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Europa

Rußlands Expansionismus und seine Matrix autokratischer Macht

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMontag, 20.05.2024

Françoise Thom wirft auf dem Desk Russie einen sehr radikalen Blick auf die langen Linien der russischen Geschichte. Sicher manifestiert sich da kein Determinismus aber es sind wohl auch keine reinen Zufälle. Thom sieht im russischen Expansionismus tief verankertes Denken, langlebige Ziele und immer wiederkehrende altbewährte Methoden. Das zeigt sich für sie auch wieder in der außergewöhnlichen Entschlossenheit des Kremls, seine Ziele in der Ukraine zu erreichen und das bei völliger Gleichgültigkeit gegenüber den menschlichen Opfern. So erleichtert ein Blick auf die Vergangenheit vielleicht auch das Verstehen des heutigen Rußlands.
Ab dem 15. Jahrhundert wuchs das Land jährlich um eine Fläche, die der von Holland entspricht. Während der 300 Jahre der Romanow-Dynastie expandierte das Russische Reich mit einer Geschwindigkeit von 140 Quadratkilometern pro Tag. Im Jahr 1772 schrieb der französische Konsul auf der Krim über die Diplomatie der Zaren: „Dieser Hof, dessen langsame Politik unerbittlich auf sein Ziel zusteuert...“. 1853 war ein französischer Reisender, Germain de Lagny, über die anhaltende Expansion des Russischen Reiches erstaunt: "Trotz der Unfruchtbarkeit seines Bodens, trotz der Strapazen seines Klimas, trotz seiner despotischen Regierung ist Russland übermäßig gewachsen [...]. Plötzlich offenbart sie sich einem erstaunten Europa; und vom Tag ihres Erscheinens an, strebt sie mit unverschämten Hochmuth nach Weltherrschaft; sie zeigt Ansprüche auf die europäische Diktatur.“ 

Ein Europa, das sich heute im ewigen Frieden unter Amerikas Schirm wähnte, mußte die Wiederkehr dieses Dranges überraschen. Es gibt offensichtlich kein Ende der Geschichte. Putin ist klar, dass eine auch nur annähernde Hegemonie in Europa nicht möglich sein wird ohne die Ukraine wieder in das russische Reich zu integrieren. Damals wie heute ist es russisch-imperiale Praxis eroberte Völker einzusetzen um weitere Länder zu unterwerfen. Waren es bei Katharina II. die Saporscher Kosaken sind es heute die von Putin besiegten Tschetschenen.
Im Grunde hat man den Eindruck, dass Russland im 15. Jahrhundert stehen geblieben ist, als die großen europäischen Staaten koalierten, indem sie gemeinsam benachbarte Territorien unter sich aufteilten. Als die Expansionspolitik von der Verlockung der Plünderung und den Lösegeldern der besiegten Bevölkerungen angetrieben wurde, als die Verteilung der dem Feind abgenommenen Ländereien es dem Fürsten ermöglichte, die Loyalität derer zu sichern, die ihm dienten. Doch anders als in Europa wurde die russische Einheit um den Preis der völligen Zerstörung lokaler Autonomien, der Privilegien der Städte und der Rechte der Untertanen, um den Preis einer bewussten Isolierung und der Beschränkung des Staates auf sich selbst erkauft. Im moskowitischen Russland konnten die Kaufleute nicht frei ins Ausland reisen: Sie mussten den Zaren um Erlaubnis bitten, um Russland zu verlassen.

Die absolute Macht der Zaren damals und des Diktators heute wurde und wird also durch die kontinuierliche Erweiterung des Territoriums gerechtfertigt und angetrieben. Was wiederum die Erhaltung der despotischen Herrschaft notwendig macht. Territoriale Expansion, nicht allgemeiner Wohlstand, legitimiert die Autokratie:

Eine große Macht impliziert von sich aus ein despotisches politisches Regime“, schrieb Katharina II.. Voltaire vertraute sie an: "Wir haben kein anderes Mittel gefunden, um unsere Grenzen zu garantieren, als sie auszudehnen".  Die Sekretärin von Katharina II. schrieb: „Die geringste Schwächung der Autokratie würde zur Abtrennung vieler Provinzen, zur Schwächung des Staates und unzähligen Unglücken für das Volk führen...“ Die Russen sind heute noch davon überzeugt. Es ist also kaum verwunderlich, dass Putin zu einer Zeit, in der er sich de facto zum Diktator fürs Leben erklärt, einen Eroberungskrieg beginnt.

