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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
In einer Liste mit prominenten Rußlanddeutschen stieß ich auf Rudolf Plukfelder, der 1964 in Tokio Olympiasieger im Gewichtheben war. Gewichtheber heißen auf Russisch Штангисты (etwa "Stangler") und so heißt auch eine sowjetische Doku von 1972, zu der mich meine Plukfelder-Recherchen führten. Man sieht hier mit lässiger Westerngitarre unterlegte Schwarz-Weiß-Bilder von sowjetischen Gewichtheber-Legenden beim Wettkampf, in einer Zeit, als diese Sportart so populär war, daß Wladimir Wyssozki einen Gewichtheber-Song schrieb. Штангисты ist dramaturgisch geschickt aufgebaut, denn erst scheitern die Athleten reihenweise, einer tritt sogar vor Wut seine Hantel, man sieht das Publikum gespannt mitfiebern, Gewichtheben war damals noch ein Zuschauersport, die Trainer sind nervös und tragen wie Fußballtrainer beim Wettkampf unnötigerweise Sportkleidung, obwohl sie ihren Schützlingen lediglich die Schultern massieren. Einer der Trainer, die man im Film sieht, ist Rudolf Plukfelder, der nicht nur selbst Olympiasieger war, sondern sechs spätere Olympiasieger trainiert hat, unter anderem Wassili Alexejew, der zeitweise als "stärkster Mann der Welt" galt und zu seiner Zeit ein Star war (man sieht ihm die Diva an, wenn er sich auf die Hebung vorbereitet oder anschließend von einem Assistenten den Schweiß vom Gesicht wischen läßt. In einem Video fährt er sogar Wasserski.) Da ich wegen eines Mittelfußbruchs (Manuel Neuer!) die Olympischen Spiele von 1980 in Moskau fast vollständig am Fernseher verfolgt habe, erinnere ich mich gut an mein Befremden, daß der stärkste Mann der Welt so eine Wampe hatte. (Und so sieht sein Denkmal in Rostow aus.) Er scheiterte zudem tragischerweise bei seiner Heimolympiade, seiner letzten von drei, dreimal am Anfangsgewicht. Einen anderen Schützling Plukfelders, David Rigert, halten manche immer noch für den größten Gewichtheber aller Zeiten. Rigert, der nur 1,71 groß ist, war im Vergleich zu Alexejew ein bemerkenswert austrainierter Athlet. Eine Eigenart scheint gewesen zu sein, daß er die Hantel vor dem Ablegen noch einmal keck über dem Kopf anlupfte und in die Mitte umgriff. Er hätte eigentlich dreimal Olympiagold gewinnen müssen, aber es blieb bei der Goldmedaille aus Montreal, denn auch er scheiterte zweimal tragisch an für ihn lächerlichen Anfangslasten, 1972 in München, wie man hier sieht, wobei er damals mit seinem gestreiften Russenhemd unter dem roten Einteiler sicher zumindest optisch ganz vorne lag, und 1980 in Moskau (schön, wie der ungarische Kommentator flüstert, um den Athleten nicht zu stören). In einem Video erzählt er, wie er nach dem Mißerfolg 1972 nicht mehr trainieren wollte, sondern vor Gram zwei Monate in den Wald ging und von Brot und Salz lebte. Rigert trainiert heute die russische Nationalmannschaft und er hat anscheinend denselben Visagisten wie Belmondo. Von den Muskelbergen ist nichts geblieben. Dafür tritt sein Sohn Vladislav in seine Fußstapfen, wie man in diesem Trainingsvideo sieht, in dem er ein paar unglaubliche Übungen vorführt. Erstaunlich, wieviel überschüssige Energie manche Männer in ihrer Jugend haben. Als Autor fühlt man sich unweigerlich an seinen Schreiballtag erinnert, der ja nicht viel anders aussieht, nur daß keine Gewichte gestemmt werden, sondern Romane geschrieben. Nicht umsonst gibt es viele Autoren-Sportler: Ringer (John Irving), Schwimmer (John von Düffel), Fußballer (eigentlich jeder, den ich kenne), Läufer (Murakami), Boxer (Michael Lentz), Judoka (Jörg Schieke, Norbert Zähringer), Tischtennisspieler (Mawil, Andreas Merkel), Schmetterlingssammler (Nabokov). Meine sportliche Karriere hat mich DDR-bedingt nicht zum Fußballer gemacht, ich wurde für das Ringertraining gesichtet, bin aber nach einem Jahr ausgestiegen, als ich einen dieser peinlichen Einteiler hätte anziehen müssen, wie sie auch Gewichtheber tragen. Später wurde ich vom Sportlehrer zu einer Informationsveranstaltung eines Gewichthebertrainingszentrums in einer Pankower Schule geschickt. Mir war aber völlig klar, daß mich das Leistungssportsystem und speziell diese Sportart körperlich ruinieren würden, deshalb redete ich mich mit Zeitmangel raus. Schade, es wäre heute ein wundervoll sperriges Autorenbiographie-Detail, einmal Gewichtheber gewesen zu sein.
