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Warum Israel keine Verfassung hat

Theresa Bäuerlein
Journalistin. Autorin. Seit (gefühlt) schon immer.
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Theresa BäuerleinDienstag, 18.07.2023

In Israel kämpft ein großer Teil der Menschen seit Monaten hart für die Demokratie. Und jetzt wieder verstärkt, denn sie ist wirklich in Gefahr: Eine rechts-religiöse Regierung will eine Justizreform durchbringen, die de facto einen Staatsstreich von oben bedeuten würde. Seit Monaten demonstrieren Hunderttausende Israelis dagegen.

Begonnen hat diese Krise nicht erst mit den Wahlen vom November 2022. Im Kern des Problems liegt die Tatsache, dass Israel keine Verfassung hat. Das erklärt in diesem Artikel Moshe Zimmermann, Prof. em. für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität. 

Er beschreibt, wie Ministerpräsident David Ben Gurion schon 1950 seinen Koalitionspartnern von der Vereinigten Religiösen Front Zugeständnisse machte, die strikt gegen eine Verfassung waren. Israels Zustand sei zu „dynamisch“ begründete er das damals, Abertausende jüdische Emigranten strömten damals ins Land. Solange die Einwanderung nicht abgeschlossen sei, müsse der Charakter der Verfassung offenbleiben, argumentierte er.

 Die religiöse Front wiederum vertrat Ansichten wie diese: 

Wir wollen nicht, dass später gesagt wird: Hier lebte einst das Volk Israel, und heute existiert hier ein Staat, der Italien, Griechenland, Ägypten oder sonst einem Staat ähnlich ist.

Oder diese: 

Eine von Menschen geschaffene Verfassung hat in Israel nichts zu suchen."

Am anderen Ende des politischen Spektrums warnten Menschen wie der Abgeordnete Meir Wilner schon damals: 

Das Ausbleiben einer Verfassung ebnet der Regierung den Weg zur Ausübung von Willkür gegenüber der arabischen Minderheit."

Rund 70 Jahre später wurde unter Netanjahu 2018 ein Grundgesetz (keine Verfassung) verabschiedet, das den Juden im jüdischen Staat einen privilegierten Status einräumt. 

Die aktuellen Proteste konnten bisher den Angriff auf die Demokratie nur ins Stocken bringen, nicht aufhalten. 
Das Gesetz, das die Wahl der Obersten Richter praktisch der Regierung überträgt, wurde bereits vom Verfassungs- und Rechtsausschuss der Knesset angenommen. Ein anderer Weg, die Justiz zu überrumpeln, führt über die sogenannte Aufhebungsklausel. Wird sie verabschiedet, könnten Urteile des Obersten Gerichts, die der Regierung nicht genehm sind, künftig per parlamentarischem Mehrheitsbeschluss aufgehoben werden.
So oder so wäre der Weg frei für den nächsten Streich: Neue Gesetze könnten verabschiedet werden, ohne den Widerspruch des Obersten Gerichts fürchten zu müssen. Der Rechtsschutz für Palästinenser in den besetzten Gebieten könnte wegfallen, "Linksgesinnte" könnten verfolgt, Minderheiten diskriminiert, arabische Parteien verboten, öffentlich-rechtliche Sender geschlossen werden und so weiter. Das sind keine Spekulationen, sondern bereits verkündete Pläne und Entwürfe. Sollten sie durchgesetzt werden, wird es vorerst keine "einzige Demokratie im Nahen Osten" mehr geben.
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Kommentare 9
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

    Seit ich vom Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober erfuhr, drehen sich meine Gedanken um dieses Land und seine Menschen. Einige sind mir seit meiner Jugend bekannt, wir trafen uns dort mehrmals in (relativ) ruhigen Jahren. Jetzt berichtet eine Kommilitonin über einen Raketeneinschlag in ein Wohnhaus zwei Häuser neben ihrem. In den sozialen Medien gibt es schreckliche Bilder, voller Menschenverachtung, die alles Vorstellungsmaß übersteigt - wie im Horrorfilm, wo wir aber wissen, dass es Kino ist.

    Als dann nach und nach Hintergründe kamen, überfiel mich meine kritische Haltung Netanjahu gegenüber. Dieser Egozentriker wird jetzt als Held dastehen wollen. Das ist im Moment vollkommen unwichtig, aber die letzten innenpolitischen Umbrüche unter seiner Verantwortung sind mitschuldig an der jüngsten Eskalation.

    Moshe Zimmermann bezeichnet in der ARD-Tagesschau von heute die Ereignisse als erstes Pogrom gegen Juden in Israel seit der Staatsgründung. Auf die monatelang zunehmende Zerrissenheit der Bevölkerung geht er nicht ein. Zehn Jahre lang wurde mit den Palästinensern nicht verhandelt, dennoch hat niemand einen Überfall dieses Ausmaßes erwartet. Eine Division des Grenzschutzes am Gazastreifen wurde vor Kurzem ins Westjordanland verlegt, weil für Netanjahu der Schutz jüdischer Siedler Priorität gegenüber der Sicherheit der Bevölkerung im Süden des Kernlandes habe. https://www.tagesschau... Die Angemessenheit der Mittel - Assoziationen zum Rechtssystem sind nicht zu übersehen; vgl. den im früheren Kommentar empfohlenen Artikel.