Sicher haben nicht alle Russen diesen Glauben aber viele meinen wohl, an der Spitze könne es "nur einen geben". 

Der Artikel beschreibt dann weiter, wie die heutigen Aktivitäten Teil einer langfristigen russischen Strategie - auch über die Zeit der UdSSR - sind. Zum Beispiel  die Ansichten Molotows, die er 1940 gegenüber dem litauischen Premierminister Krėvė-Mickevičius äußerte, der nach Moskau gekommen war, um die Kreml-Chefs zu bitten, die baltischen Staaten nicht zu annektieren: 

"Sie müssen sich der Realität stellen und verstehen, dass in Zukunft kleine Staaten verschwinden müssen. Ihr Litauen, die anderen baltischen Staaten, Finnland, werden Teil der großen Familie, Teil der Sowjetunion. [...] Heute sind wir mehr denn je davon überzeugt, dass der große Lenin Recht hatte, als er sagte, dass der Zweite Weltkrieg es uns ermöglichen würde, die Macht in Europa zu übernehmen, so wie der Erste Weltkrieg es uns in Russland ermöglichte. Heute unterstützen wir Deutschland, aber nur gerade genug, um Friedensvorschläge abzulehnen, bis sich die hungernden Massen der kriegführenden Nationen gegen ihre Herrscher erheben. Dann wird die deutsche Bourgeoisie mit ihrem Gegner, der alliierten Bourgeoisie, zusammenschließen, um gemeinsam das aufständische Proletariat zu vernichten. Aber dann werden wir einspringen, um zu helfen, mit frischen, gut ausgebildeten Kräften, und auf dem Territorium Westeuropas, irgendwo am Rhein, wird der entscheidende Kampf um das Schicksal Europas zwischen dem Proletariat und der verrottenden Bourgeoisie geführt werden. Wir sind sicher, die Bourgeoisie zu besiegen...“ 

Man verwendet heute nicht mehr das kommunistische Vokabular von Proletariat und Bourgeoisie. Heute ist es eher der Kulturkreis des dekadenten Westens, den man bekämpfen und russisch befreien will. Und so kam es, das Putin im Jahr 2021 - nach vielen Vorbereitungen, etwa durch die Energieabhängigkeit Europas, der Unterstützung russlandfreundlicher und amerikafeindlicher Parteien oder Politiker, dem Test mit der Übernahme der Krim, der Diskreditierung der Ukraine usw. - der Meinung war, dass sich das Kräfteverhältnis ausreichend zu Gunsten Russlands verschoben hatte:

Russland würde Deutschland durch Gas und Öl kontrollieren, und Deutschland würde Europa im Namen Russlands ruhig stellen und könnte sogar dazu beitragen, die Vereinigten Staaten zu „neutralisieren“, die Berlin als ihren wichtigsten Gesprächspartner auf dem Alten Kontinent betrachteten. Putin war stolz darauf, einen großen Teil der westlichen Elite zu kontrollieren: Hat er sich nicht gegenüber einem europäischen Außenminister damit gebrüstet, dass Russland jeden in den Vereinigten Staaten und in Europa kaufen könne? Das amerikanische Debakel in Afghanistan und die Fertigstellung von Nord Stream 2 gaben ihm Grund zu der Annahme, dass die Vereinigten Staaten schwach seien und sich weltweit zurückziehen wollten. Er stellte sich vor, wie Gazprom den Hahn zudreht und die Europäer durch Gasmangel in die Knie zwingt, während Amerika durch die Konfrontation mit China gelähmt ist. Für ihn war die westliche Welt reif für eine radikale Neuverteilung der Macht in Europa, die Russland eine hegemoniale Position auf dem Kontinent verschaffen würde. Diese Prämissen standen hinter dem Ultimatum vom 17. Dezember 2021, in dem die NATO aufgefordert wurde, von ihren Positionen von 1997 abzurücken. RIA Novosti erklärte unverblümt: „Das sind keine Diskussionsvorschläge, sondern ein Ultimatum - eine Forderung nach bedingungsloser Kapitulation. Der Westen hat keine andere Wahl, als sein Gesicht zu verlieren - es sei denn, er bleibt standhaft und zieht in den Krieg mit Russland. [...] Nein, dieses Mal wird der Westen sich selbst aufs Spiel setzen müssen.“