Rudolf Plukfelders Gesicht sieht man in Штангисты an, daß er kein leichtes Leben hatte. Mehr darüber erfährt man in einer anderen Doku, die nicht sehr professionell gemacht ist, der russische O-Ton ist kaum zu verstehen, aber es gibt englische Untertitel und die Story hat Romanqualitäten. Plukfelder lebt inzwischen mit seiner Familie in einem Dorf bei Kassel und bekommt aus Rußland nicht einmal eine Rente. (Er habe zuletzt in Litauen versucht, einen Champion zu formen "ohne Chemie", sie hätten ihn angesehen wie einen Verrückten. Alle würden doch "Chemie" nehmen.) Seine schwäbischen Vorfahren sind 1836 in die Ukraine eingewandert, er selbst ist 1927 dort geboren. Bis er 14 war, hat er nie Russisch gesprochen, erst in der Verbannung hat er diese Sprache gelernt. Sein Vater war in der Stalinzeit fünf Jahre im Gefängnis, weil einer Sau ein Ferkel gestorben war. Im März '41 kam er aus dem Gefängnis, im Juni 1941 griff Deutschland Rußland an, im September '41 wurde er mit 65 anderen Männern aus dem Dorf erschossen, darunter ein älterer Bruder von Rudolf. Er selbst war 14 Jahre alt und wurde mit der Mutter und einem anderen Bruder zur Zwangsarbeit im Bergwerk nach Sibirien deportiert. Fast alle seine Freunde sind bei dieser Arbeit gestorben. Der offizielle Grund für die Verbannung war Stalins Verdacht gegen die Rußlanddeutschen, aber in Wirklichkeit brauchte man Arbeitskräfte, bzw. Sklaven für die innere Kolonisierung Sibiriens. Die Arbeit im Schacht war wie Knast ohne Urteil. Mit 19 bekam Plukfelder ein ärztliches Attest wegen einer Herzmuskelschwäche und sollte ein Jahr mit der Arbeit aussetzen. Weil er sein Werkzeug ordnungsgemäß in der Werkstatt ablieferte, statt es seinem Vorarbeiter zu überlassen, schlug dieser ihn und verletzte ihn dabei schwer am Rücken. Plukfelder verstand, daß man stark sein muß, wenn man überleben will. Eine Ärztin verordnete ihm statt wie üblich Ruhe, Sport als Therapie, und das hat ihn gerettet und ihm einen Weg aus dem Schacht eröffnet, sonst sähe er heute aus wie die Zeitzeugen, die über ihn befragt werden, ein Bekannter aus der Jugend, der auf seinem Kartoffelacker steht und sich an "Rudik" erinnert, und ein Kollege aus dem Schacht, ein Gesicht wie ein Schlachtfeld, der sich krummgebuckelt hat und dessen Hände wie grobe Werkzeuge an seinen Armen hängen. Die Bergarbeiterorte bekamen damals nach und nach Kulturhäuser, in denen es auch Trainingsräume gab. Plukfelder hat seinen Trainingsraum selbst ausgebaut und die Geräte geschweißt. Er war schon Sibirien-Meister im Ringen, als er, anscheinend wieder eine Diskriminierungsmaßnahme, zum Gewichtheben wechseln mußte. Seine Mutter war nicht begeistert, sie sagte: "Hack lieber Holz." Anfangs hat ihn der sowjetische Sportverband nicht für Weltmeisterschaften aufgestellt, aus Angst, als Deutscher könne er abhauen. Nach der WM 1958, zu der er nicht fahren durfte, hob er im Training Weltrekorde. 