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Kissinger wird 100 und redet über KI, Russland und Europa

Theresa Bäuerlein
Journalistin. Autorin. Seit (gefühlt) schon immer.
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Theresa BäuerleinMittwoch, 24.05.2023

Man liest nicht jeden Tag ein Interview mit einem Politiker, der in ein paar Tagen hundert Jahre alt wird. Noch dazu einem, der 1938 aus Deutschland fliehen musste, US-Außenminister war und vorhat, in seinem 101. Lebensjahr ein Buch über künstliche Intelligenz zu veröffentlichen. Sein Zweites. Außerdem arbeitet er immer noch täglich fünfzehn Stunden (sagt er). Die Rede ist von Henry Kissinger. Von 1969 bis 1977 war Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister unter Richard Nixon und Gerald Ford. 

In diesem langen und interessanten Interview spricht er über Wladimir Putin und den Ukraine-Krieg, die Gefahr eines Atomkriegs mit China, künstliche Intelligenz und die Vorwürfe, er, der 1973 den Friedensnobelpreis gekriegt hat, sei ein Kriegsverbrecher*. 

Das Interview ist hinter einer Bezahlschranke. Für alle, die keinen ZEIT-Zugang haben, hier ein paar Zitate: 

  • Über den Ukrainekrieg: „Ich habe schon 2014 in einem Aufsatz ernste Zweifel an dem Vorhaben geäußert, die Ukraine einzuladen, der NATO beizutreten. Damit begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind. Das rechtfertigt den Krieg nicht, aber ich war damals der Auffassung und bin es heute noch, dass es nicht weise war, die Aufnahme aller Länder des ehemaligen Ostblocks in die NATO mit der Einladung an die Ukraine zu verbinden, ebenfalls der NATO beizutreten (...) Heute bin ich absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des Krieges in die NATO aufzunehmen. Jetzt, da es keine neutralen Zonen mehr zwischen der NATO und Russland gibt, ist es besser für den Westen, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.“
  • „Schauen Sie, das ist meine ganz persönliche Einschätzung der russischen Drohungen: Ich glaube nicht, dass Putin Atomwaffen einsetzen wird, um seine Eroberungen in der Ukraine zu verteidigen. Aber je mehr es um den Kern der russischen Identität geht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er es tut.“
  • Über die US-Außenpolitik: „Sollte irgendein republikanischer Präsident, Trump eingeschlossen, tatsächlich versuchen, Amerikas Rolle bei der Verteidigung von Europas Sicherheit aufzugeben, würde das niemand tolerieren – Leute wie ich nicht, Leute aus den früheren republikanisch geführten Regierungen nicht und die Außenpolitiker der Demokraten auch nicht.“
  • Über US-Präsident Joe Biden und Chinas Staatspräsident Xi Jinping: „Wenn die beiden Staatsmänner wirklich weise wären, würden sie sagen: Wir zwei, wir sind die größte Bedrohung für die Zukunft der Menschheit (...) Ich kenne Joe Biden seit über vierzig Jahren, und seine politische Zukunft hängt davon ab, ob er eine Lösung im Umgang mit China findet oder sich jedenfalls darum bemüht. Xi ist dazu in der Lage, ja, er könnte es. Was nicht heißt, dass er es auch tun wird. Aber etwas muss geschehen, denn wenn sich die Krise weiter zuspitzt, geraten wir in eine Lage wie vor dem Ersten Weltkrieg, dann führt irgendein absurdes Ereignis unaufhaltsam zur Eskalation.“
  • Über die Zukunft: „Ich bin insofern optimistisch, als wir es mit lösbaren Problemen zu tun haben. Aber sie drängen sehr, und wir werden nicht mit ihnen fertigwerden, wenn wir Selbstmitleid zum Leitprinzip unserer Politik machen. Sollte sich, wovon ich ausgehe, die künstliche Intelligenz zu einem Dialog zwischen Maschinen und Menschen entwickeln, wird das alles ändern. Das Zeitalter der Aufklärung hatte mit ähnlichen Problemen zu tun, aber es dauerte dreihundert Jahre, bis Kant und Leibniz ihre philosophischen Konzepte entwickeln konnten. Wenn ich noch einmal hundert Jahre zu leben hätte, würde ich versuchen, solche Menschen zu finden.“


*Nixon und Kissinger weiteten die Bombenangriffe im Vietnamkrieg heftig aus; bombardierten Vietnams Nachbarland Kambodscha und spielten eine zwielichtige Rolle beim Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende.

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Danke für die Empfehlung dieses wichtigen Interviews.

    Soviel ich aber weiß bombardierte die USA nicht das Nachbarland Kambodscha sondern die illegalen nordvietnamesischen Militärbasen und Nachschubwege dort? Die von Nordvietnam gegen den Willen der Kambodschaner genutzt wurden um Südvietnam zu bekriegen. Im Interview nimmt er ja Stellung dazu:

    "ZEIT: Viele tun das. Manche Kritiker nennen Sie einen Kriegsverbrecher, etwa wegen Ihrer Rolle bei den Bombenangriffen auf Kambodscha während des Vietnamkrieges. Stört Sie das immer noch?