Die meisten der Putinschen Annahmen sind (noch) nicht eingetroffen. Die Ukraine kämpft, Europa hilft ihr relativ vereint (wenn auch sichtbar nicht genug), Amerika ist nicht wirklich gelähmt. Aber die Zeit könnte durchaus gegen den Westen arbeiten, wenn er erlahmt, wenn Trump die Wahl in den USA gewinnt oder China gegen Taiwan zur militärischen Tat schreitet. Insofern sollte der krasse Blick, den Françoise Thom auf den russischen Charakter wirft, uns eine Warnung und Ansporn sein …..
Rußlands Expansionismus und seine Matrix autokratischer Macht

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Kommentare 7
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 6 Monaten

    Dazu in der ZEIT:

    "Die to­talitären Systeme haben einen Plan

    Das ist seit Putins Angriff auf die Ukraine das praktizierte Völker­recht: Wir leben in einer Zeit, in der der Stärkere den Schwächeren überfallen kann. Er hat gute Aussichten auf reiche Beute. Die Ket­tenreaktion der Gewalt, die von Russland ausgeht, ist im vollen Gange. Es droht Krieg zwischen Äthiopien und Somalia, Krieg zwischen Venezuela und Guyana, Krieg zwischen Pakistan und Iran. Der Dschihadismus weltweit, besonders aber in Afrika, nimmt wieder zu. Politisiert durch die Gräueltaten der von russischen Söldnern unterstützten Eliten wen­den sich dort viele Menschen nicht demokratischen Hoffnungen zu, sondern Gotteskriegern.

    In diesem Krieg, wie immer man ihn nennt, dem Krieg, der aus so vielen besteht, geht es nicht vor allem um wirtschaftliche Interes­sen. Das ist es, was ihn so extrem gefährlich macht. Es geht um etwas viel Brisanteres, um die Frage, von welcher Regierungsform sich die Menschheit in Zukunft lenken lässt. In diesem Konflikt streitet nicht das eine ressourcenhungrige Land mit dem anderen. Es steht eine Idee gegen die andere. Es steht der Totalitarismus gegen die Demokratie. Das Konzept einer offenen liberalen Welt gegen das einer geschlossenen Technokratie.

    Sosehr ich mir wünsche, dass die Demokratie als Sieger aus die­sem Konflikt hervorgehen wird, so unwahrscheinlich ist es. Die to­talitären Systeme Russlands und Chinas haben die besseren Er­folgsaussichten. Sie haben einen langfristigen Plan. Sie bringen den Wahnsinn auf, während die Demokratien nicht den Willen haben. Den Willen zum Widerstand. Den Willen, notfalls den Lebensstan­dard zu senken. Demokratien brauchen rasche Siege, weil sonst die Wählermeinung kippt. Die Demokratien der Welt wirken lethar­gisch, im­mer noch, ringen vor allem mit sich selbst. Das Schlimms­te: Immer weniger Menschen in diesen Demokratien verstehen, was für eine großartige Errungenschaft diese Demokratie ist."

    https://www.zeit.de/po...

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten

      Als Reporter schätze ich Wolfgang Bauer, aber hier ist er zu ungenau.

      Nur wenige Beispiele:

      Die Übergänge sind fließend. Selbst in der EU nimmt das von Wolfgang Bauer hochgehaltene "Konzept einer liberalen Welt" ab - besonders deutlich in Ungarn. Italien könnte bald folgen...

