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Europa

Der Angriff auf Rechtsstaat und Demokratie im Namen des Volkes

Jürgen Klute
Theologe, Publizist und Politiker
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Jürgen KluteMontag, 24.06.2024

Der niederländische Schriftsteller Ilja Leonard Pfeijffer erklärt in dieser Kolumne an einem Beispiel aus dem antiken Athen, wie Populisten den Rechtsstaat – und damit die Demokratie – bedrohen und aushebeln. Und er zeigt damit zugleich den Punkt auf, an dem eine Verteidigung und Stärkung der Demokratie ansetzen muss. Die Kolumne erschien ursprünglich am 8. Juni 2024 unter dem Titel „Hoe een zeeslag in het jaar 406 voor Christus ons iets vertelt over de kwetsbaarheid van rechtsstaten“ in der niederländischsprachigen belgischen Zeitung „De Morgen“. Die Veröffentlichung der folgenden deutschsprachigen Übersetzung der Kolumne erfolgt mit Zustimmung des Autors. 

Und hier noch ein Hinweis: "Alkibiades" ist Ilja Pfeijffers neuester Roman über den schönsten Mann Griechenlands und den Untergang der athenischen Demokratie. Das Buch war ein Bestseller in den Niederlanden und Belgien und erscheint 2025 auf Deutsch im Piper Verlag.

Was eine Seeschlacht im Jahr 406 v. Chr. über die Fragilität des Rechtsstaates erzählt

Eine Wiederwahl Donald Trumps stellt eine Bedrohung für den Rechtsstaat dar, da er ein Volksmandat als Sieg über das Rechtssystem betrachten könnte, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Die populistische Idee, den Willen des Volkes über das Gesetz zu stellen, droht auch in Europa den demokratischen Rechtsstaat zu untergraben.

Ilja Leonard Pfeijffer | 8. Juni 2024

Am Donnerstag, den 30. Mai, wurde Donald Trump von den Geschworenen eines New Yorker Gerichts in allen 34 Anklagepunkte wegen Betrugs im Zusammenhang mit der Zahlung von Schweigegeld an die Pornodarstellerin Stephanie A. Gregory Clifford, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Stormy Daniels, mit der er im Jahr 2006 eine Affäre hatte, für schuldig befunden.

Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt wurde, aber noch wichtiger ist, dass es das erste Mal in der Geschichte sein wird, dass ein verurteilter Straftäter für die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika kandidiert, und wenn man sich die aktuellen Umfragen ansieht, hat er eine sehr reale Chance, tatsächlich gewählt zu werden.

Außerdem ist dieser Prozess, in dem er nun verurteilt wurde, nicht das einzige Verfahren, in dem er sich zu verantworten hat. Trotz der pikanten Verbindung zur schillernden Pornowelt war dies der kleinste und unbedeutendste Prozess von allen. Gegen ihn läuft noch ein weiteres Bundesstrafverfahren wegen des Verdachts der unrechtmäßigen Aneignung vertraulicher Dokumente, die er zudem an Unbefugte weitergegeben haben soll, sowie ein Bundesstrafverfahren, in dem ihm vorgeworfen wird, zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 aufgerufen zu haben, ein Bundesverfahren wegen angeblicher Beeinflussung der Wahlergebnisse 2020 im Bundesstaat Georgia und ein Zivilverfahren im Bundesstaat New York wegen Immobilienbetrugs.

Eiserne Logik

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass diese weiteren Verfahren noch vor den Präsidentschaftswahlen abgeschlossen werden, wird die Wiederwahl von Donald Trump, falls sie im November zustande kommt, unweigerlich im Lichte dieser Gerichtsverfahren interpretiert werden, und zwar insbesondere von ihm selbst. Es ist nicht undenkbar im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich, dass er seinen Wahlsieg als einen Sieg über das Rechtssystem begreifen und darstellen wird.

Bereits am 30. November 2023 veröffentlichte die Washington Post einen beunruhigenden Longread des Analysten Robert Kagan zu diesem Szenario, in dem er die eiserne Logik ausführlich darlegt, der zufolge dies zu einer Diktatur in den Vereinigten Staaten führen könnte. Denn wenn Trump trotz oder gerade wegen seiner juristischen Probleme ein demokratisches Mandat gewinnt, kann er sagen, dass das souveräne amerikanische Volk die nicht demokratisch gewählten Richter überstimmt hat, weshalb er dann keinen Grund mehr hat, sich an das Gesetz zu halten.

Wenn er seinen Wahlsieg als Sieg über den Rechtsstaat ausgibt, dann kann er alle Gesetze ignorieren, die ihn behindern, einschließlich des in der Verfassung verankerten Prinzips, dass er maximal zwei Amtszeiten als Präsident absolvieren kann. Wenn dies geschieht, dann werden die Wahlen im November die vorerst letzten in Amerika sein.

Man könnte argumentieren, dass der derzeitige Urnengang [die Europawahlen vom 9. Juni 2024] sogar noch wichtiger ist als die US-Präsidentschaftswahlen. Gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten ist dies sicherlich der Fall. Mit 361 Millionen Wahlberechtigten in 27 Mitgliedsstaaten sind die Wahlen zum Europäischen Parlament nach Indien die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt. Während die Amerikaner im November den Oberbefehlshaber der mächtigsten Armee der Welt wählen, wählen wir derzeit die Abgeordneten für das Soft-Power-Bollwerk, das Europa sein könnte.

