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Europa

Warum Emmanuel Macron Neuwahlen für das Parlament entschieden hat

Tanja Kuchenbecker
Journalistin, Auslandskorrespondentin

Seit 1991 arbeitet Tanja Kuchenbecker in Paris als Auslandskorrespondentin für deutsche Medien. Sie schreibt über die unterschiedlichsten Frankreichthemen, vor allem über Wirtschaft und Politik und hat mehrere Bücher über Frankreich veröffentlicht.

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Tanja KuchenbeckerDienstag, 18.06.2024

Der Druck ist ungeheuer groß. In knapp zwei Wochen will Emmanuel Macron erreichen, was fast unmöglich erscheint: Bei Neuwahlen der Nationalversammlung am 30. Juni und 7. Juli das Ruder in Frankreich herumzureißen. Er hofft, damit die Rechtsextremen, die bei den Europawahlen mit über 30 Prozent der Stimmen die erste Kraft wurden, zu schwächen. Nach den Wahlen hatte der Präsident weltweit mit der Ankündigung von Neuwahlen überrascht. Im Exklusiv-Interview in "Le Figaro Magazine" erklärt er warum. Er setzt alles auf eine Karte, aber das Risiko ist groß für Frankreich, einen rechtsextremen Premierminister zu bekommen.


Text: 

Emmanuel Macron zum Figaro Magazine: „Ich wage es, um zu gewinnen!“

Von Carl Meeus, EXKLUSIV für Le Figaro Magazine

Der Präsident ist überzeugt, dass der beginnende Wahlkampf für die Parlamentswahlen zeigen wird, dass der RN nicht regierungsbereit ist.

„Ich wage es, um zu gewinnen!“ Auf dem Rückflug von Oradour-sur-Glane (Haute-Vienne) am Montagnachmittag zeigte der Präsident seine Gelassenheit und Kampfbereitschaft am Tag nach der Niederlage seines Lagers bei den Europawahlen, insbesondere aber am Tag nach seiner überraschenden Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen. Zuversichtlich erklärt Emmanuel Macron die beiden Hauptgründe, die ihn zu seiner Entscheidung, die Abgeordneten neu wählen zu lassen, motiviert haben: das Gefühl der Unordnung, das durch die Debatten im Parlament verursacht wurde, insbesondere in den letzten Wochen, als die gewählten Vertreter von La France Insoumise (Anm. der Übersetzerin: LFI, Unbeugsames Frankreich, linkspopulistische und EU-skeptische Partei) Palästinenser-Flaggen in der Mitte des Plenarsaals schwenkten, obwohl sie wussten, dass das verboten war und was zu Sitzungsunterbrechungen führte. Aber auch, weil einige der gewählten Vertreter der Opposition trotz zweijährigen Bemühens, Macrons Mehrheit zu erweitern, das Spiel nicht mitmachen wollten. Im Parlament konnte keine Einigung erzielt werden. Um nicht länger auf eine fragile relative Mehrheit angewiesen zu sein, lässt er es jetzt auf diesen Versuch ankommen, um damit die Abgeordneten zu mehr Klarheit zu zwingen.

Den Ausschlag gab aber vor allem das Ergebnis des Rassemblement National (RN) am Sonntagabend. Nachdem Macron mehrere Wochen über diese Entscheidung nachgedacht hatte, wagte er am Sonntagnachmittag den Schritt. „Wir können nicht so tun, als wäre nichts gewesen“, begründet der Präsident seine Entscheidung, obwohl er wiederholt erklärt hatte, dass er aus der Europawahl keine innenpolitischen Lehren ziehen werde. Emmanuel Macron dreht das Problem um, um zu zeigen, dass er in Wirklichkeit keine andere Wahl hatte: „Diese Entscheidung war notwendig.“ Er wollte nicht als machtloser Präsident dastehen, noch immer ohne eine Mehrheit im Parlament (vor 2027 finden bis auf die Kommunalwahlen 2026 keine nationalen Wahlen mehr statt), und mit einem nationalistischen Block, der mit seinem Ergebnis vom 9. Juni geradezu legitimiert erscheint.

Auch ein Wechsel des Ministerpräsidenten hätte sein Mehrheitsproblem keineswegs gelöst, da keiner der Kandidaten für eine solche Erweiterung der Mehrheit sorgen konnte. Ebenso wenig wie ein Referendum (Anm.: Das Referendum hätte auch keine nachhaltige Fortsetzung der Regierung erlaubt, sondern immer nur über einzelne Projekte und Fragen entschieden.) Diejenigen, die sich bereits in Matignon (Anm. Sitz des Premierministers) als Nachfolger Gabriel Attals sahen, konnten den Präsidenten am Ende des Tages nicht von der Richtigkeit dieser Option überzeugen. 

