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Kurator'in für: Zeit und Geschichte Flucht und Einwanderung Fundstücke
Studium der Internationalen Entwicklung und Politikwissenschaften in Wien und Münster. Beschäftigt sich mit Sicherheitspolitik und Islamismus, unter anderem bei/mit Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), Blätter für deutsche und internationale Politik, Internationale Politik (IP), Middle East Institute Washington, Atlantic Council, Clingendael Institute.
Das Verhältnis der arabischen Welt mit Syriens Diktator war seit Beginn des Krieges immer vielschichtig. Dennoch gab es gewisse rote Linien, die nicht überschritten wurden. Öffentlichkeitswirksame Auftritte mit Assad gehörten dazu. Das ändert sich nun. Für diesen piq habe ich einen Artikel ins Deutsche übersetzt, den ich mit meinem Kollegen Malik al-Abdeh für den Atlantic Council geschrieben habe. Wir beleuchten darin einige der gängigen Thesen kritisch und liefern eine alternative Perspektive, inklusive historischer Analogie zu einer folgenreichen Entscheidung des belgischen Königs Leopold III. im Jahr 1936:
Angesichts der eskalierenden Spannungen zwischen dem Westen und der Achse Russland-China-Iran bemühen BeobachterInnen immer alarmierendere historische Analogien, um vor einem Schlafwandeln in eine Katastrophe zu warnen.
Die Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Iran wurde beispielsweise von einem Thinktank als „1914 Moment“ betitelt, in dem „ein kleiner Vorfall in einen regionalen Konflikt eskalieren könnte“. Die russische Annexion ukrainischen Territoriums durch Russland wurde mit der Übernahme des Sudetenlandes durch Deutschland im Jahr 1938 verglichen. Und Chinas Aufrüstung, die die US-Vorherrschaft im Pazifik herausfordert, mit dem Wettrüsten zwischen Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Wie nützlich solche Vergleiche sind, ist diskussionswürdig. Wladimir Putins Blick auf die Welt legt zumindest nahe, dass ein Leben in „historischen Analogien und Metaphern“ ein schlechter Ratgeber für Entscheidungen im Hier und Jetzt sein kann. Historische Vergleiche können jedoch nützlich sein, um sich einen Reim auf Dinge zu machen, die auf den ersten Blick unsinnig erscheinen.
Ein Paradebeispiel ist die an Fahrt aufnehmende Normalisierung diplomatischer Beziehungen arabischer Staaten mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad. Dessen Besuch in Abu Dhabi am 19. März kam einem Tabubruch gleich. Obwohl die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) bereits 2018 ihre Botschaft in Damaskus wieder geöffnet haben, gab es immer so etwas wie eine rote Linie. Die wurde nun durch einen roten Teppich ersetzt. Oman, ein weiterer Golfstaat mit engen Beziehungen zum Westen, folgte dem Beispiel am 20. Februar.
Als Nächstes sollen die diplomatischen Beziehungen zwischen Syrien und zwei Giganten der Arabischen Liga wiederhergestellt werden: Ägypten und Saudi-Arabien. Obwohl die beiden Regierungen als westliche Verbündete gelten, rücken sie nun von ihrer bisherigen Politik ab und richten sich damit gegen den Westen. Die Eile, mit der sie das tun, erscheint umso verwirrender, wenn man bedenkt, dass Assad den Arabern außer einer 400-Milliarden-Dollar-Rechnung für den Wiederaufbau des Landes wenig zu bieten hat.
Analysten liefern bestenfalls spekulative Erklärungen für diese Normalisierungs-Dynamik. Ein wiederkehrendes Argument lautet, arabische Staaten seien zu dem Schluss gekommen, dass Deeskalation und regionale Koordination ihren Interessen dienlicher sind als Konfrontation. Dabei handelt es sich um eine Art Universal-Antwort, die sich immer aus dem Hut ziehen lässt, wenn es irgendwo Annäherung gibt. Vor allem aber basiert sie auf der nicht zutreffenden Annahme, dass gleich mehrere regionale Konflikte — von Syrien, Jemen über Libanon und den Irak — gleichzeitig Kipppunkte erreicht hätten und die beteiligten Akteure keine Vorteile mehr in Konfrontation sehen.
Ein zweites Argument lautet, dass Staaten wie die VAE sich lukrative Geschäfte im Wiederaufbau sichern wollen. Wer dafür aber bezahlen soll, wird nicht beantwortet. Sicherlich nicht Russland oder Iran, die unter finanziellem Druck stehen, und auch nicht China, das für gewöhnlich keine Investitionen in instabilen Krisengebieten tätigt. Darüber hinaus gibt es noch die Idee einer „Solidarität unter autoritären Herrschern“. Die ist nicht von der Hand zu weisen, erklärt die Normalisierungs-Dynamik jedoch nicht hinreichend. Einige Analysen führen außerdem Captagon an. Captagon ist der Name einer synthetischen Droge, die das Assad-Regime in industriellem Ausmaß produziert und in der Region vertreibt. Jordanien und den Golfstaaten bliebe nichts anderes übrig, als sich Assad anzunähern, damit ihre Länder nicht mehr von der Droge überschwemmt werden, heißt es. Solange die Araber das Assad-Regime aber nicht für die Milliardenverluste finanziell entschädigen — wovon nicht auszugehen ist — wird der Drogenhandel munter weitergehen. Ein letztes Argument besagt, die Araber suchten die Nähe Assads, um dem Einfluss Irans in Syrien etwas entgegensetzen zu können. Tatsächlich hat Iran jedoch die arabischen Normalisierungsbemühungen mit Assad begrüßt.