    Und die FAZ: "Der lange und unerbittlich geführte Streit über die Justizreform hat den jüdischen Staat geschwächt wirken lassen. Dass Reservisten öffentlich mit Dienstverweigerung gedroht haben, war ein verheerendes Signal an die Feinde des Landes. Auf die Führung in Gaza muss es wie eine Einladung gewirkt haben.
    Hier ist vor allem Ministerpräsident Netanjahu und seiner Hardliner-Koalition vorzuwerfen, dass sie die Sache gegen alle gesellschaftlichen Widerstände weiterverfolgt hat. Einschneidende Verfassungsänderungen mit einfacher Mehrheit durchzudrücken ist nie eine gute Idee." (Korrektur: der Link ist
    https://www.faz.net/ak... )

  2. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

    natürlich ist es für uns Deutsche / Kontinentaleuropäer sehr ungewohnt, wenn ein Land keine Verfassung hat. Aber andere Rechtstraditionen wie etwa die englische funktionieren ohne auch seit Jahrhunderten durchaus demokratisch. und die "Überrumplung der Justiz" findet leider auch in Staaten mit Verfassungen statt, siehe Ungarn und Polen.
    aber ja: es wäre in Israel sicher etwas ... schwerer so vorzugehen, hätte Israel eine.

    1. Theresa Bäuerlein
      Theresa Bäuerlein · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      Ja, die nicht vorhandenen britische Verfassung nahm man in Israel laut des Textes auch als Begründung für die eigene fehlende Verfassung:

      “Zweitens berief man sich auf die frühere Mandatsmacht Großbritannien. Als ich Anfang der Sechzigerjahre Politikwissenschaft in Jerusalem studierte, legten unsere Dozenten nicht zufällig großen Wert darauf, dass wir Walter Bagehots Werk The English Constitution von 1867 lasen. "Da es in der Welt einen Staat [...] namens England gibt, der ohne Grundverfassung existiert", stellte Ben Gurion schon 1950 fest, sollte es auch Israel "gestattet sein", eine Verfassung nach amerikanischem Vorbild für "überflüssig" zu halten. Heute, wo sich die daraus erwachsenden Gefahren offen zeigen, werden wieder Stimmen laut, die eine "starke" schriftliche Verfassung fordern.“

  3. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Ein Porträt des israelischen Juristen Aharon Barak, der das System richterlicher Kontrolle aufgebaut hat, das die Regierung demontieren will, bringt gerade die FAZ: https://www.faz.net/ak... (frei zugänglich)

    Barak überlebte den Holocaust im litauischen Kaunas. Im Rückblick habe ihn der Holocaust in dreierlei Hinsicht geprägt:
    - Er habe seine Überzeugung gestärkt, dass die Existenz Israels für die Juden überlebenswichtig sei.
    - Er habe ihn gelehrt, wie wichtig die Menschenwürde und ihr Schutz seien.
    - Und die "Pointe: Er glaube, dass die ersten beiden Punkte in Israel miteinander im Konflikt stünden. Sei die Sicherheit gefährdet, denke ein Bürger zuerst an sich selbst und seine Familie. 'Aber man muss auch an andere denken.' Seine Schlussfolgerung lautet: 'Wir sollten Israel beschützen, aber nicht unseren moralischen Kompass verlieren. Wir sollten einen starken Rechtekatalog haben, mit fest verankerten Rechten des Individuums.' Praktisch umgesetzt ...: Ein starkes Oberstes Gericht müsse ein Gegengewicht bilden zu den Sicherheitserfordernissen."

    Die Justizreform könnte seiner Auffassung nach "der letzte Nagel im Sarg der israelischen Demokratie" sein. Für Anhänger der Justizreform ist Barak, 86jährig, eine Hassfigur, er wird offen angefeindet.

    Zum Verständnis des Piqs wäre wichtig zu ergänzen, dass In Israel nicht nur e i n Grundgesetz angenommen wurde, sondern mehrere, u. a. eines zur "Würde und Freiheit des Menschen". Moshe Zimmermann ist in der ZEIT auf dieses Grundgesetzsystem ausführlicher eingegangen.

    Wie die FAZ schreibt, begann vor drei Jahrzehnten das Oberste Gericht, dessen Präsident Aharon Barak 1995-2006 war, die Grundgesetze breiter auszulegen und ihnen Vorrang vor normalen Gesetzen zuzumessen. Von wichtiger Bedeutung ist das Kriterium der "Angemessenheit“, eine alte britische Idee. Barak sieht dabei Parallelen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip des deutschen Rechtssystems.

  4. Christoph Weigel
    Christoph Weigel · vor mehr als ein Jahr

    danke für's piqn, theresa. ich hoffe sehr, dass du dich mit diesem piq nicht vorwürfen des antisemitismus aussetzt, seriously...

    1. Theresa Bäuerlein
      Theresa Bäuerlein · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      Sehe da keine Gefahr, zumal den Autor des Textes niemand ernsthaft für antisemitisch halten kann. Der ist Antisemitismus-Forscher.

  5. Hermann J. F. König
    Hermann J. F. König · vor mehr als ein Jahr

    Super! Ist damit zu rechnen, dass die USA hier interveniert? Wenn nicht, bestätigte dies, dass dort Demokratie auch nur ein Lippenbekenntnis ist.

    1. Theresa Bäuerlein
      Theresa Bäuerlein · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      In der New York Times steht heute:

      “Biden macht sich nun große Sorgen um die Stabilität um die Zukunft Israels, Amerikas wichtigstem Verbündeten im Nahen Osten […] Seine Botschaft an den israelischen Premierminister und Präsidenten hätte nicht deutlicher sein können: Bitte hören Sie jetzt auf. Verabschieden Sie nichts so Wichtiges ohne einen breiten Konsens, oder Sie werden etwas mit Israels Demokratie und mit Ihrer Beziehung zu Amerikas Demokratie kaputt machen, und Sie werden es vielleicht nie wieder zurückbekommen.”

    2. Hermann J. F. König
      Hermann J. F. König · vor mehr als ein Jahr

      @Theresa Bäuerlein Danke für den Hinweis! Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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