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Europa

Wohin driften die Niederlande mit der neuen rechten Regierung?

Jürgen Klute
Theologe, Publizist und Politiker
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Jürgen KluteDienstag, 11.06.2024

Ilja Leonard Pfeijffer ist ein niederländischer Dichter und Schriftsteller. Regelmäßig äußert er sich in einer Kolumne der belgischen niederländischsprachigen linksliberalen Tageszeitung "De Morgen" zu aktuellen politischen Entwicklungen. In dieser Kolumne, die am 25. Mai 2024 unter dem Titel „Dit eerste kabinet-Wilders zonder Wilders is slechts bedoeld als opstapje naar de werkelijke machtsgreep“. Die Veröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung dieser Kolumne auf Forum.eu erfolgt mit Zustimmung des Autors. In seiner Kolumne gibt Pfeijffer eine Einschätzung der neuen rechten Regierung in den Niederlanden.

Dieses erste Wilders-Kabinett ohne Wilders ist nur ein Sprungbrett für die eigentliche Machtübernahme

Ilja Leonard Pfeijffer hält Europa einen Spiegel vor. Auf den ersten Blick war er von Wilders' Rahmenvereinbarung angenehm überrascht. Bis er etwas genauer hinschaute und vier bemerkenswerte Beobachtungen machte. "Es gibt allen Grund zur Sorge um die Zukunft meines Heimatlandes."

Von Ilja Leonard Pfeijffer | 25. Mai 2024

Ich war fast verärgert, weil es so wenig gab, worüber ich verärgert sein konnte. Nach 175 Tagen mühsamer Verhandlungen, die am Tag nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 22. November 2023 begonnen hatten, bei denen die rechtsextreme PVV [= Partij van de Vrijheid = Freiheitspartei] von Geert Wilders einen historischen Sieg errungen hatte, legten die PVV, die rechtsliberale VVD [= Volkspartij voor Vrijheid en Democratie = Volkspartei für Freiheit und Demokratie], die neue konservative Partei von Pieter Omtzigt und die Bauernpartei am 15. Mai 2024 eine Vereinbarung vor, die die Grundlage der nächsten niederländischen Koalitionsregierung bilden soll. Sie trägt den Titel Hoffnung, Mut und Stolz. Grundsatzvereinbarung 2024-2028 von PVV, VVD, NSC [= Nieuw Sociaal Contract = Neuer Gesellschaftsvertrag] und BBB [= BoerBurgerBewegin = Bauer-Bürger-Bewegung].

Noch am selben Tag habe ich es durchgelesen, sensationslüstern wie ich bin, in der Erwartung, von Sorge und Zorn übermannt zu werden. Ich habe es schnell zu Ende gelesen. Es ist ein 26-seitiger Schmöker. Und zu meiner nicht geringen Enttäuschung gab es darin kaum etwas, das meiner Aufregung würdig gewesen wäre. Es war jene Art von Enttäuschung, die man auch als Erleichterung bezeichnen könnte.

Die Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer. Bei näherer Betrachtung gibt der Koalitionsvertrag Anlass zu vier Beobachtungen. Gerade die Tatsache, dass der Text des Vertrages einen tristen und muffigen Konservatismus ausstrahlt und ansonsten in fast jeder Hinsicht eher deprimierend durchschnittlich statt empörend wirkt, ist ein Anlass zur Besorgnis. Das ist der erste Punkt. Dieser Pakt, der weit davon entfernt ist, sensationell und verwerflich zu sein, und der den scheinbar beruhigenden Anschein eines normalen Abkommens für eine stinknormale Regierung angenommen hat, ist der ultimative Beweis für die Normalisierung von Gedanken, die bis vor kurzem als inakzeptabel galten.

