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Flucht und Einwanderung

«Ich habe einen Menschen getötet, aber ich bin kein Mörder»

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMittwoch, 02.06.2021

Das Zitat der Überschrift stammt von Soghomon Tehlirian. Er sagte diesen Satz in einem denkwürdigen Gerichtsprozess, der in Berlin stattgefunden hat.

Er begann am 2. Juni 1921, also vor 100 Jahren. Zuvor hatte der armenische Angeklagte am 15. März in der Hardenbergstraße den früheren osmanischen Innenminister Talaat Pascha erschossen.

Während des Prozesses vertauschten sich die Rollen von Täter und Opfer, denn der Erschossene war einer der zentralen Organisatoren des Völkermords an den Armeniern im Schatten des Ersten Weltkrieges.

Kai Grehns 62-minütiges Hörspiel „Der Prozess Talaat Pascha” beruht auf dem stenographischen Bericht der Gerichtsverhandlung. 

Dabei werden auch Ähnlichkeiten zu vergleichbaren Verbrechen bis in unsere Zeit plastisch herausgearbeitet. 

Wie aber kam es überhaupt zur Erschießung in Berlin?

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Talaat Pascha in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, in Abwesenheit zum Tode verurteilt, doch das Deutsche Reich evakuierte ihn mit einem U-Boot und gewährte Exil in Berlin.

Viele Hintergründe erfährt man am Ende des Hörspiels, aber auch in dem von Katrin Sarah Schäfer vom Podcast Nahostcast produzierten Audiofeature; etwa zur «Operation Nemesis», eine Racheaktion an den Haupttätern des Völkermords.

Im Berliner Prozess – er dauerte nicht mal 2 Tage – dagegen wurde vieles vertuscht. Soghomon Tehlirian trat als Einzeltäter auf; der deutsche Staat vertuschte seine indirekte Beteiligung am Völkermord.

Dennoch schrieb der Prozess Rechtsgeschichte: So bezog sich Raphael Lemkin, der die UN-Völkermordkonvention entwarf, immer wieder darauf oder Hannah Arendt zitierte die Prozessstrategie als Referenz in ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem".

In einer Rede vor Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg fragte am 22. August 1939 Adolf Hitler rhetorisch:

Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?

Das Hitlerregime überführte unter militärischen Ehrenbezeugungen am 25. Februar 1943 Talaats sterbliche Überreste von Berlin nach Istanbul. Dort ist er am Abide-i Hürriyet, dem Denkmal der jungtürkischen Revolution von 1908, beigesetzt.

Bis heute gibt es auf dem türkischen Friedhof in Berlin, dem ältesten islamischen Begräbnisplatz in Deutschland, marmorne Ehrengräber für zwei andere Haupttäter des Völkermords: Cemal Azmi und Bahaettin Şakir, die wie Talaat Pascha in Berlin getötet worden sind.

Die Massenmorde, die Vertreibung und die Flucht vieler Armenier prägen dieses Volk bis heute. Durch Flucht und Vertreibung leben mehr Armenier in Frankreich oder den USA als in ihrem jetzigen Nationalstaat, der viel zu klein ist und nicht in ihrem angestammten Siedlungsgebiet liegt, sondern im Kaukasus, wohin viele Überlebende flohen oder vertrieben worden sind.

Und wenn der amerikanische Präsident Joe Biden diese schweren Verbrechen als Völkermord bezeichnet, regt das in der Türkei immer noch auf.

«Ich habe einen Menschen getötet, aber ich bin kein Mörder»

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