Der italienische Journalist und Schriftsteller Federico Rampini beschrieb die Europäische Union als eine "pflanzenfressende Supermacht", die von Fleischfressern umgeben ist. Auch wenn wir Gefahr laufen, dass dieses Epitheton durch die aggressive Lobby der Agrarindustrie auf eine andere Art und Weise zutrifft als Rampini es meinte, ist es eine treffende Metapher für die wünschenswerte Rolle Europas in der Welt.

Angsthaserei

Der Einsatz, um den es geht, ist bei beiden Wahlen vergleichbar. Auch in Europa wird der demokratische Rechtsstaat durch den immer stärkeren Zulauf zu politischen Kräften in Frage gestellt, die in den Institutionen eher ein Hindernis als einen Schutz sehen. Vertreter dieses auktorialen Populismus sind auf nationaler Ebene in mehreren europäischen Ländern an die Macht gekommen, wie zum Beispiel Viktor Orbán in Ungarn, Robert Fico in der Slowakei, Giorgia Meloni in Italien und Geert Wilders in den Niederlanden. Nach diesem Wochenende [8./9. Juni 2024; am 9. Juni fanden in Belgien auch die föderalen und regionalen Wahlen statt] wird sich wahrscheinlich auch Belgien in die traurige Liste der Länder einreihen können, in denen die Rechtsextremen die größte Partei stellen. In Schweden sind die Populisten Teil der Regierungskoalition. In Österreich, Frankreich, Deutschland, Spanien und Portugal sind sie ein zunehmend bedeutender Machtfaktor.

Bei den derzeit stattfindenden Europawahlen geht es nicht darum, ob die Rechtspopulisten gewinnen, sondern darum, ob sie genug gewinnen, um den politischen Kurs der Europäischen Union weitreichend zu beeinflussen. Sie werden keine Mehrheit im Europäischen Parlament gewinnen, das ist nicht zu befürchten, und sie werden auch nicht als größte politische Bewegung aus diesen Wahlen hervorgehen. Doch nach den Mechanismen, die wir in mehreren europäischen Mitgliedstaaten beobachtet haben, brauchen sie auch keine Mehrheit, um einflussreich zu sein, weil die etablierten politischen Parteien deren Positionen schlicht aus der Angst vor der Wählerschaft übernehmen. Wir beobachten dies bereits in Europa am Beispiel der Abschwächung des Green Deal und der Verschärfung der Maßnahmen gegen Migration.

Nach seiner Wiederwahl kann Trump behaupten, dass das souveräne amerikanische Volk die nicht-demokratisch gewählten Richter überstimmt hat

Was den Einfluss des Rechtspopulismus nach dieser Wahl noch verstärken könnte, ist die Tatsache, dass Ursula von der Leyen darauf hofft, als Präsidentin der Europäischen Kommission wiedergewählt zu werden, und dass sie dazu wahrscheinlich die Stimmen eines der rechtsextremen Blöcke benötigen wird. Sie liebäugelt bereits mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR), zu der auch die N-VA [Nieuwe-Vlaamse Alternatief = Neu-Flämische Alternative; eine nationalistische Partei im flämischen Teil Belgiens] und Melonis Partei Fratelli d'Italia [Italienische Brüder] gehören, während sie die Fraktion Identität und Demokratie (ID), zu der unter anderem der Vlaams Belang [Flämischer Bund; faschistische Partei im flämischen Teil Belgiens], das Rassemblement National [Nationale Versammlung, früher: Front National; faschistische Partei in Frankreich] und die Lega [= Liga; faschistische Partei in Italien] von Matteo Salvini gehören, vorerst ausschließt. Für sie ist das entscheidende Merkmal von "Salonfähigkeit" die bedingungslose Unterstützung der Ukraine und nicht der Respekt vor den Institutionen des demokratischen Rechtsstaates.

'Schande!'

Im Juli des Jahres 406 v. Chr. fand vor der Küste der Aiolis in der Nähe der Inselgruppe Arginousai, dem heutigen Makronisi, eine Seeschlacht zwischen der athenischen Flotte und der Flotte von Sparta statt. Obwohl die Athener eine unterlegene Ausgangsposition hatten, gelang es ihnen dank einer klugen Strategie ihrer Admiräle, die Schlacht zu gewinnen. Es war ein Wunder, das den Fall Athens vorerst abgewendet hatte.

Am Tag nach der Seeschlacht brach ein Sturm los, der die Athener daran hinderte, die Ertrinkenden zu retten und die Toten zu bergen. Als die siegreiche Flotte nach Athen zurückkehrte, wurden die Befehlshaber nicht als Helden begrüßt, sondern der Nachlässigkeit bezichtigt. Anstelle von Jubel, Erleichterung und Danksagungen wegen des spektakulären Sieges und der Rettung Athens herrschten in der Stadt Trauer, Wut und Schuldzuweisungen wegen der Ertrunkenen, die nicht gerettet, und der Toten, die nicht geborgen werden konnten.

Während einer emotionalen Sitzung der Bürgerversammlung, die von Angehörigen in Trauerkleidung dominiert wurde, geriet die offensichtliche Wahrheit – dass ein Sturm eine Rettungsaktion unmöglich gemacht hatte – immer mehr aus dem Blickfeld. Im Strudel der aufgepeitschten Emotionen und Unterstellungen verlor die einfache Tatsache, die alles erklärte, einfach an Gewicht, da die Menge mittlerweile weniger an einer Klärung als an einer Verurteilung interessiert war. Die Empörung, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte, verlangte nach einem Sündenbock und konnte nicht mehr mit einer nüchternen Fakten abgewehrt werden.

