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Europa

Polen ist anders - als Ungarn oder Rußland

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 27.10.2023

Am Tag nach der polnischen Parlamentswahl vom 15. Oktober fielen den liberalen Bürgern (nicht nur) in Europa ganze Steinlawinen vom Herzen. Die Ängste waren groß, dass sich die autoritäre Wende auch in Polen verfestigen könnte.

In der Quasidiktatur unter Jaroslaw Kaczynskis Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sei ein Machtwechsel fast unmöglich, sagten Opposition und europäische Kritiker aus fast allen politischen Lagern warnend. Donald Tusk und seine linksliberalen Verbündeten würden bei einer Niederlage blutige Unruhen anzetteln, raunten dagegen die rechtsnationalen Propagandisten.

Noch vor kurzem schrieb das IWD:

In Polen hat die regierende Prawo i Sprawiedliwość (PiS) (deutsch: Recht und Gerechtigkeit) die Demokratie ausgehöhlt. Für einen Sieg der Opposition bedarf es fast eines Wunders. Die anstehende Parlamentswahl ist im Wesentlichen ein Referendum über Demokratie und die Zukunft der polnischen Beziehungen zur EU. Selbst ein „Polexit“ ist nicht ausgeschlossen (...).

Doch Polens Demokratie erwies sich als viel nachhaltiger als gedacht, das Wunder wurde Wirklichkeit:

Die Menschen strömten in so grosser Zahl wie nie zuvor an die Urnen, die Wahl sowie die Auszählung der Stimmen verliefen praktisch ohne Probleme. Und auch wenn die PiS nicht ganz geräuschlos abtreten dürfte: Die Polinnen und Polen haben der Opposition einen deutlichen Regierungsauftrag erteilt. Den Nationalkonservativen verweigerten sie eine dritte Amtszeit – aus der Überzeugung, dass so ein Machtmonopol nicht zu ihrer hart erkämpften Demokratie passt.

Die nationalistische PiS versuchte einen national-populistischen Wahlkampf, der ungeniert die öffentlichen Sender und unbegrenzte öffentliche Mittel für die regierende Partei einsetzte. Die Wahl wurde begleitet, so Ivan Krastev im „The Guardian“, durch ein von der PiS beschlossenem Referendum:

Im vergangenen August stimmte die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ des Landes dafür, dass die Parlamentswahlen im Oktober von einem Referendum begleitet werden sollten. Den Bürgern würden populistische Fragen über den (angeblichen) Verkauf von Staatsvermögen an Ausländer, die Erhöhung des Rentenalters und die illegale Einwanderung gestellt. Das Referendum war die Kopie einer Strategie, die erfolgreich von Viktor Orbán verwendet wurde, um sein illiberales Regime in Ungarn zu konsolidieren.

Das war der Versuch, die Wahlen als Referendum über die polnische Souveränität zu definieren. Dieser Trick ist gescheitert. Die Opposition boykottierte das Referendum erfolgreich, nur etwa 40 % der Wähler nahmen überhaupt daran teil. Das zeigt, eine der wichtigsten Strategien der langen Herrschaft der nationalen Populisten in Polen ist gescheitert. Es ist ein erfreuliches Paradoxon, 

dass acht Jahre Kulturkrieg gegen den Liberalismus zu einer dramatischen Liberalisierung der polnischen Gesellschaft geführt haben. … Ähnlich wie Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine eine neue, radikal antirussische ukrainische Identität hervorgebracht hat, hat Jarosław Kaczyńskis innerpolnischer Krieg eine liberale politische Identität in Polen geschaffen, die es vorher nicht gab.

Diese Wahlen könnten, laut Guardian, daher die letzten sein, die von der Generation der beiden großen Blöcke angeführt wurden, die den Kommunismus gestürzt hat. Sowohl, Tusk, 66, als auch Kaczyński, 74, repräsentieren zwei starke Strömungen innerhalb dieser antikommunistischen Bewegung. Kaczyński stand und steht für das Polen der Vorkriegszeit; Tusk vertritt die Idee vom liberalen Polen. 

Die beiden Visionen konnten im Kampf gegen den Kommunismus koexistieren, standen aber nach 1989 in ständiger Spannung, beide beanspruchten das Vermächtnis der Solidarność als ihre politische Identität.

In diesem Zusammenhang ist hoffentlich die Niederlage von „Recht und Gerechtigkeit“ nicht nur eine Chance für das Ende des „polnisch-polnischen“ Krieges, sondern auch für das Ende des nie offen deklarierten polnisch-deutschen Krieges. Aber wir sollten bedenken:

Die Opposition hat gewonnen, aber diese Wahlen bestätigten die Existenz der zwei Polen, und dieses zweite, Kaczyńskis Polen, wird nicht verschwinden. Die neue Regierungskoalition wird auch nicht einfach sein. Der Sieg der Opposition bedeutet nicht, dass das Misstrauen gegenüber Deutschland verschwinden wird oder dass die polnische Kritik an Deutschland überhaupt falsch war.