Die PVV ist schon von der Satzung her eine antidemokratische Partei. Sie lässt keine Mitglieder zu. Geert Wilders ist das einzige Mitglied. „PVV-Parteimitglied sorgt mit Ankündigung der ‚kritischen Frage‘ für Lacher“, titelte die Satire-Website De Speld am Abend, als das von den Parteiführern ausgehandelte Rahmenabkommen den Fraktionen vorgestellt wurde. Das demokratisch gewählte Parlament wurde von Wilders wiederholt als „Scheinparlament“ bezeichnet. Wilders ist wegen Gruppenbeleidigung von Marokkanern verurteilt worden. Er hat ein beeindruckendes Portfolio an verfassungsfeindlichen Ansichten und Vorschlägen zusammengetragen.

Bis kurz vor den letzten Wahlen war er aus verständlichen Gründen von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen. Bevor sich diese vier Parteien einigen konnten, musste ernsthaft darüber verhandelt werden, inwieweit der Rechtsstaat geachtet wird, denn die anderen drei Parteiführer wussten, dass dies für Wilders keine Selbstverständlichkeit ist.

Tom Van Grieken

Dass die Niederlande bald von einer Koalition regiert werden, in der Wilders als Vorsitzender der stärksten Partei eine entscheidende Stimme haben wird, ist alles andere als normal. Es hätte auch nie normal werden dürfen. Die Vereinbarung verschleiert die außergewöhnliche Situation, und ihre Unauffälligkeit trägt dazu bei, die Regierungsbeteiligung der Rechtsextremen zu legitimieren. Nicht umsonst wird dieses Abkommen am Vorabend der Europawahlen im Juni von anderen rechtsextremen Parteien in Europa als Inspiration und Hoffnungszeichen gesehen. Tom Van Grieken, Vorsitzender des Vlaams Belang [= rechtsextreme belgisch-flämische Partei], gratulierte Wilders zu seiner bevorstehenden Regierungsbeteiligung. Für ihn sind die Niederlande wieder zu einem Leitbild geworden.

Die zweite Beobachtung, die im Einklang mit der ersten liegt, ist, dass der Vertrag Teil einer geschickten Strategie ist, um die rechtsextreme Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit als eine Epiphanie der Vernunft erscheinen zu lassen. Wilders hatte bereits im Vorfeld der letzten Wahlen begonnen, sich in ein Vorbild an Mäßigung zu verwandeln, nachdem er eine Chance auf eine Regierungsbeteiligung witterte. Er zog zwei verfassungswidrige Gesetzesentwürfe zurück und distanzierte sich scheinbar mühelos von seinen extremsten Ansichten. Sein Eintreten für ein Verbot von Moscheen, des Korans und islamischer Schulen wurde „auf Eis gelegt“, wie er es selbst formulierte.

Während der harte Kern seiner Anhänger sich mit dem Gedanken beruhigen konnte, dass man normalerweise Dinge auf Eis legt, um sie später wieder herauszunehmen und zu verwenden, konnte Wilders vor seinen künftigen Koalitionspartnern und der Außenwelt sein neues Gesicht zur Schau stellen und den Eindruck erwecken, dass sein Extremismus unter der Last der Verantwortung flüchtig geworden war. Dies war nicht nur eine Verhandlungsstrategie. Es ist auch Propaganda.

Vor einigen Wochen sprach ich mit dem Kommissar des Königs für die Provinz Südholland, Jaap Smit, der mir erzählte, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Einladung der vier Parteivorsitzenden als Berater mit am Verhandlungstisch saß und nachdrücklich aufgefordert wurde, die kommende Regierung als genauso normal wie jede andere zu betrachten. Das ist es, was sie jetzt von der gesamten Bevölkerung verlangen. Der Koalitionsvertrag ist eine Nebelkerze, die die extremistischen Absichten vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen soll.