Der Populist Kleophon inszenierte sich mit großem Eifer als Sprachrohr der allgemeinen Empörung. Er verlangte die Todesstrafe für die Generäle und forderte die Bürger auf, unverzüglich darüber abzustimmen. Natürlich erhoben sich daraufhin einige Männer und machten verfahrensrechtliche Einwände geltend. Sie wiesen darauf hin, dass die Volksversammlung nicht befugt sei, die Generäle zu verurteilen, da dies nach athenischem Recht allein in die Zuständigkeit des Gerichts falle.

Daraufhin brach Kleophon in Wut aus. "Verrückter kann es nicht mehr werden", rief er. "Athen ist eine Demokratie. In einer Demokratie trifft das Volk die Entscheidungen, ob es den elitären Sophisten und anderen unmoralischen Schwätzern gefällt oder nicht. Es wäre lächerlich, wenn das Volk durch Regeln daran gehindert würde, das zu tun, was es will. Es ist eine Schande, dem Volk das Recht zu verweigern, sich selbst zu verwirklichen, indem man sich auf Institutionen beruft, die von den Eliten erfunden wurden, um das Volk klein zu halten."

Die Abstimmung fand statt und die Admirale wurden zum Tode verurteilt. Ein Jahr später verlor Athen den Krieg an den Ziegenflüssen.

Silvio Berlusconi

Obwohl die Umstände damals extremer waren und der Umfang der demokratischen Beschlussfassung weitreichender war, als wir es heute gewohnt sind, kennen wir Kleophons Argument nur allzu gut. Es ist die Argumentation, die Silvio Berlusconi, der den Populismus wiederentdeckte, lange bevor er in der westlichen Welt zur Normalität wurde, bis zum Überdruss wiederholte, um seine zahlreichen Gerichtsverfahren zu entkräften: Er war gewählt und hatte das Mandat des Volkes, das den Richtern offensichtlich fehlte. Woher nahmen sie also die Dreistigkeit, ihn, der den Willen des Volkes verkörperte, mit ihren kleinen Regeln zu torpedieren?

Das war die Argumentation von Jarosław Kaczyński und seiner PiS-Partei, mit der er den polnischen Rechtsstaat unter staatliche Kontrolle brachte, als er an der Spitze dieser Regierung stand. Es ist die Argumentation von Geert Wilders, der den Prozess, in dem er wegen Beleidigung einer Bevölkerungsgruppe verurteilt wurde, als politischen Prozess abtat und die Richter, die ihn schuldig sprachen, als "D66-Richter" bezeichnete [D66 = Democraten 66 = eine linksliberale Partei in den Niederlanden, Die 1966 gegründet wurde, um das etablierte Parteiensystem aufzubrechen]. Es ist die Argumentation, die alle Populisten verfolgen, sobald sie auf die Grenzen des Rechtsstaates stoßen.

Populismus ist per definitionem eine Bedrohung für den Rechtsstaat, denn Populisten behaupten, ein Sprachrohr des gesunden Volkswillens zu sein, so wie manche früher glaubten, als Gott noch existierte, sie hätten einen direkten Draht zu Seinem allmächtigen Willen. Das ist das Wesen des Populismus, und mit dieser Auffassung wird der Rechtsstaat zu einem lästigen Überbleibsel aus Zeiten, in denen die Elite das Volk ignorierte. Diese Grundhaltung ist noch gefährlicher als all das extremistische Gerede über Migranten, Homosexuelle und Transgender. Unser Rechtsstaat steht auf dem Spiel und mit ihm unsere Demokratie und Freiheit.

Der Angriff auf Rechtsstaat und Demokratie im Namen des Volkes
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Kommentare 24
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

    Man sieht, das Volk stört eigentlich nur. Der Rechtsstaat sollte sich ein neues wählen. All dieses Gerede von Problemen, die es gar nicht gibt - Migration oder so. Lassen wir einfach die Richter regieren ….

    Ich finde diese abrupte Gegenüberstellung von Mehrheiten und „Rechtsstaat" gefährlich und selbst auch populistisch. Richter haben genauso wenig einen direkten Draht zur Wahrheit wie "das Volk". Richter sind Menschen mit Weltanschauungen und Fehlern. Man muß schon genau überlegen, welche Macht man in ihre Hände legt. "Unser Rechtsstaat" ist in seiner aktuellen Balance nicht die einzig mögliche Demokratieform und er wird nicht die letzte sein. Alles fließt …. Das Problem ist also nicht mehr oder weniger "Rechtsstaat" sondern die verbreitete Wut großer Teile des Volkes über die jeweils aktuelle Politiken/Politiker - berechtigt oder nicht. Man könnte sagen der Souverän, das Volk ist selbst per Definition eine Gefahr für die Demokratie. Da kommt Demokratie nicht raus. Da schützt letztendlich kein Rechtsstaat sondern nur eine bessere Politik und ein klügeres Volk mit ebenso klugen Eliten in allen Institutionen.