1959 wurde er schließlich in Warschau Weltmeister, mit Weltrekord, am nächsten Tag war er aber wieder bei der Arbeit in der Mine, wie er sagt. 1960 konnte er nicht zu den Olympischen Spielen, weil er verletzt war, 1964 trat er in Tokio an, inzwischen arbeitete er schon selbst als Trainer und einer seiner Schützlinge, Alexei Wachonin, trat im selben Wettkampf wie er im Bantamgewicht an. Beim Empfang aller russischen Olympiasieger im Kreml sieht man auch Plukfelder. Der biographische Spagat vom Opfer von Deportationen zum Helden der Sowjetunion (und umgekehrt) scheint uns schizophren, war aber damals nicht ungewöhnlich. Als Trainer war er sogar noch erfolgreicher, er hatte echte Stars unter sich. David Rigert, der ebenfalls Rußlanddeutscher ist und zudem Jude, war schon geboren zum Champion, als er nach Schachty ging und sich Plukfelders Trainingsgruppe anschloß, die damals national und international die größten Erfolge hatte. Rigert hatte zunächst als Boxer begonnen, aber nachdem er ein paar K.O.-Siege eingefahren hatte, brachen ihm Freunde seiner Kontrahenten mit einem Spaten die Nase. Mit dem Star im Team, dem pummligen Wassili Alexejew, gab es anscheinend größere Probleme, 1972 setzte er durch, daß Plukfelder nicht mit zur Olympiade nach München durfte, Rigert scheiterte (deshalb, wie Plukfelder andeutet) dreimal am für ihn eigentlich lächerlichen Anfangsgewicht. Wassili Alexejew war inzwischen ein erklärter Gegner Plukfelders, nach Plukfelders Aussage, weil er im Training zuviel von ihm verlangte und keine Chemie einsetzte. 1976 ist Plukfelder in Montreal dabei und Rigert wird Olympiasieger. Plukfelder zieht sich wegen der Spannungen mit Alexejew zurück. 1980 scheitert Rigert in Moskau wieder an einem Anfangsgewicht, das er sonst im Training stemmte. Von so etwas erholt man sich vermutlich nie.
Es ist eine klassische Erzählung vom Mann, der sich in eine Waffe verwandelt, um zu überleben. Für jeden Überlebenden stehen aber unzählige Tote. Und gerade bei den Stärksten und Besessensten vermutet man die tiefsten seelischen Verletzungen und Defizite, die kompensiert werden müssen. Vergeblich versuchen diese Männer, ihren Dämon mit immer härterem Training zu besiegen. Plukfelder betont den erzieherischen Wert des Sports, er spricht von den Glücksmomenten, die er einem verschafft, aber er behauptet auch, man müsse als Trainer wie ein Vater sein, der seinen Sohn antreibe und ihm gelegentlich eine verpasse, später werde es der Sohn dem Vater danken und der Sportler dem Trainer. Jesper Juul würde das sicher nicht unterschreiben.
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Alleine deine Links hier, sind schon wieder feinstes Prokrastinationsmaterial für mindestens einen Tag. Trotzdem danke.
Danke. Ein Roman in Kurzform. Man könnte ihn LEIBCHEN nennen.