Es erinnert an die Art und Weise, wie sich die neofaschistische italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu Beginn ihrer Amtszeit als verantwortungsbewusste Regierungschefin und als vernünftige und konstruktive europäische Verbündete darstellte, indem sie sich scheinbar schmerzlos von früheren extremen Positionen verabschiedete, um dann, sobald ihre Macht gefestigt war, langsam aber sicher Schritt für Schritt ihre Agenda zur Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaates umzusetzen. Die moderne extreme Rechte ergreift die Macht nicht mit Racheakten und Fahnen, sondern mit Samtpfoten.

Drittens müssen wir erkennen, dass die scheinbare Seriosität des Rahmenabkommens nicht über Wilders' fremdenfeindliche DNA hinwegtäuschen kann. Unter dem Deckmantel des Textes, der keine eklatanten Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit enthält, verbirgt sich gleich wohl seine ganz spezielle Weltanschauung. Zwar wurden seine extremen Ansichten abgeschwächt, doch ist das Abkommen durchdrungen von seiner durch und durch menschenverachtenden Politik. Seine Programmpunkte wie „Grenzen schließen“, „Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ und „Verbot von Moscheen“ präsentieren sich nun unter dem Etikett „strengste Asylpolitik aller Zeiten“, „Streichung von 100 Millionen aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ und „Regulierung des Gebetsrufs“. Die Klimapolitik wird nicht „durch den Schredder gehen“, wie es das Wahlprogramm suggeriert, aber die gleichen Klimaziele, die schon jetzt schwer zu erreichen sind, werden zukünftig mit noch weniger Mitteln erreicht werden müssen.

Die vierte und letzte Beobachtung, zu der der Koalitionsvertrag einlädt, ist vielleicht die beunruhigendste. Der Vier-Parteien-Abkommen enthält eine Fülle von Maßnahmenvorschlägen, die unrealistisch sind. Die von der Koalition vorgesehene Verschärfung der Flüchtlingspolitik wird in Teilen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor Gericht scheitern. Zudem stehen die Vorschläge im Widerspruch zu den europäischen Gegebenheiten. So will die Koalition ein Opt-Out für die europäische Asylpolitik, was aber nur im Rahmen einer Vertragsänderung denkbar ist, auf die niemand in Europa wartet.

Außerdem will die kommende Regierung in Brüssel für Ausnahmen von der europäischen Agrarpolitik für niederländische Landwirte plädieren, während die Vorgängerregierung dies bereits vergeblich versucht hat und während die neue Koalition die Nachbarländer bereits im Vorfeld verärgert hat, indem sie strengere Grenzkontrollen ankündigte, um Asylsuchende fernzuhalten. Die Tatsache, dass die neue Regierung über eine Reduzierung der Zahlungen an die EU verhandeln will, wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass Europa den anderen Anträgen wohlwollend gegenübersteht.

Dieser Mangel an Realismus ist nicht auf Unfähigkeit zurückzuführen. Wilders wendet eine bewusste Strategie der Niederlage an. Der Koalitionsvertrag garantiert, dass seine Regierung scheitern wird, und die Parteien, die dafür verantwortlich gemacht werden, stehen bereits fest. Wilders, der in der Vergangenheit wiederholt gerichtliche Verfahren und Entscheidungen kritisiert und Richter als 'D66-Richter' [= Democraten 66 = eine 1966 gegründete linksliberale niederländische Partei] bezeichnet hat, kann künftig Richter beschuldigen, die Politik seiner demokratisch gewählten Regierung zu sabotieren.

Wilders, der in der Vergangenheit für einen Austritt der Niederlande aus der Europäischen Union plädiert hat, kann dann künftig Brüssel vorwerfen, sich in keiner Weise um die Belange der einfachen Niederländer zu kümmern und statt dessen die Niederlande mit Regeln und Verpflichtungen versklavt, die kein Niederländer gewollt hat.