    1. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      Eine Demokratie ist nur dann eine Demokratie, wenn sie die auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte die Macht einer Mehrheit zum Schutz von Minderheiten begrenzt. Wird das Prinzip nicht Respektiert, dann kippt eine Demokratie zur Autokratie. Eine noch so große Wut über eine Regierung rechtfertigt nicht die Aufhebung der allgemeinen Menschenrechte und die Limitierung der Macht der Mehrheit. Als Deutscher sollte man das nach den Nürnberger Rassengesetzen wissen und die auf internationaler Ebene daraus gezogenen vorbehaltlos respektieren und verteidigen. Gerade als Nachkomme der Tätergesellschaft sollte man darüber keine Diskussion anfachen. Oder man will sich sehr bewusst selbst in eine politische Ecke stellen, für die es in der Bundesrepublik keinen Platz mehr gibt.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Das ist aber eine sehr enge Definition. Und das eine andere Balance zw. Befugnissen und Institutionen, zwischen Parlament und Gerichten, die Menschenrechte gefährden, ist eine Unterstellung, um die jetzige konkrete Machtkonstellation zu konservieren oder auszubauen.

      Allgemeine Menschenrechte sind, wie der Name schon sagt, sehr allgemein. Und bei ihrer Auslegung hat das Volk ein gewichtiges Wort mit zureden. Man kann das nicht irgendwelchen selbst ernannten Eliten überlassen. Die dann mit dem allgemeinen Text der Menschenrechte in der Hand versuchen die Demokratien nach ihren Vorstellungen und Interessen zu gestalten. Um immer mehr Minderheiten vor einer Mehrheit zu schützen?? Das wird schnell selbst eine Autokratie oder schlimmer.

      Die Drohung, das es da Ecken gibt, in die man sich als Deutscher lieber nicht stellen sollte, die Unterscheidung in Tätervölker, Tätergesellschaft und andere, mein lieber Mann, das erinnert mich an die schlimmsten Zeiten des 20 Jh.. Und das von einem glühenden Anhänger der Menschenrechte? Diese nicht sehr subtile Drohung, wer anders denkt als man selbst, der gehört nicht dazu, der kennt angeblich die Geschichte, die Nürnberger Gesetze, nicht - das gehört m.E. nicht in eine Demokratie. Auf dieser Basis kann es zwischen uns keinen Diskurs geben. ….

      Was das gerade breit diskutierte Ursprungsproblem - das Verhältnis von Rechtsprechung und Parlamenten - betrifft, empfehle ich Philip Manow: "Unter Beobachtung Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde" Oder hier in der ZEIT:

      https://www.zeit.de/20...

      Sein Schluß klingt nicht sehr optimistisch:
      "Manow: Meine ketzerische These lautet: Der Populismus ist nicht der Gegner des Liberalismus, sondern sein Gespenst. Er ist ein Produkt einer liberalen Demokratie, die sich überdehnt hat, insbesondere in den 1990er-Jahren, und sich dabei sukzessive entdemokratisiert hat. Womit wir uns heute konfrontiert sehen, sind die Verwerfungen, die aus der in den Neunzigerjahren auf die Bahn gesetzten Dekonsolidierung des Nationalstaats resultieren. Massive Delegation politischer Entscheidungen an supranationale, nicht demokratische Organisationen, extreme Stärkung von Gerichten gegenüber Parlamenten, insbesondere in Europa, Verlust politischer Handlungsmacht in zentralen Politikbereichen.

      ZEIT: Und was folgt daraus?

      Manow: In erster Linie: Melancholie. In zweiter Linie: mehr Politik, mehr demokratische Politik, weniger Konstitutionalismus, weniger Bedeutung von Gerichten und mehr Bedeutung von Parlamenten. Mehr Bereiche, über die wir in Wahlen abstimmen können. Dass das kommt, dass überhaupt die Einsicht kommt, dass die liberale Demokratie selbst problematisch geworden ist – da habe ich wenig Hoffnung. Das ist zu eng verdrahtet mit den moralischen Selbstgewissheiten, mit denen sehr viele ganz intensiv gefühlt durch die Welt laufen, insbesondere in Deutschland. Also doch nur Melancholie."

      Im Buch zitiert er:
      "Das Wort »Populismus« hatte ein ironisches Schicksal: Es wurde populär. Taguieff 1995, S. 9"

    3. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Das ist keine enge Definition von Demokratie, sondern die Grundlage jeder Demokratie, wie sie in den relevanten internationalen Rechtstexten und in demokratischen Verfassungen festgelegt ist. Und natürlich auch in den Grundlagentexten der Europäischen Union, Eu- Socialcharta, Europäische Menschenrechtskonvention und ebenso im Grundgesetz (u.a
      Art. 1). Da gibt es keine nennenswerten Definitionsspielräume.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Da leben wir wohl in sehr verschiedenen Welten. Und wenn es im Grundgesetz gerade bei Art. 1 keine nennenswerten Definitionsspielräume gibt, dann können wir ja alle Gerichte und insbesondere alle Verfassungsgerichte abschaffen. Worüber streiten wir dann hier?

    5. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Keine Ahnung, was an dieser Definition eng sein soll. Hier die beiden zentralen Artikel des GG:

      Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
      Art 1
      (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
      (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
      (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

      Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
      Art 3
      (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
      (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
      (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

      Das sind eindeutige Rechtsnormen ohne Spielräume zum Schutz von gesellschaftlichen Gruppen und Minderheiten vor übergriffigen und terrorisierenden von Mehrheiten. Sie sind konstituierend für eine Demokratie, um das Prinzip, dass Gesetze nur durch eine parlamentarische Mehrheit legitimiert werden können, vor Missbrauch durch eine parlamentarische Mehrheit zu schützen, damit sich so etwas wie die Nürnberger Rassengesetze nicht wiederholen. Das gehört zum kleinen 1 x 1 demokratischer Bildung und wird nur von rechtsextremer Seite zur Diskussion gestellt.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Mir sind diese Artikel sehr wohl bewußt. Aber wie das mit Texten so ist - entscheidend.ist immer wie man sie interpretiert.

