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Literatur

Annie Ernaux: Sich verlieren – Die Geschichte einer Obsession

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelMittwoch, 16.06.2021

Das alte Faible für die frühen Bücher von Annie Ernaux:

Vor dem großen Ruhm auch hierzulande, als sie noch Goldmann-Erotik-Trash und nicht Suhrkamp war. Sich verlieren - Die Geschichte einer Obsession (aus dem Französischen von Gaby Wurster, 2004) ist das Tagebuch über eine Affäre, die Annie Ernaux Ende der 80er mit einem jüngeren, verheirateten russischen Diplomaten hatte, von der auch schon Eine vollkommene Leidenschaft – Die Geschichte einer erotischen Faszination handelte (ebenfalls Goldmann, ebenfalls 2004, ebenfalls eine Geschichte mit erotischem Genitiv ...).

Beide Bücher gibt es nur noch antiquarisch und in meinem gebrauchten Mängelexemplar von Sich verlieren hat eine Leserin vor mir sich die Mühe gemacht, jedes Fremdwort in Ernaux' Text mit grünem Stift zu unterstreichen und dessen Bedeutung säuberlich dazuzuschreiben: "intellektuell - verstandesgemäß", "Eremitage - 1. Einsiedelei 2. dem zurückgezogenen Leben dienendes Lustschloss od. Parkgebäude", "Fellatio - sexuelle Stimulation des Penis mit dem Mund"... Hier wurde also ein Taschenbuch mit nacktem Frauenrücken auf dem Cover mit einem Aufwand und einer Ernsthaftigkeit des Verstehenwollens gelesen, die einen zutiefst berühren.

Seltsamerweise nicht unterstrichen: "Oblation" (was ich selbst nachgeschlagen hätte) aus dem Vorwort, das die Vorleserin vielleicht übersprungen hat und in dem Annie Ernaux im Jahr 2000 erklärt, warum sie sich zur unzensierten Veröffentlichung dieses erotischen Tagebuchs entschieden hat:

Ich merkte, dass es auf diesen Seiten eine andere "Wahrheit" gibt, als die, die "Eine vollkommene Leidenschaft" enthält. Es ist etwas Rohes, Schwarzes, Heilloses, eine Art "Oblation".

Aus Gründen der Recherche lese ich gerade vor allem Autorinnen, zum Beispiel Ruth Herzberg (Wie man mit einem Mann unglücklich wird), Judith Hermann (Daheim), Rachel Cusk (Second Place) und – eben – Annie Ernaux. All diese Bücher handeln oft von mehr oder weniger obsessivem Interesse an Männern, die als literarische Protagonisten allesamt möglichst unliterarisch rüberkommen, um ein sexuell umso produktiveres Rätsel bleiben zu können. Seltsam leere, unintellektuelle Typen, stille Schweiger mit Schwanz, der fremde Freund in meinem Bett, anschließend weg.

So auch S., der russische Diplomat mit der Vorliebe für Luxusmarken und schnelle Autos, dem Annie Ernaux als "Mann meiner Jugend" verfällt und ein Tagebuch widmet, das im Wesentlichen aus Rumvögeln und Warten besteht. Das führt zu teilweise schlimmen Überhöhungen des Akts ("... Bewunderung seines Geschlechts. Ich denke an Gemälde des toten Christus, abgenommen vom Kreuz, wenn er halb aufgerichtet ist und mir dabei zusehen will, wie ich sein Glied liebkose ...")  und teilweise großartig nüchternen Selbsterkenntnissen, wie alles mit allem zusammenhängt – Sex, Tod und Schreiben: zu viel Zeit haben, um den anderen zu vermissen, sich alles anders vorstellen zu können, darin verschwinden zu wollen.

Allerdings geht es in meiner Recherche glücklicherweise nicht darum, ein besserer Liebhaber zu werden, sondern nur Autor eines Romans zu sein. In diesem Roman wechselt ein Autor die Seiten und verspricht seiner ehemaligen Lektorin, die nun ihrerseits die Seiten gewechselt hat und schreiben will, ihren ersten Roman zu lektorieren. Es soll ein großes Missverständnis darüber werden, was Literatur immer wieder braucht, damit es weitergeht. Oder in etwa so, wie Daniel Lopatin (alias Oneohtrix Point Never) den Gesang von Rosalía musikalisch untermalt, ohne vielleicht nicht mal Spanisch zu können (siehe unten):

Nothing Special.

Ansonsten wüsste ich zu gern, wie meiner Vor-Leserin mit dem grünen Stift Sich verlieren gefallen hat.



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