Ein großer Vorteil

Ein großer Vorteil für Wilders ist, dass seine Koalitionspartner nicht wollten, dass er Premierminister wird. Es wurde vereinbart, dass keiner der vier Parteivorsitzenden im Kabinett vertreten sein soll. Während das Veto der anderen drei ihm die von ihm geschätzte Opferrolle zugestanden hat und es ihm ermöglichte, seinen Verzicht auf das Amt des Ministerpräsidenten als Opfer für das Interesse des Landes darzustellen – ein Akt, den er mit Verve vor den Kameras inszeniert hat –, ist es für Wilders ein Geschenk des Himmels, dass er als Parlamentsvorsitzender der größten Regierungspartei in der Lage sein wird, vom Plenarsaal aus und über die sozialen Medien Opposition gegen seine eigene Regierung zu machen.

So kann er seine Niederlagenstrategie mit optimaler Effizienz umsetzen. Da er nicht nur das Amt des Ministerpräsidenten aufgegeben, sondern auch auf eine Reihe verfassungswidriger Positionen verzichtet hat, kann er sich in der Öffentlichkeit erfolgreich als derjenige präsentieren, der aus Verantwortungsbewusstsein weitreichende Zugeständnisse gemacht hat, wodurch er es sich leisten kann, seine eigene Regierung zu einem günstigen Zeitpunkt zu stürzen, um dann aus der von ihm selbst organisierten Opposition aus der Justiz und den europäischen Technokraten elektorales Kapital zu schlagen.

Dieses erste Wilders-Kabinett ohne Wilders ist nur als Sprungbrett für die eigentliche Machtübernahme gedacht. In einigen Umfragen liegt Wilders bereits bei 50 Sitzen, was fast das Doppelte der Rekordzahl ist, die er am 22. November 2023 erreichte. So weicht meine Enttäuschung, die alle Merkmale einer Erleichterung aufwies, im Nachhinein einer Befriedigung meines Sensationsdurstes und meines tief empfundenen Bedürfnisses nach Empörung, was eine umständliche Art ist, auszudrücken, dass es Anlass zu großer Sorge um die Zukunft meines Heimatlandes gibt.

Wohin driften die Niederlande mit der neuen rechten Regierung?

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Kommentare 3
  1. Silke Jäger
    Silke Jäger · vor 7 Monaten · bearbeitet vor 7 Monaten

    Ich sehe inzwischen das Dilemma dieser Strategie vor allem darin, dass deren gemäßigter Anstrich den demokratischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen bis hinein in die demokratischen Institutionen den Anstrich von Extremismus geben wird. Also das, was diesen Kräften lange vorgeworfen wurde, wendet sich wie ein umgekehrter Pfeil gegen die Demokraten selbst. Demokratie lässt sich so erstaunlich leicht immer weiter ins Wanken bringen.

  2. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 7 Monaten

    Europe Calling, erstmalig in diesem Pick vorgestellt: https://forum.eu/klima... ,
    veranstaltet heute um 20 Uhr auf Zoom ein „etwas anderes Analyse-Webinar mit EUREN Fragen“ (Newsletter-Einladung) zum Thema:
    Europa nach der Wahl.

    Anders als bei früheren Webinaren dieses Diskussionsformats sollen die Fragen der Teilnehmer’innen im Fokus stehen. Die Webinare sind normalerweise auch auf YouTube im Nachhinein anzuhören, eine Anmeldung bietet aber die Gelegenheit, Fragen direkt vorzubringen: https://eu01web.zoom.u...

  3. Ria Hinken
    Ria Hinken · vor 7 Monaten

    Danke für die Übersetzung dieses Artikels.
    Ich mag gar nicht daran denken, dass ich demnächst in dieses Land fahre, um mal wieder dort Urlaub zu machen.
    Was ist nur los mit den Menschen in Europa? Ich lebe im "heimeligen" Freiburg. Bei uns hat die A*D nur 5,9 % bekommen. Ich mag aber nicht daran denken, wie in Thüringen und den anderen Bundesländern im Osten Deutschlands die Wahlen ausgehen werden.

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