      Und erstens geht es nicht darum, dass Gesetze "nur" durch eine parlamentarische Mehrheit erlassen werden. Die Frage ist die nach einer Balance zw. Recht und Parlament.

      Zweitens ist da überhaupt nichts eindeutig, sondern es sind erst mal sehr allgemeine Absichtserklärungen. Mit erheblichen Spielräumen was wann und in welchem Kontext gemeint ist, was man darunter versteht. Mir als Philosoph ist das eigentlich klar. Ich dachte auch als Pfarrer lernt man, das Texte sehr unterschiedlich ausgelegt werden können. Der Streit um die Kanonisierung der Bibel usw. zeigt ja auch wie schwer es ist, sich auf Interpretationen zu einigen

      Genau deswegen gibt es ja Verfassungsgerichte etc.. Die entscheiden, was z.B. wann übergriffig ist, was nicht. Das ganze geschieht in einem historischen Prozess dessen Ergebnisse immer wieder zu überprüfen sind.

      Man muß diesen Prozess auch nicht nur vor einer parlamentarischen Mehrheit schützen, sondern genau so vor aktivistischen hegemonialen Minderheiten, die meinen die Interpretationshoheit über diese allgemeinen Sätze der Erklärungen zu haben und als "Zivilgesellschaft" das Volk zu vertreten. Und die sitzen oft eher bei den extremen Linken. Die das "nie wieder" nur auf die Nürnberger Rassengesetze beziehen. Aber Stalin, Mao oder Pol Pot etc. völlig vergessen. Links und Rechts sind beide auf dem anderen Auge blind.
      Und auch die Verfassungsorgane sind letztendlich Minderheiten mit eigenen Interessen und Weltbildern. Darum geht ja der Kampf - wer bestimmt diese Organe und wieviel Macht sollen sie bekommen. Es gibt in der Geschichte keine wirklichen Sicherheiten …..

    7. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Sorry, dass sind keine Absichtserklärung, sondern geltendes Recht.

      Zweitens geht es beim Schutz von Minderheiten exakt darum, dass die Rechtszeitungskompetender Mehrheit eines Parlaments bzw. Ein unterstellter Volkswille begrenzt wird, um einen rechtsstaatlichen Schutzmechanismus einzuführen, der verhindert, dass es noch einmal zu so etwas wie den Nürnberger Rassengesetze kommt.

      Das ist der historische Hintergrund für die Verabschiedung der UN-Menschenrechtscharta 1948 und aller weiteren internationalen und nationalen Regelungen zum Schutz von Minderheiten. Erst durch diesen Minderheitenschutz wird eine Gesellschaft zu einer demokratischen Gesellschaft.

      Genau das stellen Rechtsextreme derzeit verstärkt in Frage, um Demokratien auszuhöhlen und zu Fall zu bringen.

      Und genau deshalb bedeutet Verteidigung der Demokratie zu allererst, diese Relativierung von Menschenrechten und Minderheitenschutz ohne Wenn und Aber zurückzuweisen und abzuwehren. Gelingt das nicht, dann stirbt die Demokratie.

      Genau hier verläuft die Grenze zwischen Demokraten und Rechtsextremen.

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Aber wer hier streitet generell gegen den Schutz von Minderheiten? Wir sind uns doch wohl einig, das Extreme diesen Schutz nicht unbegrenzt genießen dürfen und das entschieden werden muß in welchem Kontext jemand als Extremer gilt? Ja, es muß einen adäquaten rechtsstaatlichen Schutzmechanismus geben. Um dessen Ausgestaltung aber geht es. Der kann nicht unbegrenzt, nicht absolut sein und muß vom Volk mit getragen werden. Ja, und man darf ihn nicht linken, rechten, religiösen und sonstigen Extremisten überlassen. Das sind übrigens auch alles Minderheiten. Es gibt da keine einfachen Lösungen und leider können auch formal rechtsstaatliche Schutzmechanismen politisch mißbraucht werden. Man kann sie z.B. gegen politische/ideologische Gegner einsetzen, wenn man z.B. die Definitionsmacht hat, jemanden als zu verbietenden Extremisten zu klassifizieren.

    9. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Nur mal so als kleiner Hinweis: Regierungen kontrollieren und steuern die Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols.

      Aktivist: innen haben lediglich Worte und Argumente, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Sie können somit politische Verbesserungen ihrer Situation einfordern. Aber sie verfügen nicht über die Instrumente, sie auch durchzusetzen. Das können nur Parlamente und Regierungen.

      Das ist ein grundlegender Unterschied in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Das sind aber alles keine neuen Einsichten, sonder Einsichten, die zu den Grundlagen der Konfliktforschung gehören.

    10. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Genau, Regierungen kommen und gehen und steuern die Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols nach ihren Vorstellungen und meist/hoffentlich im Rahmen der von ihnen ausgelegten Verfassungen. Und auch Aktivisten gelangen in Institutionen, Parteien, in Medien, in die Wirtschaft, haben somit alle möglichen Instrumente ihre Vorstellungen durchzusetzen, Macht zu handhaben, zu erlangen. Nicht nur durch den berühmten Gang durch die Institutionen oder über die kulturelle Hegemonie. Ein Blick in die Geschichte reicht, um die Strategien zu erkennen. Es gibt keine "Brandmauern" oder Ähnliches zwischen Aktivisten und Regierungen, Machtorganen oder was immer. Gesellschaften und menschliche Bestrebungen sind nicht sauber geordnet nach Denkschubladen oder so.

