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Zeit und Geschichte

Der Realist John Mearsheimer und seine Sicht auf die Ukrainepolitik

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerSonntag, 12.05.2024

Jemanden als Realisten zu bezeichnen, wie ich das gerade in der Überschrift getan habe, mag erst einmal wie ein großes Lob klingen. Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt Realismus ja schließlich so viel wie einen klaren Blick auf die Wirklichkeit zu haben und sich eben keinen Illusionen hinzugeben.

Es geht hier jedoch um die politische Denkschule des Realismus und da zählt John Mearsheimer zu den großen Theoretikern. Laut dieser Denkschule leben wir weiterhin in einer Welt, in der alle Staaten ums Überleben kämpfen. Und es sind vor allem die Großmächte, die das Geschehen auf dem Planeten bestimmen, was ja nicht so ganz falsch ist.

Neben dem Realismus gibt es viele andere Ansätze, um die internationale Politik zu erklären: liberale und konstruktivistische Theorien, Interdependenz- und Gleichgewichtstheorien und und und. Je nachdem, worum es genau geht, haben alle ihre Berechtigung, aber das Verführerische am Realismus ist, dass er eine ganze Menge erklären kann, wie auch dieses einstündige Interview zeigt.

Das Gespräch mit Mearsheimer will ich nicht rundweg empfehlen, weil er sich gerade im Falle der Ukraine mehr von seiner Theorie als von der Wirklichkeit leiten lässt, wobei es erstaunlich ist, welche Meinungen er im Hinblick auf die Ukraine schon so alles vertreten hat. In den 90er-Jahren war er etwa dagegen, dass das Land die Atomwaffen abgibt. Hätte es auch mal besser nicht tun sollen.

Insgesamt ist das Gespräch eine gute Einführung in die realistische Schule, zumal einzelne Argumente auch hierzulande aufgegriffen werden, jedenfalls erinnert manches an Sahra Wagenknecht.

Der Realist John Mearsheimer und seine Sicht auf die Ukrainepolitik

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Kommentare 7
  1. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor 7 Monaten

    wahnsinnig spannend...danke.

    Detjens Kommentar am Anfang, dass an einer Stelle die eigenen factchecker Mearsheimer widerlegt haben, bezieht sich auf die Aussage, dass der Westen die Friedensverhandlungen torpediert hat oder?

    Mein Highlight: dieser Mann sagt, dass er Sanders unterstützt hat, weil es Initiative für innenpolitische Infrastrukturen braucht!

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 7 Monaten

      Ja, das mit Sanders ist spannend; worauf sich Detjens Anmerkung bezieht, ist mir nicht ganz klar, vermutlich auch auf Putins geschichtspolitische Schrift, in der er nämlich sehr wohl imperialistische Ansprüche formuliert.

    2. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 7 Monaten

      @Dirk Liesemer ja du hast recht... das wirds sein.

    3. Detjen Stephan
      Detjen Stephan · vor 7 Monaten

      Danke für Feedback und Anmerkungen. Mein Hinweis bezog sich auf Mearsheimers Behauptung, die Verhandlungen im Frühjahr 2022 seien auf Druck der westlichen Partner, v.a. UK, abgebrochen worden. Dazu gab es die erwähnte DLF Hintergrundsendung meiner Kollegin Gesine Dornblüth https://www.deutschlan...
      Interessant dazu auch zuletzt in Foreign Affairs https://www.foreignaff...

      Das Mearsheimer Gespräch stand im Zusammenhang einer dreiteiligen Reihe "Die Umordnung der Welt". Ich empfehle auch die anderen beiden Folgen mit Souleymane Bachir Diagne und Max Boot

      https://www.deutschlan...

      https://www.deutschlan...

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 7 Monaten · bearbeitet vor 7 Monaten

      @Detjen Stephan Die These, dass der Westen angeblich Friedensverhandlungen verhinderte, wurde bereits in Achim Engelbergs Unpiq ausführlich besprochen und widerlegt: https://forum.eu/zeitg...
      Auch auf den aktuellen Artikel von Foreign Affairs habe ich dort in einem Kommentar hingewiesen.

      Auf John Mearsheimer bin ich erstmalig im Juni 2022 in einem FAZ- Gastbeitrag von Johannes Varwick gestoßen (Lehrstuhl Internationale Beziehungen und europäische Politik Uni Halle-Wittenberg; https://www.faz.net/ak...). Varwicks Sicht würde ich eher als primitiven Realismus bezeichnen, doch erhielt er oft Medienpräsenz im ÖRR, beklagte im Artikel, dass Mearsheimer kein Forum in Berlin bekommen hätte. So hörte ich einen längeren Vortrag auf YouTube und konnte Mearsheimer – unter den Eindrücken des noch jungen heißen Krieges in der Ukraine – kaum ertragen.

      Im Interview widerspricht sich Mearsheimer ja selbst, wenn er sagt, dass die Ukraine mit ihren NATO-Ambitionen am Ende einen dysfunktionalen Staat bekäme. Dann schlägt er Verhandlungen und Gebietsabtretungen vor, die genau dies zur Folge hätten – Verlust eines bedeutenden Teils der Schwerindustrie usw. Ganz zu schweigen von nicht kalkulierbaren Zukunftsrisiken. Auch die Einlassung, Putin hätte nie die Absicht gehabt, die Ukraine mit 190.000 Mann zu annektieren – Putin handelte rational aus reinem Kosten-Nutzen-Denken mit dem Ziel, die Staatsmacht zu stürzen. Er hat sich verschätzt.

