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Zeit und Geschichte

Wer oben steht, hat es verdient? Wer unten ist, ist selbst schuld?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergSamstag, 20.02.2021

Zu großer Form läuft Daniel Binswanger in diesem Essay auf; zu Recht meinen etliche in den Kommentaren, es sei einer der besten Texte, der in der REPUBLIK erschienen ist:

Auf den Schultern von Michael Sandel, einem renommierten Moral­philosophen unserer Zeit (Näheres im Link im Essay), zeigt er die Entstehung und Entwicklung einer neuen Meritokratie, die bekämpft werden muss.

Was aber verdammt ist Meritokratie? Es ist ein Ausdruck, der in unseren Breiten nicht so bekannt ist, und der Begriff bedeutet

die Herrschaft derer, die es auch verdienen zu herrschen. Etwas technischer ausgedrückt: die Hierarchisierung der Gesellschaft gemäss dem objektiven Verdienst ihrer Mitglieder, gemäss ihren Fähigkeiten und Qualifikationen – oder eben ihren Meriten. Etymologisch leitet der Begriff sich ab vom lateinischen meritum, was Verdienst bedeutet. Praktisch bedeutet er etwas Simples: Die Hoch­qualifizierten und Kompetenten sollen oben in der Hierarchie stehen.

Was aber ist denn daran so schlecht, dass diese Oberschicht bekämpft werden soll?

Der Autor begründet überzeugend, wie mit dieser Ideologie politische und ökonomische Machtverhältnisse, wenn nicht gar ausgeblendet, so zumindest verschleiert wurden.

Die Elite­universitäten sind,

so erläutert Daniel Binswanger beispielhaft,

nicht das Sprung­brett für sozialen Aufstieg, sondern der Ort, an dem soziale Privilegien von einer Generation zur nächsten transferiert werden. Und das eigentliche Problem dabei ist, dass dies nicht hauptsächlich auf «gekaufte» Studien­plätze zurück­geführt werden kann, sondern vielmehr darauf, dass die meritokratischen Selektions­kriterien tatsächlich respektiert werden. Die amerikanische Oberschicht ist nämlich dazu übergegangen, enorme Summen in die Ausbildung ihres Nachwuchses zu investieren.

Diese leistungs­bereiten und fähigen Eliten werden mit der langen Dauer an der Macht, wenn es keinen ausreichenden Zufluss aus anderen Schichten gibt, selbstgerecht und überheblich. Verhärtungen sind die Folge.

Die so entstandene neue, starrer gewordene, Klassengesellschaft behauptet zudem, sie sei gerecht, jeder bekomme, was ihm zusteht.

Es war ein Vorstoß von Konservativen, die Liberale übernahmen:

Aber das Pathos des «Du sollst bekommen, was du verdienst» blieb nicht dem amerikanischen Konservatismus vorbehalten, sondern wurde ein geläufiges Element der Rhetorik aller politischen Lager. Clinton benutzte «du verdienst» doppelt so häufig wie Reagan. Obama benutzte die Formel dreimal so viel.

Treffend deutet Michael Sandel die Reaktionen auf diesen grundstürzenden Wandel:

Unter den Gewinnern erzeugt es Hybris; unter den Verlierern erzeugt es Demütigung und Ressentiment. Diese moralischen Affekte bilden den Kern des populistischen Aufstands gegen die Eliten. Mehr noch, als dass sie ein Protest gegen Einwanderer und Outsourcing wäre, richtet sich die populistische Anklage gegen die Meritokratie. Und diese Anklage ist berechtigt.

Freilich argumentiert Daniel Binswanger nicht nur mit Michael Sandel, sondern auch mit anderen klugen Beobachtern. Thomas Frank, der über die heraufziehende rechte Revolte publiziert:

Die akademische Mittel­schicht definiert sich durch ihre Ausbildungs­erfolge, und jedes Mal, wenn sie dem Land wieder erklärt, dass es mehr Bildung braucht, sagt sie im Grunde nur: Die Ungleichheit ist nicht der Fehler des Systems. Sie ist dein Fehler.