    11. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Als letzten kleinen Hinweis: Regierungen steuern in einem Rechtsstaat, der auf der Gewaltenteilung basiert, nicht die Institutionen des Gewaltmonopols nach ihren Vorstellen. Das würden sie oft gerne. Aber dann muss man zuvor die Gewaltenteilung aufheben, wie es in Polen und mehr noch in Ungarn durch die entsprechenden Figuren passiert ist.

      Regierungen werden durch einen Amtseid auf den Rechtsstaat verpflichtet und damit auf Verfassung/GG (nach Art. 1 GG einschließlich internationalem Menschenrechtskodex) und Gewaltenteilung. Den Vorstellungen einer Regierung werden damit deutliche Grenzen gesetzt durch Verfassung/GG und geltendes Recht. Das gilt auch für die Rechtssetzung eines Parlaments und einer Regierung.

      Man kann es auch so sagen: In einem demokratischen Rechtsstaat steht weder das Parlament, noch die Regierung noch ein Kanzler noch ein Präsident über dem Recht.

      Genau das ist es, was rechtsextreme Parteien und Populisten nicht akzeptieren wollen. Die der politischen Machtausübung Grenzen setzenden Funktion des Rechts wollen sie im Namen des Volkes bzw. mit Berufung auf den so genannten Volkswillen, der eine reine Fiktion ist, außer Kraft setzen, um an die Stelle des demokratischen Rechtsstaates eine Willkürherrschaft zu setzen.

      Sie nutzen Mehrheitsentscheidungen (konkret: Wahlen), die eigentlich auf rechtsstaatlicher Basis Rechtssetzung legitimieren sollen, dazu, um den Rechtsstaat auszuhebeln und der Willkür politischer Macht Tür und Tor zu öffnen.

      In Ungarn lässt sich das seit ein paar Jahren beobachten und mittlerweile auch in Ansätzen in Italien. In Polen ließ sich das ebenfalls bis vor kurzem beobachten und nun lässt sich dort beobachten, wie schwierig es ist, diese Entwicklungen zurückzudrehen. Das sollte den noch rechtsstaatlich verfassten Demokratien in der EU eine Mahnung sein, Rechtsstaat und Demokratie gegen diese rechten Angriffe konsequent zu verteidigen und rechts Angriffe auf den Rechtsstaat abzuwehren, so lange rechte Parteien und Populisten noch keinen Zugriff auf das Parlament und die Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols haben.

    12. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Wir können uns abschließend gern darauf einigen, dass die Regierungen versuchen nach ihren Vorstellungen zu steuern. Aber oft etwas anderes herauskommt als gedacht. Und oft auch Verfassungsgerichte Einspruch erheben und ihrerseits ihre Vorstellungen zur Norm machen. Wobei auch oft nicht das erhoffte herauskommt.

      Die Vorstellung von "dem Recht", über dem keiner steht, finde ich ein sehr unrealistisches Denk-Konstrukt. Recht ist nichts essentielles, immer geltendes sondern etwas, das ständig sozial durch Institutionen entwickelt wird. Was genau so mißbraucht werden kann. Man kann Mehrheiten zum Abbau der Demokratie nutzen, genau wie man das mit dem Recht tun kann. Man kann politische Gewalt begrenzen, man muß das auch in bestimmten Maße. Man kann aber gewählte Politiken auch aushebeln. Keine Gewaltenteilung ist davor letztendlich sicher. Das ist etwas, was Linke, wider besseres Wissen, nicht akzeptieren wollen.

      Die Diskreditierung der Kritik am gerade aktuellen System unserer Demokratie als eine perfide Strategie der extremen Rechten ist in dieser Form m.E. ein sehr durchsichtiger Versuch des Machterhaltes. Natürlich haben Konservative und Rechte versucht die Gewaltenteilung zu ihren Gunsten zu verschieben. So wie umgedreht die Linkeren die Verfassungsgerichte gegen die gewählte Politik in Stellung bringen etc.. Gesellschaften und Demokratien agieren nie als einheitliches Ganzes sondern bestehen aus differenzierten Gruppen, Entitäten mit unterschiedlichen Vorstellungen und Interesssen. Es gibt immer Linkere, Rechtere, Religiösere usw. Die Vorstellung das unsere "rechtsstaatlich verfassten Demokratien in der EU" einheitlich gegen Rechts vorgehen ist doch komplett unrealistisch. Das würde das Wesen des Politischen völlig verkennen. Da hilft es auch nicht alles Rechte als extrem oder radikal zu markieren und die eigene Seite als die Guten. Das ist doch naiv. Ja, gegen wirkliche Extreme aller Ränder muß man zusammenstehen. Aber ansonsten geht es um Problemlösung mit effizienter Politik.

      Dabei scheint mir das heute praktizierte Politikmodell nicht hilfreich zu sein. Weil dieses spezifische System unserer aktuellen Gewaltenteilung und der Institutionen es wahrscheinlich nicht erlaubt im globalen Wettbewerb unsere Probleme effizient zu lösen. Die Gewalten blockieren sich eher wechselseitig. Was die Wähler sehr wohl bemerken, wenn ich die Wahlergebnisse sehe. Auch wenn der Volkswille wohl eine Fiktion ist. Wenn eine Idee, eine Einschätzung, Massen ergreift, wird sie schnell zur politischen Gewalt. Damit hätte sich dann auch diese Art von Demokratie erledigt. Aber vielleicht entwickeln wir uns doch noch weiter ….