    Kissinger: Ja, aber vor allem sollte es die Medien-Leute stören ...

    ZEIT: Warum?

    Kissinger: Wie kann solche Propaganda ... (unterbricht sich) Ich will darüber nicht sprechen, ich muss mich nicht verteidigen. Und ich wäre sehr traurig, wenn dieses Gespräch mit dem Thema Kambodscha enden würde ...

    ZEIT: Wir haben noch andere Fragen ...

    Kissinger: Mich einen Kriegsverbrecher zu nennen war ein einfacher Weg, eine Debatte zu führen, ohne sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Deshalb habe ich diese Frage, diesen Vorwurf, generell nie beantwortet. Stört es mich? Ja, natürlich stört es mich.

    ZEIT: Wenn Sie heute auf den Krieg in Vietnam und die Angriffe auf Kambodscha zurückschauen, sehen Sie nichts, das Sie anders hätten machen sollen?

    Kissinger: Nennen Sie mir einen Guerillakrieg, in dem geduldet wurde, dass die Guerilla Stützpunkte unmittelbar hinter den Grenzen eines Nachbarlandes errichtet! Nennen Sie mir ein Beispiel! Unsere Luftangriffe haben kaum zivile Opfer gehabt, denn es lebten kaum Menschen in den Gegenden in Kambodscha, die wir angegriffen haben.

    ZEIT: Kambodscha war damals neutral. Sie halten es für legitim, ein neutrales Land anzugreifen?

    Kissinger: Ich halte es, abstrakt betrachtet, nicht für legitim, ein neutrales Land anzugreifen. Aber ich hielt und halte es für legitim, ein Land anzugreifen, auf dessen Territorium sich Militärbasen befanden, von denen aus Südvietnam und die dort stationierten US-Truppen dort angegriffen wurden. Das war die Lage, das ist alles gut dokumentiert."

    1. Theresa Bäuerlein
      Theresa Bäuerlein · vor mehr als ein Jahr

      Danke fürs Ergänzen! Ich habe die Info dem Kasten entnommen, welche die ZEIT zum Interview gestellt hat. Dort steht:

      Kissinger war von 1969 bis 1977 Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister unter Richard Nixon und Gerald Ford. Er trieb die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion und China voran, vermittelte im Nahen Osten. Es gab aber auch die dunklen Seiten seiner Amtszeit: Nixon und er weiteten die Bombenangriffe im Vietnamkrieg dramatisch aus, um die Regierung in Hanoi zum Nachgeben zu zwingen; sie bombardierten Vietnams Nachbarland Kambodscha und trugen damit zum Aufstieg der mörderischen Roten Khmer bei; und sie spielten eine zwielichtige Rolle beim Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende und der Errichtung der Pinochet-Diktatur.

      1973 erhielt Kissinger gemeinsam mit dem nordvietnamesischen Unterhändler Le Duc Tho den Friedensnobelpreis.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Theresa Bäuerlein Na ja, die Regierung in Hanoi weitete ihre Angriffe auf den Norden aus um Südvietnam und die USA zum Nachgeben zu zwingen. Sie besetzten Gebiete in Kambodscha und zogen damit das Land in den Krieg hinein. Und die Roten Khmer geführt durch die radikalsten Teile der Kommunistische Partei Kampucheas waren eine maoistisch-nationalistisch-rassistische Guerillabewegung. Sie wurden maßgeblich zunächst von China, den Vietcong und später von Thailand unterstützt. Richtete sich aber auch gegen die vietnamesischen Völker, mit denen es historisch ethnische Spannungen gab. Zwischen der national-kommunistischen Partei Ho Chi Min's und den Khmer gab es dann offene Feindschaft. Verdienstvoll aber nicht ganz uneigennützig war sicher 1978 der Einmarsch von Truppen des wiedervereinigten Vietnam, die das Pol-Pot-Regime stürzten und eine provietnamesische Regierung installierten. Was leider nicht das Ende der Kämpfe in und um Kambodscha war. Wobei der Westen sicher keine gute Rolle gespielt hat. Durchaus parallel zu China. Ist/war eine undurchsichtige Konstellation.

      Die Machtübernahme Pol Pots jetzt Kissinger zu zuschreiben erscheint mir kühn. War aber die Propaganda des Ostblocks im kalten Krieg. Es gibt eine ausführliche und sehr offene Autobiographie von Kissinger. Ich kann nur empfehlen, zumindest die Kapitel zu Vietnam, mal zu lesen. Leider haben wir von Le Duc Tho nichts vergleichbares. Von dem Kissinger übrigens voller Respekt spricht.

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