      Bevor man den Lebensstandard senkt, sollte man wenigstens die Übergewinne abschöpfen. Dann ist das nicht mehr nötig.

      Die Kriege der "liberalen" Welt, allen voran die der USA und ihrer Koalition der Willigen, verstärkten den islamistischen Extremismus. Ohne den völkerrechtswidrigen, auf Lügen basierenden Irakkrieg gäbe es keinen Mordbanden des "islamischen Staats.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Wenn der Westen sich nie gegen Diktatoren gewandt hätte, gäbe es z.B. noch das Regime des Saddam Hussein, der weitere Kriege angezettelt hätte und die Diktatoren würden sich noch sicherer fühlen als heute. Oder der Iran hätte den islamischen Extremismus noch stärker exportiert, oder, oder, oder. Letztendlich ist das Problem, das in der arabischen Welt kaum wohlstandsproduzierenden Gesellschaften entstanden sind. Trotz aller Versuche dort mit sozialistischen, kapitalistischen oder auch religiösen Wegen. Es ist sicher wahr, das auch der Westen viele Fehler gemacht hat. Aber dieses lineare Schließen, was wäre wenn, funktioniert doch nicht.

      Das mit den "Übergewinnen" ist ähnlich. Wer legt denn fest, was Übergewinn ist? Und warum sollte das zu einer besseren Demographie und höherer Produktivität führen? Diese Szenarien, bei denen man sagt, hätte man den einen Faktor anders gehandhabt, wäre alles viel besser, sie sind unbrauchbar unterkomplex …..

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten

      @Thomas Wahl Ich sprach nicht von einem einzigen Punkt, sondern gab Beispiele.

      Ich glaube auch nicht, dass der Irak heute eine lebendige Demokratie wäre, aber sicher ist, nach jedem neuen Krieg der USA und ihren Verbündeten, wuchs der Hass auf den Westen und islamistische Kräfte gewannen an Macht.

      Übergewinne sind oft politische Entscheidungen, die auf realen Machtverschiebungen beruhen. Sie ermöglichen aber neue Wege. Heute ist zu vieles Rhetorik: New Deal heißt es öfters, aber ohne die Beschneidung der Konzerngewinne wie unter Roosevelt zu fordern.

      Jedenfalls die starre Entgegensetzung von Demokratie und Totalarismus ist nicht nur unterkomplex, sondern falsch und dumm.
      Und der Beitrag verfälscht Hannah Arendt mit ihren Begriffen (oder genauer: mit denen, die sie neu interpretiert und geformt hat). Man lese nur den Abschnitt über Imperialismus in Arendts ELEMENTE UND URSPRÜNGE TOTALER HERRSCHAFT.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Wo wird denn Demokratie und Totalitarismus starr gegenüber gestellt? Ich habe in dem Artikel auch keinen Bezug auf H. Arendt gefunden? Also auch keine Verfälschung "ihrer" Begriffe.

      Was die Kriege des Westens im arabischen Raum betrifft. Vielleicht wäre es klüger gewesen, die Muslime mit ihren Kriegen und Bürgerkriegen allein zu lassen. Denke aber, auch dann wäre der Hass auf den Westen gewachsen. Weil dieser eben nicht eingegriffen hätte und damit sein Konzept der Menschenrechte ebenso verraten würde. Das Prinzip, wonach immer die anderen Schuld sind, das findet immer Gründe. Genau wie das Prinzip, wonach der Westen an allem Schuld ist oder der Islam. Politiker wissen das zu nutzen ….

    5. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten

      @Thomas Wahl "Es steht der Totalitarismus gegen die Demokratie. Das Konzept einer offenen liberalen Welt gegen das einer geschlossenen Technokratie." (Wolfgang Bauer)

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Ist das starr gegenübergestellt? Letztendlich ist das ja ein weites feld, ein sich ausweitender Konflikt, der "der aus so vielen besteht" …. Aber ok, ich verstehe was Du meinst.

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