    13. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Nein, diese Form von Relativismus und Zynismus teile ich nicht. Sie führt in letzter Konsequenz in Barberei, wie die deutsche Geschichte zeigt.

    14. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Es steht ja in unserer Demokratie jedem frei die Ansichten, Schlußfolgerungen und Erfahrungen des anderen wahlweise zynisch, relativistisch, naiv, unrealistisch, rassistisch, extremistisch u.v.m. zu finden. Und das ist eigentlich auch gut so. Wir werden sehen …..

    15. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Darum geht es nicht. Es geht um die Grundlagen einer humanen Gesellschaft, in der alle Menschen in Würde und Freiheit leben können. Sonst kippt eine Gesellschaft in Barberei, wie zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und Europa geschehen. Deshalb haben sich die Vereinten Nationen auf die Menschenrechtscharta und die Genfer Flüchtlingskonvention geeignet als prinzipiell unverhandelbare Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Sozialcharta nehmen diese Prinzipien auf und verstärken sie noch einmal.

    16. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Immer diese großen, salbungsvollen Worte, die letztendlich alle konkreten Probleme und ihre Lösungen verschleiern. Ich denke, das Beharren auf einer solche reinen Gesinnungsethik ist gefährlich, wenn man die realen Wirkungen nicht analysiert und dann in sein Handeln einbezieht.

      Was dann dazu führt das sich Gesellschaften destabilisieren und in die Barberei kippen. Nicht Konventionen, allgemeine Prinzipien oder Ideale und humanes Gerede bringen Gesellschaften voran - so wichtig sie seien mögen. Es ist konkretes mühevolles Handeln in konkreten Gegebenheiten, mit konkreten, unvollkommenen Menschen, wie sie sind. Es gibt in dem Sinne, in der Wirklichkeit keine "unverhandelbaren Grundlagen menschlichen Zusammenlebens". Sonst wäre es nie zur Barberei gekommen. Alles ist verhandelbar und sei es mit Gewalt. Putin versucht es gerade wieder. Die Vereinten Nationen sind ein zerstrittener Haufen von Staaten mit sich oft widersprechenden Interessen und Weltbildern. Ohne wirkliche Macht, sich selbst ständig blockierend. Wo jeder die Konventionen für sich auslegt und diese Auslegung als Machtinstrument nutzt. Sie können trotz aller schönen Papiere scheitern - wie der Völkerbund gezeigt hat.

    17. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Klar, für Menschen, die sich zur der privilegierten Mehrheit in einer Gesellschaft zählen (können) sind das salbungsvolle Worte. Sie werden ja auch nicht durch strukturelle oder direkte Gewalt in ihrem Lebensrecht bedroht. Für Menschen, die nicht in einer solchen privilegierten sind, klingen diese Worte nicht salbungsvolle, sondern sie sind Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben und ein Schutz, auf den sie in einem funktionierenden setzen können. Um das verstehen zu können, ist es vielleicht nötig, mit Menschen, die entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen angehören, im Gespräch zu sein und sich mit ihren Erfahrungen auseinander zu setzen. Aus ihren Erfahrungen als deutsche Jüdin hat Hannah Arendt den Satz formuliert: "Jeder Mensch hat das Recht, Rechte zu haben." Darum geht es im Rechtsstaat, in der Demokratie und im internationalen Menschenrechtskodex. Wer das relativiert, positioniert sich damit dann auch selbst in der entsprechenden politischen Schmuddelecke und darf sich dann auch nicht wundern, wenn ihm das gespielt wird.

    18. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Jürgen Klute Wir sind ja wohl beide aus einer priviligierten Mehrheit unserer Gesellschaft. Wenn nicht sogar eine privilegierte Minderheit? Ich vielleicht etwas weniger? Und doch schätzen wir die Wirkung solcher Manifeste sehr unterschiedlich ein. Und meine Freunde und Bekannten aus allen Schichten, Ländern mit unterschiedlichen Hautfarben oder Herkünften haben sehr differierende Ansichten zu diesen Versuchen damit konkrete Menschenrechte zu verbreiten. Das ist also eine ziemlich fehlleitende Argumentation. Eigentlich ein Todschlagargument, wenn man nicht mehr weiterkommt. Bei der Argumentation klingt immer unterschwellig durch, ich sei gegen Menschenrechte. Welch ein Unsinn. Ich sehe nur, das man Menschenrechte nicht dadurch bekommt, dass sie auf dem Papier stehen. Auch in der Verfassung der DDR standen tolle Rechte. Aber Rechte hat man, wenn sie durchgesetzt werden können. Vom Grundgesetz bis zur konkreten An- oder Aberkennung von Rechtstiteln ist ein sehr weiter Weg. Und da liegt das eigentliche Problem, die eigentliche Herausforderung. Es muß eine Macht geben, die sie schützt bzw. auch Mißbrauch verhindert, eine breite Volksbewegung, die sie durchsetzt oder zumindest akzeptiert und die Menschenrechte müssen realistische Grundlagen haben. Wenn ich jeden Trigger als Menschenrechtsfrage behandle werde ich allerdings scheitern. Alles sehr komplex, alles immer im Wandel ….