      Vieles an Mearsheimers Theorie ist bittere Realität.
      Eine vielschichtige und ausgewogenere Sicht liefert Carlo Masala in seinem im Januar erschienenen Essay „Warum die Welt keinen Frieden findet“.
      Masala erklärt - allgemeinverständlich und mit vielen Querverweisen auf die wissenschaftliche Standardliteratur - die Ursachen von Konflikten und Kriegen, Lösungsansätze zur Eindämmung der Kriegsgefahr, aber auch, dass wir wieder lernen müssen, mit Kriegen umzugehen. https://www.brandstaet...

      Was mir auch bei Masala fehlt (er ist Politikwissenschaftler), sind ökonomische Zusammenhänge. Zwar erwähnt er kurz, dass noch nie ein Krieg von einem militärisch-industriellen Komplex losgetreten wurde. Logisch, es braucht die Rückendeckung einer (funktionierenden) Staatsmacht. Die aber wiederum von wirtschaftsmächtigen Akteuren beeinflusst wird.
      Wenn wir an Verteidigung denken, dann kommt es auf das Zusammenspiel von Armeen und Technik an. Letztere wird privatwirtschaftlich produziert, mit allen Profiten, aber auch Risiken - hieraus Inflexibilität, Konkurrenzdenken, der Staat scheint manchmal als Bittsteller dazustehen. Wenn die EU in Sachen Verteidigungsbereitschaft punkten will, wäre eine gebündelte (will nicht sagen „geballte“) Aktion nötig – mit dem besten verfügbaren Know-how und hoher Kosteneffizienz.
      Airbus als Blaupause? Eine Mammutaufgabe.

    5. Martin Krohs
      Martin Krohs · vor 7 Monaten

      Ich finde es eher erstaunlich, dass über zwei Jahre nach Beginn dieses Krieges (und X Jahre nach dem seiner Vorgeschichte) überhaupt noch eine Einführung in die Denkschulen der Internationalen Beziehungen / Internationalen Politik nötig ist. Man kann diesen Krieg überhaupt nicht beurteilen, ohne sich über die jeweiligen Prämissen und Axiome zumindest von Liberalismus und Realismus im Klaren zu sein. Und auch über deren geschichtliche Entstehung, den Zusammenhang mit dem Völkerbund, Wilsons 14-Punkte-Plan (Liberalismus) und mit der Zwischenkriegszeit, Marxismus, Machttheorien (might makes right) etc. (Realismus).

      Insbesondere die deutsche Diskussion ist so tief eingebettet in einen stillschweigenden und extrem simplifizierten Liberalismus (der sich ebenfalls, nur mit anderen Vorzeichen, mehr von der Theorie als von der Wirklichkeit leiten lässt), dass sie Legitimität und analytische Notwendigkeit anderer Ansätze gar nicht mehr sieht bzw. in ihnen einen inneren Feind vermutet. Mearsheimer ist natürlich ein eher extremer Kandidat, aber in der USA-Diskussion ist Stephen Walt eine wichtige Stimme, im deutschsprachigen Bereich Gerhard Mangott oder, mit stärker soziologischem Dreh, auch Roland Czada. Auch Masala ist im Grunde Realist, nur zieht der die umgekehrten Schlussfolgerungen aus diesem Ansatz im Vergleich zu Mearsheimer. Wie übrigens auch Paul Poast, ein junger Prof aus Chicago, der tolle Twitter-Threads dazu macht.

      Ich finde es entmutigend, wie spät und wie selten (insofern einen Dank für diesen Pick und die dahinterstehende Sendung) überhaupt diese politischen Grundansätze thematisiert werden. Der Normalfall ist leider, nach meiner Wahrnehmung, dass man gleich mal urteilend den Massstab anlegt, ohne sich überhaupt zu fragen, was man da für ein Lineal in der Hand hat. Aber gerade darüber müsste man Bescheid wissen. Um dann mit grosser Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass sie beide auf ihre je eigene Weise krumm, zu kurz etc. sind, und dass die Situation noch viel herausfordernder ist, als man das sowieso schon meint.

    6. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 7 Monaten

      Im Sinne meiner vorangegangenen Antwort äußert sich der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger auf der European Economic Conference der FAZ:

      „Oettinger zeigte sich skeptisch, was die Ernennung eines Verteidigungskommissars angeht, solange es keine europäische Armee gibt. Er regte stattdessen an, die Funktion eines Rüstungskommissars zu schaffen, um die Verteidigungsindustrie in Europa effizient zu entwickeln. „Er muss aus 16 Panzertypen zwei machen.“ Ein Euro müsse gleich viel an Verteidigungskraft bringen wie ein Dollar in Amerika. Gemeinsame Waffengattungen oder ein gemeinsamer Vorrat an Munition schafften Synergieeffekte auf europäischer Ebene.“

      Oettinger kritisierte, dass europapolitische Reformvorstöße von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederholt ignoriert wurden – nahezu keine Reaktionen von Angela Merkel bzw. Olaf Scholz. „Berlin werde damit seiner Verantwortung in keiner Weise gerecht.“

      https://www.faz.net/ak...

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