Pech für alle, die diese Auflösung nicht verstehen, sie als Pokerspiel bezeichnen oder den Präsidenten sogar als “verrückt” bezeichnen. Und in diesem Klima intensiver Spannungen kann man der Frage nicht ausweichen (auch wenn sich das Gesicht augenblicklich verschließt und die Augen einen noch intensiver fixieren):

- „Was antworten Sie denen, die das sagen? Sind Sie verrückt, wie sie behaupten?“

- „Nein, überhaupt nicht, das kann ich Ihnen garantieren. Ich denke nur an Frankreich. Es war die richtige Entscheidung, im Interesse des Landes. Und ich sage den Franzosen: Habt keine Angst, geht wählen.“

Außerdem war Emmanuel Macron angesichts des Verhaltens einiger gewählter Oppositionsvertreter davon überzeugt, dass eine Auflösung in den kommenden Monaten unvermeidlich sei. Und er wählte lieber den Moment, als passiv zu bleiben. „Das ist der Geist unserer Institutionen: Ich habe das französische Volk gehört. Es ist Zeit für Klärung. Klärung ist die klarste, radikalste und stärkste Geste. Eine Geste großen Vertrauens gegenüber den Franzosen. Ich habe eine Zwischenwahl ins Leben gerufen, um die Situation zu klären.”

Denn nach Ansicht des Präsidenten können nur zwei Lager gewinnen: Der RN oder die Mehrheit. Für ihn können weder die Republikaner, auch wenn sie lokale Bündnisse mit Jordan Bardellas Partei nicht mehr ausschließen, noch die in einer neuen Nupes (Nouvelle union populaire écologique et sociale) gruppierten Sozialisten einen Sieg für sich beanspruchen. (Anm. Nupes war das Bündnis aus Linken, Sozialisten und Grünen, der Nachfolger heißt seit kurzem Front populaire). Aber er weiß auch, dass er die Struktur seiner Mehrheit ändern muss, um den Trend umzukehren. „Indem man sich breiter aufstellt und seine Linie klar formuliert.“ Aus diesem Grund wird Emmanuel Macron in den kommenden Tagen „allen die Hand reichen, die bereit sind, zu regieren und auf eine Synthese im Sinne einer ehrgeizigen Radikalität hinzuarbeiten.“

Der Präsident ist überzeugt, dass der jetzt begonnene Wahlkampf zeigen wird, dass der RN nicht regierungsbereit ist und dass diejenigen Franzosen, die mit ihrer Stimme für die Liste von Jordan Bardella am vergangenen Sonntag ein Zeichen der Unzufriedenheit gesendet haben, ihre Meinung ändern werden, angesichts dessen, was auf dem Spiel steht. Wir sind nicht mehr bei den Europawahlen, bei denen die Wähler sagen könnten, dass ihr Votum keine Konsequenzen hat. Sondern bei Parlamentswahlen, die eine Mehrheit hervorbringen müssen, um das Land zu regieren. „Es war keine Beitrittsentscheidung, es gab kein Programm! Es gab nur einen Vorschlag, der Doppelgrenze, den sein eigener Befürworter nicht erklären konnte! (Anm.: . Es geht um das Europaprogramm der Rechten, die die Außengrenzen von Europa und die Innengrenzen von Frankreich besser schützen wollen.) Emmanuel Macron glaubt also nicht, dass der RN bei den Parlamentswahlen in drei Wochen sein Ergebnis wiederholen kann.

Ebenso ist er davon überzeugt, dass die Mehrheit den Angriffen der Opposition standhalten wird. „Politik ist dynamisch. Ich habe nie an Umfragen geglaubt. Die Entscheidung, die ich getroffen habe, eröffnet eine neue Ära. Ein neuer Wahlkampf beginnt und wir sollten die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise nicht mit denen der Europawahlen vergleichen.“ Emmanuel Macron scheint kampfbereit zu sein. So sehr, dass er sich voll und ganz dem Wahlkampf widmen möchte, beginnend mit einer Pressekonferenz zur Detaillierung eines Programms für die nächsten drei Jahre, die für heute Nachmittag geplant war und schließlich auf Mittwoch verschoben wurde.

„Der Präsident muss seinen Platz einnehmen. Die Zukunft der Republik, der Institutionen, des Landes, Europas hängt davon ab.“ Auch eine Zustimmung zur Debatte mit Marine Le Pen, wie er sie ihr bei der Europawahl angeboten hatte? "Natürlich! Ich bin bereit, unsere Ideen zu vertreten und unser Projekt zu verteidigen.“ Auch wenn es bedeutet, das Risiko einzugehen, dass der RN im Falle eines Sieges seinen Rücktritt fordert? Der Präsident weist das beiseite: „Es ist nicht der RN, der die Verfassung schreibt oder sie interpretiert. Die Institutionen sind klar, die Stellung des Präsidenten ist, wie auch immer das Ergebnis ausfällt, ebenfalls klar. Für mich ist das unantastbar.“

 


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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 5 Monaten

    "Wir sind nicht mehr bei den Europawahlen, bei denen die Wähler sagen könnten, dass ihr Votum keine Konsequenzen hat. Sondern bei Parlamentswahlen, die eine Mehrheit hervorbringen müssen, um das Land zu regieren" -
    das ist sicher zutreffend und dürfte auch zt für Deutschland gelten, auch wenn man sich wundern sollte, wieso immer noch so viele die EU für so "unwichtig" halten (und dann doch über das angebliche Diktat aus Brüssel schimpfen).
    Letztendlich ist es in Frankreich derzeit eine Wette - Macron ein Hassadeur, wenn es so klappt wie er denkt: ein genialer Politiker...
    (Gut dass in Deutschland nicht so schnell neugewählt werden kann.)

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