      Im Rechtsstaat geht es nicht nur darum, das jeder das Recht hat Rechte zu haben. Dieser Satz ist ohne Kontext und Realisierungskonzept. sinnlos. Es geht viel mehr darum, dass die unterschiedlichen Menschenrechte gegeneinander abgewogen werden, ihre sich oft wechselseitigen Begrenzungen gerecht abgewogen werden, Rechtsansprüche also gegeneinander abgewogen werden. Ja, Rechte sind immer relativ zu anderen Rechten (und funktionieren auch nicht ohne Pflichten - das wäre aber schon die nächste Frage). Also wer Menschenrechte so absolut setzt schadet letztlich den Prozess ihrer Realisierung. Der Glaube an absolute Menschenrechte ist naiv. Und wenn man das so vertritt, muß man sich nicht wundern, wenn man damit nicht ernst genommen wird.

      Vielleicht sollten wir stärker versuchen zu verstehen, was der andere wirklich meint? Und den anderen weniger in Schmuddelecken positionieren? Ist das nicht auch ein Menschenrecht - verstanden zu werden?

    19. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Klar gehören wir beide zu einer priviligierten Mehrheit insofern wir der Mehrheitsgesellschaft angehören und zugleich zu einer priviligierten Minderheit innerhalb dieser Mehrheit.

      Das ist für sich aus meiner Sicht erst einmal kein Problem. Die Frage ist, in wie weit man sich dessen bewusst ist und welche Schlussfolgerungen man daraus zieht.

      Die untergegangene DDR mit einem Rechtsstaat zu vergleichen finde ich nun allerdings etwas arg abwegig. Formal hat die DDR zwar eine Verfassung gehabt. Ohne Gewaltenteilung bleibt eine Verfassung aber der alleinigen Definitionshoheit der Regierung ausgeliefert und damit der politischen Willkür der Regierung ausgeliefert und ist folglich lediglich ein Etikettenschwindel.

      In der Tat liegt eine Spannung darin, dass ein Parlament im Zusammenspiel mit einer Regierung einerseits die Legitimation zur Rechtssetzung hat und in dem Sinne als rechtsetzende Instanz, die zugleich über die Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols verfügt, über dem Gesetz steht. Seyla Benhabib hat in ihrem Band "Die Rechte der anderen" auf die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols im Rahmen des Westfälischen Friedens von 1648 bis zur UN.Menschenrechtscharta von 1948 hingewiesen. Das Konzept des staatlichen Gewaltmonopols war ein wesentlicher Schlüssel um Deutschland als den globalen Terrorhotspot des 17. Jahrhunderts einigermaßen zu befrieden: Die Demobilisierung der Söldnertruppen und Warlords und im Gegenzug die Garantie der inneren und äußeren Sicherheit durch den Landesfürsten. Aber es hat – darauf verweist Benhabib – den Landesherren ein Machtinstrument in die Hand gegeben, das sehr anfällig für Missbrauch ist. Demokratische Mitsprache sollte diesen Missbrauch eindämmen. Für Benhabib war die NS-Diktatur die historische Zuspitzung dieses Missbrauchs, die sich aus dem Konzept des Gewaltmonopols zwangsläufig ergbit und die eine Demokratie, die allein auf Mehrheit als Legitimation für Rechtssetzung (siehe Nürnberger Rassengesetze) setzt, keine Garantie ist, um Machtmissbrauch zu verhindern. Benhabibs o.g. Buch basiert auf dem Satz von Hannah Arendt, dass jeder Menschen das Recht hat, Rechte zu haben. Die Konsequenz aus den Erfahrungen mit den NS-Verbrechen ist, die Demokratie um das Konzept des Rechtsstaates zu ergänzen – und um die grundlegenden Kodizes zu Menschenrechten. Darin ist ein Rechtsstaat der untergegangenen DDR deutlich überlegen und fortschrittlicher.

      Auch diese Konzept ist keine absolute und kein automatischer Schutz vor Machtmissbrauch, wie Polen und Ungarn zeigen. Es entfaltet nur seine volle Schutzwirkung, wenn es konsequent verteidigt wird. Nur dann schützt dieses Konzept vor einem Abrutschen in Barbarei. Und deshalb widerspreche ich jedem Versuch einer Relativierung.

      Genau das ist es, worauf Ilja Leonard Pfeijffer fokussiert.

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 3 Monaten

    Ergänzend, wenn auch anders gewichtig, dieser Beitrag aus dem IPG-Newsletter:
    https://www.ipg-journa...

    2 Sätze daraus:

    "Die demokratischen Spitzenpolitiker haben zunehmend den Bezug zu den tieferen Sorgen der Bevölkerung verloren."

    "Die einfache Erklärung für die Krise der Demokratie in der gesamten industrialisierten Welt ist, dass das System nicht gehalten hat, was es versprochen hatte."

    1. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      Danke, den Artikel habe ich eben verlinkt – allerdings auf der ursprünglichen Erscheinungsseite "project syndicate": "Warum stehen Demokratien derzeit unter Druck?" – https://forum.eu/users...

  3. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 3 Monaten

    Ach der Volkswille. Vom volontee generale wird so oft geredet und dabei war er immer schon gegen "das Volk" gerichtet...
    (Wobei ja selbst der volontee de tous problematisch ist).

    1. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 3 Monaten

      Um so tragischer ist es, dass Politiker:innen der etablierten Parteien und aktuell eben auch die Bundesregierung (um in Deutschland zu bleiben) dieses Argumentationsmuster entweder nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. Um Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen, ist es nötig, dieses populistische Argumentationsmuster zu dekonstruieren. Das muss allerdings bereits in der Schule beginne, wenn Demokratie und Rechtsstaat nachhaltig gemacht werden sollen.

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