setzt er sich ihnen aus. Und dieses Abenteuer lesend mitzuerleben ist gleichfalls abenteuerlich.
Wenn Schestow sich zum Beispiel Hamlet zuwendet, dann also der Figur Hamlet, den vorgestellten Menschen, nicht vordergründig dem Stück als Literatur aber über das Stück:
„Er nahm diese ganze gelehrte Nahrung zu sich, erweiterte seine theoretische Erfahrung, doch je mehr er aus seinen Büchern erfuhr, desto weniger begriff er die reale konkrete Bedeutung der gewaltigen Lebenswelt, mit ihrer endlosen Vergangenheit und ihrer weitreichenden Gegenwart.“
Im Text, aus dem dieses Zitat stammt (Versuch über Hamlet), findet sich viel der modernen und zeitgenössischen Sprach- und Wissenschaftsskepsis. Als schlüge sich um 1900 der Positivismus endgültig auf die Seite der Maschinen, und die Menschen als Maschinenbauer bleiben ratlos dahinter zurück. Einige wenige von ihnen werden wie Hamlet zu Enzyklopädisten. Und einer davon begegnet uns 30 Jahre später in Sartres “Der Ekel“ wieder.
Noch interessanter aber fand ich die Wendung „endlose Vergangenheit“. Endlos heißt auch: unüberschaubar, nicht auszuloten. der Endlosigkeit ist kein technisches Kraut gewachsen. Nur der Begriff Fortschritt versucht diesem Material einen Sinn einzublasen, tut dieses aber auf Basis einer Selektion: was nicht in sein Schema passt, ist dem Untergang anheimgegeben. Aber wenn uns die endlose Vergangenheit nicht einschüchtert, setzt sie uns frei. (kann sie uns frei setzen.) Geschichte.
Peter Maximowitsch stellt in seinem Schestowbuch die Thesa auf, dass sich in der Schestowschen Lesart Shakespesre in Hamlet darstellt, oder Dostojewski in Rakolnikow.
„Schestow vollzieht wie bei Nietzsche und Tolstoi auch bei Dostojewski eine Projektion der literarischen Motive zurück auf den Autor.“
Das Buch „Siege und Niederlagen“ wird durch ein Reihe Philosophischer Fragmente beschlossen. Einige davon führen Gedanken an, beginnen mit deren Entwicklung, andere verhalten sich eher aphoristisch. Ein Lesevergnügen bergen sie alle. Das Fragmentarische scheint mir ein genuiner Ausdruck von Schestows Denkens zu sein, dabei lässt er die Romantik allerdings hinter sich. Das Rätsel ist hier kein Zauber und auch kein Unvermögen des Erkennens, sondern strukturelles Moment und Resultat der Weltzuwendung. Unter den Fragmenten findet sich Folgendes:
„Die moderne wissenschaftliche Philosophie hat sich von den Mythen losgesagt, um so häufiger muss sie Zuflucht zu Metaphern nehmen, doch was ist eine Metapher anderes, als ein kostümierter Mythos? Kostümiert mit Alltagskleidung.“
Diese Sätze sind erstaunlich, stellen sie Schestow doch als poststrukturalistischen Zeitgenossen dar. Allerdings ist mit dergleichem Label dem Autor nicht beizukommen. Maximowitsch geht auch dem nach.
Unter dem Titel "Spekulation" schreibt Schestow:
" … Darum beginnen alle spekulativen Systeme bei der Freiheit und enden bei der Notwendigkeit, wobei sie, da ja die Notwendigkeit allgemein gesprochen keinen guten Ruf genießt, gewöhnlich zu beweisen bemüht sind, dass jene letzte höchste Notwendigkeit, zu der man vermittelst der Spekulation gelangt, sich in nichts von der Freiheit unterscheide, mit anderen Worten, dass vernünftige Freiheit und Notwendigkeit ein und das selbe sei."
Gegen diese Position setzt Schestow letztlich sein Konzept gespeist unter anderem aus einer Auseinandersetzungen mit Kirkegaard, Nietzsche und Pascal, die nachzuvollziehen die Lektüre des Buches von Maximowitsch auch einen Anlass bietet.
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