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Europa

Viele Europäer sind Westler, damit WEIRD und etwas "seltsam"

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 06.11.2020

Der Economist rezensiert eine spannende Analyse über uns WEIRD-Bürger im industrialisierten Westen der Welt. Mit WEIRD meint Joseph Henrich in seinem Buch "The Weirdest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous" auch uns Westeuropäer - Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Damit unterscheiden wir uns in unseren  psychologischen Eigenarten und unserem Verhalten mehr oder weniger deutlich vom großen Rest der Menschheit - wir sind positioniert am extremen Rand der Verteilungskurve menschlichen Verhaltens. Gleich in der Einleitung seines Buches hält Henrich über unser Wissen zur Verhaltenspsychologie fest:

1. Massively biased samples: Most of what was known experimentally about human psychology and behavior was based on studies with undergraduates from Western societies. At the time, 96 percent of experimental participants were drawn from ,northern Europe, North America, or Australia, and about 70 percent of these were American undergraduates.

2. Psychological diversity: Psychological differences between populations appeared in many important domains, indicating much greater variation than one might expect from reading the textbooks or major journals in either psychology or behavioral economics.

3. Psychological peculiarity: When cross-cultural data were available from multiple populations, Western samples typically anchored the extreme end of the distribution. They were psychologically weird.

Was WEIRD-Gesellschaften stark macht, ist der Glaube der Bürger an die Rechtsstaatlichkeit (trotz der Möglichkeit der persönlichen  Bestrafung), die Offenheit für Experimente in Wissenschaft und Gesellschaft und die Bereitschaft, Fremden zu vertrauen - seien es Politiker oder Geschäftspartner. Aber etwas Paradoxerweise ist die andere Seite der Medaille, wie Henrich schreibt:

WEIRD people are highly individualistic, self-obsessed, control-oriented, nonconformist, and analytical. We focus on ourselves—our attributes, accomplishments, and aspirations—over our relationships and social roles. We aim to be “ourselves” across contexts and see inconsistencies in others as hypocrisy rather than flexibility. 
Wir "Westler" sind im Durchschnitt also individualistischer und unabhängiger gegenüber der Großfamilie. Was wahrscheinlich die römische Kirche durch das Verbot der Eheschließung von Verwandten mit verursacht hat. 
Wie wir aus den Versuchen Demokratie zu exportieren wissen können - etwa in Afghanistan: Die Landbevölkerung dort versteht nicht, wie man jemanden wählen könnte, der nicht zur eigenen Großfamilie gehört. Viele Ethnien verstehen auch nicht, dass Verbrechen unabhängig von den sozialen Beziehungen gleich behandelt werden können. Im mittelalterlichen China etwa wurde das Töten eines Familienmitgliedes anders gewertet als das eines Fremden. Könnte es sein, dass unsere Werte nicht ganz so universalistisch sind, wie wir meinen? 

Sicher leben die Bürger des Westens auch nicht überall in reinen WEIRD-Gesellschaften. Eher wie der Economist in seiner Rezension zum Buch schreibt:
Hundreds of millions of people live neither in atomistic weird-land nor in kin-obsessed pre-modern societies, but in an interesting limbo, sometimes dynamically and sometimes tragically. Think, say, of a family from a poor, remote part of south-eastern Europe, whose younger members are working and raising children in assorted European cities, while their elders keep the home fires burning in the village. An extraordinary range of roles and attitudes co-exist in three generations.

Das ist sicher ein Grund für manche unserer Probleme in der Europäischen Union - die kulturellen Prägungen und damit unterschiedliche sozialpsychologische Verhaltensweisen, Werte und Wertungen, sind immer noch spürbar und wirkmächtig. Wir sollten sie kennen, akzeptieren und in Kompromissen (jedenfalls nicht mit Gewalt) Lösungen finden. Davor müsste allerdings jede Volksgruppe ihre historisch gewachsenen Eigenarten realistischer sehen und vielleicht das Selbstbild mal renovieren. Also Joseph Henrich lesen ...
Viele Europäer sind Westler, damit WEIRD und etwas "seltsam"

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 4 Jahren

    puh. Da ist sicher was dran. Und natürlich sind wir ... "wir" nicht so universal wie oft gedacht. eurozentrismus eben. Aber bei aller berechtigter Kritik hieran: gibt es ja so viele Menschen weltweit die doch vieles hieran verlockend vieles universal anziehend finden. und die "reine" Weird-Ness gibt es ja wie oben erwähnt sowieso nicht.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      Mich treibt eher die Frage um, ob unsere Werte so universell sind? "Wir" sind es gewiß nicht und wir entsprechen auch nur teilweise/begrenzt unseren universell gedachten Werten. Nicht ohne Grund wird "uns" oft Scheinheiligkeit vorgeworfen. Die Frage ist, ist dies nur eine Abweichung vom Ideal oder gibt es dort ein grundlegendes Problem im Weltbild?
      Klar sind andere Kulturen oft - zumindest an der Oberfläche - wechselseitig anziehend. Auch im Westen finden sich viele von China angezogen oder von der "russischen Seele".

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl ah Welche werte. Aber nehmen wir die menschenrechte. klar sind diese zgrT und historisch eher westlich formuliert worden - aber ich glaube bei aller wichtigen Kritik und denk-vorstellungsgrenzen dass sie doch tatsächlich für alle Menschen gelten können. (Nicht dass nicht noch welche fehlen oder zt je nach kultur kontext ggfs ungewohnt anders interpretiert).
      Und zwar nicht mal für jeden einzelnen gleich wichtig sind oder jede kultur - nein: es sind Grundsätze die dann gelten wenn man an das Aufeinandertreffen vieler Menschen mehrerer Kulturen und "alle" (global) denkt. Vielleicht könnte man diesen Aspekt Menschheitsrechte nennen.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Cornelia Gliem Universell sind Werte m.E. nur, wenn sie unabhängig vom Denken der Menschen existieren und gelten. Also sind sie eigentlich etwas Metaphysisches, wie Gott. In der Realität gelten sie dort, wo sie jemand durchsetzt und garantiert.

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