Es gibt eine andere, überzeugendere Erklärung, die nichts mit Assad oder Syrien per se zu tun hat. Die zugehörige historische Parallele betrifft eine radikale Entscheidung des belgischen Königs Leopold III., der sich im Jahr 1936 aus einer gegen Deutschland gerichteten Militärallianz mit Frankreich zurückzog und eine Politik der Neutralität verkündete. Laut dem Historiker Pierre Henri handelte es sich dabei um eine Reaktion auf die gewaltige Transformation Europas seit Beginn der 1930er-Jahre. Mit anderen Worten, die Neutralitätspolitik war eine direkte Reaktion auf das erstarkende Deutschland unter Hitler und die gleichzeitige Schwäche der Franzosen und Briten.
Die arabischen Herrscher sind wie Leopold III.: verängstigt. Sie schauen sich um und sehen ein selbstbewusstes China, das die US-Hegemonie herausfordert, ein revanchistisches Russland, das Territorium in Europa verschlingt, und einen Iran, der gute Beziehungen zu beiden Ländern pflegt sowie in all seinen regionalen Stellvertreterkriegen zu gewinnen scheint. Amerikas Verbündete hingegen scheinen überall im Mittleren Osten auf der Verliererseite zu stehen. Ob es die pro-westlichen Regierungen des Iraks und Libanons sind, die syrische Opposition und ihre Unterstützer oder die Saudis und Emiratis im Jemen — ein Verbündeter des Westens zu sein, erhöht die Wahrscheinlichkeit, besiegt, ausmanövriert oder überlistet zu werden. Für arabische Staaten mit begrenzten militärischen Ressourcen und fragilen Volkswirtschaften, die besonders anfällig für Instabilität sind, ist das ein Grund zur Sorge. Ganz gleich ob regionale oder internationale Eskalation, die strategische Lage der Region macht sie besonders anfällig. Und im Fall eines ausgewachsenen militärischen Konflikts zwischen Großmächten würde sie vermutlich ähnlich dramatisch zwischen die Fronten geraten wie Belgien im Jahr 1940.
Die Normalisierung diplomatischer Beziehungen mit dem Assad-Regime fordert die „regelbasierte“ internationale Ordnung des Westens heraus. Die jüngsten Ereignisse können als Teil einer umfassenderen Entwicklung hin zu einer multipolaren Ordnung verstanden werden, ähnlich einem Wiener Kongress des 21. Jahrhunderts, in dem amerikanische Macht durch ein mächtiges eurasisches Bündnis herausgefordert wird. In diesem Sinn signalisieren arabische Staaten mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen kein Vertrauen in Assad, von dem sie wissen, dass er ihnen wenig zu bieten hat. Ebenso wenig signalisieren sie Vertrauen in Syrien als Staat, der zerbrochen ist und es wahrscheinlich auf absehbare Zeit bleibt.
Stattdessen senden sie inmitten eines globalen Kampfes zwischen zwei konkurrierenden Machtblöcken um die Vorherrschaft ein Signal der Neutralität. Angesichts der derzeit wenig entschlossenen US-Politik ist das Risiko für Konsequenzen gering. Aus Sicht arabischer Staaten erscheint Normalisierung also durchaus vernünftig, ähnlich dem Kalkül, das Leopold III. im Jahr 1936 verfolgte. Der unbeabsichtigte Gewinner all dessen ist Assad, der nur allzu gern als Barometer für den Erfolg der Anti-West-Achse fungiert: Je mehr er hofiert wird, desto lächerlicher steht der Westen da.
Westliche Politiker sollten verstehen, dass die Ära, in der sie arabischen Verbündeten Bedingungen diktieren konnten, zu Ende geht. Angesichts ihrer starken militärischen Präsenz und ihrem politischen Einfluss werden die USA vorerst weiterhin die Rolle eines wichtigen Verbündeten und Sicherheitsgaranten spielen. Arabische Staaten haben keinen Grund, diese strategische Beziehung einfach aufzugeben. Sie werden jedoch eine neutralere Position anstreben, indem sie ihre Allianzen diversifizieren. Normalisierung mit Assad lässt sich als Schritt in diese Richtung lesen.
Versuche, die Ächtung Assads zu erzwingen, zum Beispiel durch Sanktionsdrohungen, dürften die Erosion des westlichen Einflusses im Mittleren Osten nur beschleunigen. Das mag eine unangenehme Wahrheit sein. Sie zu ignorieren hätte jedoch einem Ritt gegen Windmühlen zur Folge, schließlich ist die Suche nach einem nachhaltig sicheren Platz in einer sich verändernden Weltordnung für arabische Staaten existenziell. Diese beginnende Neuordnung lässt sich nicht abwenden, aber so gestalten, dass sie maßgeblich von westlichen Werten und Normen geprägt wird. Dafür müssen westliche Politiker allerdings aufhören, Macht in der Region als Nullsummenspiel zu betrachten, sondern stattdessen als Wettbewerb um die besten Ideen und Angebote, die Allianzen mit gänzlich neuen Qualitäten schaffen können.
Quelle: Malik al-Abdeh, Lars Hauch Bild: Reuters EN www.atlanticcouncil.org
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