Wie die NZZ im empfohlenen Artikel zeigt, Polen ist einerseits geprägt durch große Unterschiede zwischen dem Westen und Osten des Landes. Aber auch seine Geschichte eint und spaltet gleichzeitig. Mit langen Unterbrechungen und mit wechselnden Grenzen hat das Land eine über tausendjährige Staatlichkeit hinter sich. Dabei war sicher die Königliche Republik Polen-Litauen, aus polnischer Sicht als Erste Polnische Republik bezeichnet, mit prägend. Diese Adelsrepublik des 16. Jahrhunderts wurde nicht nur in Polen zu einem einzigartigen, freiheitlichen Idealbild stilisiert. Auch wenn nicht die gesamte erwachsene Bevölkerung daran partizipieren konnte, es war eine wichtige historische Erfahrung.
Polen war Imperium, Nationalstaat und oft genug Opfer der Grossmächte in der Region. Ende des 18. Jahrhunderts teilten diese das Gebiet dreimal unter sich auf. Nach 1918 folgte auf die lange Fremdherrschaft eine zwanzigjährige Periode der Unabhängigkeit und Expansion. 1939 zerschlugen Nazideutschland und die Sowjetunion Polen erneut und lieferten die Bevölkerung ihren Terrorregimen aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Land durch die Westverschiebung ein völlig neues Gesicht. Als «Volksrepublik» und Satellitenstaat der Sowjetunion war die Unabhängigkeit mehr formal als real. Dennoch überlebte mit der katholischen Kirche eine zentrale identitätsstiftende Institution, bis die gewerkschaftliche Massenbewegung Solidarnosc das sozialistische Regime 1989 an den runden Tisch zwang.

Diese gewaltsamen und sehr unterschiedlichen Erschütterungen des brutalen 20. Jahrhunderts generierten Opfer und Profiteure, passive Zuschauer, Aktivisten und Kollaborateure. Im Unterschied zu vielen anderen Staaten des Ostblocks musste nach 1989 …

ein Land demokratisch zusammenfinden, das durch historisch völlig unterschiedlich geprägte Regionen und stürmische Veränderung geprägt war. Ähnlich wie die Sowjetunion war Polen eine durcheinandergewirbelte «Flugsandgesellschaft», um den Historiker Moshe Lewin zu zitieren. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die (sehr ausgeprägte Th.W.) nationale Idee stets erhalten blieb, wenn auch phasenweise nur im Exil.

Polens Geschichte umfasst deshalb sowohl die Wurzeln der nationalen Einheit als auch der Spaltung. Die wirtschaftliche Transformation vom Sozialismus zur Marktwirtschaft hat dabei regionale Unterschiede eher verstärk:

Die Chancen boten sich in den grossen Städten, in Warschau, Breslau (Wroclaw) oder Danzig (Gdansk). Noch 2020 lag laut der OECD das Pro-Kopf-Einkommen in Lublin, der ärmsten Region an der Ostgrenze zur Ukraine und zu Weissrussland, bei fast einem Drittel von jenem in der Hauptstadt. Politisch spiegelt sich dies bis heute: Der traditionell weltoffenere, industrialisiertere und reichere Westen hat am letzten Sonntag die Opposition gewählt, während der konservativere und ärmere Osten PiS-Land ist. 

Dabei, so die NZZ, war Polen nie vergleichbar mit Ungarn. Dort ist die Hauptstadtregion nach wie vor so dominant, dass der Rest des Landes gefühlt (?) nur mit einer zentral gesteuerten Strategie und viel Subventionen entwickelt werden kann. Polens Dynamik aber hat viele Quellen. Zu den Verdiensten der Partei Recht und Gerechtigkeit, kann man daher zählen, dass sie die Gräben zwischen Ost, West, Stadt und Land verringert hat. 

Das Ziel der Vorgängerregierungen hatte darin gelegen, Polen wirtschaftlich in die EU zu integrieren und durch Wachstum den durchschnittlichen Wohlstand zu erhöhen. Dieser verteilte sich aber alles andere als gleichmässig. Die PiS ermöglichte den Abgehängten ein Stück Wohlstand, etwa durch das Kindergeld. Der ausgebaute Sozialstaat ist heute innenpolitisch praktisch unbestritten.

Trotzdem hatte die PiS nie ein Volksmandat für eine Revolution. Alles in allem könnte der Wahlausgang eine gute Basis für die Zukunft schaffen. Europa kann es gebrauchen. Es verschieben sich dadurch die wirtschaftlichen und militärischen Machtgewichte weiter nach Osten. Polen wird dabei zunehmend das Gravitationszentrum in Europas neuem Osten. Wir sollten daher die Fehler der Vergangenheit nicht verdrängen, die Thomas Schmid mit den Worten von Tadeusz Mazowiecki, der 1989 der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident Polens wurde, so formuliert hat: 

„Ein Volk, das seine volle Souveränität gerade wiedererrungen hat, kann sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, einen Teil seiner Souveränität abzutreten, und sei er noch so winzig.“ Darauf haben die kulturell blinde EU und auch Deutschland nicht gehört. Sie haben diese Sorge als eine hinterwäldlerische Marotte abgetan.

Natürlich hat diese Ignoranz des Westens den Aufstieg und Erfolg der PiS mit befördert. Die Nationalisten verstanden es hervorragend, das polnische Opfer-Bewusstsein wiederzuerwecken. 

Bei aller berechtigten Kritik an der PiS, ist es dennoch ihr Verdienst, sich mit der Rolle am Katzentisch der EU nicht abgefunden zu haben. 

Und es stimmt, nicht nur wegen der wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Stärke Polens:

Es wäre fatal, wenn die EU und Berlin jetzt kurz durchatmen und dann zur Tagesordnung übergehen würden. Es gibt etwas gut zu machen an Polen, nicht nur wegen der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Polen ist kein Land unter anderen in der EU. Seiner besonderen Geschichte wegen, die viel Leid enthält, verdient es besondere Aufmerksamkeit.


Polen ist anders - als Ungarn oder Rußland

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Kommentare 1
  1. Theresa Bäuerlein
    Theresa Bäuerlein · vor einem Jahr

    „Das Wunder wurde Wirklichkeit“: Diesen Satz werde ich mir merken. Gerade in der aufgeheizten Atmosphäre in vielen Diskussionen gerade ist es gut zu wissen, dass auch überraschende positive politische Wendungen möglich sind, die niemand erwartet hat.

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