Aber die neue rechte Revolte ist nicht gegen die sozialen Hierarchien gerichtet, sondern sie

will ein Ende der Demütigung, so wie es unter den Bedingungen der Meritokratie eben möglich ist. Sie will von der Verlierer- auf die Gewinner­seite wechseln, befreit werden vom Stigma, zu den Losern zu gehören. Trump bediente diesen Affekt systematisch, nicht nur mit seiner berüchtigten, in Variationen immer wieder wiederholten Ansage: «Ihr seid die Elite! Die sind nicht die Elite!», sondern auch mit dem ständigen, obsessiven Gerede von Verlierern und Gewinnern. Trump demonstriert nicht nur, welche Zerstörungs­kraft das von weit her kommende Meritokratie-Prinzip in sich birgt. Er ist sein lautester – und absurdester – Apostel.

Das Fazit:

Trump zeigte uns die groteske Fratze eines sinnentleerten Kampfes um Elitenstatus. Die Pandemie führt vor Augen, wie dramatisch sich unter Krisen­bedingungen der Gemeinsinn relativieren kann.

Die Vision der Demokratie erscheint heute alles andere als selbstverständlich. Haben wir das verdient?

Wer oben steht, hat es verdient? Wer unten ist, ist selbst schuld?

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Kommentare 14
  1. Theresa Bäuerlein
    Theresa Bäuerlein · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Das Lustige ist ja, dass Menschen mit Geld und Macht meist davon ausgehen, sie hätten diese Dinge verdient, weil sich erarbeitet. Das Element des Glücks und die Hilfe von anderen – niemand, niemand schafft es allein nach oben – wird gerne vergessen. Und das gilt auch abgesehen von Privilegien.

  2. Leopold Ploner
    Leopold Ploner · vor mehr als 3 Jahre

    Es ist schon ironisch. Der Text kritisiert die Meritokratie, belegt aber gleichzeitig, wie sehr wir sie verinnerlicht haben. Schon der zweite Absatz beginnt mit: "Der Harvard-Professor Michael Sandel ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten Moral­philosophen unserer Zeit."
    Würde hier stehen "Der routinierte Lastwagenfahrer Michael Sandel ...", dann würde niemand von uns den Text lesen, bzw. der Text wäre überhaupt nicht geschrieben worden. Selbst in der Kritik der Meritokratie richten wir uns nach deren Maßstäben.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      Die Widersprüche sind unsere Hoffnung, schrieb Brecht in Arbeiterkluft, hergestellt aus feinem Stoff.

      Die berühmteste Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise schrieb Karl Marx vor allem mit dem Geld, das Friedrich Engels als Unternehmer verdient hatte.

      Sandel stellte als erster bei Harvard seine Vorlesungen kostenlos online. So konnte auch ein Lastwagenfahrer sie hören. Wahrscheinlich hat Sandel philosophisch mehr zu sagen als der Lastwagenfahrer, der bestimmt beim Umzug besser die Möbel transpotieren kann als Sandel. Aber vielleicht schreibt der Lastwagenfahrer oder eins seiner Kinder auf, wie man als Arbeiter lebt.

      In etlichen Ländern im Westen gibt es solche Autoren von unten, die in den letzten Jahren wahrgenommen werden. In Deutschland zum Beispiel Christian Baron oder Deniz Ohde.

    2. Leopold Ploner
      Leopold Ploner · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Es geht mir nicht darum, Sandel zu kritisieren. Ich stelle nur fest, dass wir selbst uns an die Maßstäbe der Meritokratie halten. Wir gehen davon aus, dass ein Professor mehr zu seinem Thema zu sagen hat, als Studierende im ersten Semester. Und wir nehmen seine Meinung noch etwas wichtiger, wenn er Professor an einer der renommiertesten Universitäten der Welt ist. Und wenn er Bücher publiziert und zitiert wird, und wenn er als einer der bedeutendsten Moral­philosophen unserer Zeit bezeichnet wird. Das sind seine Meriten. Wegen dieser Meriten hat seine Stimme mehr Gewicht, als beispielsweise meine. Das empfinde ich nicht als ungerecht.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre

      @Leopold Ploner Sehe ich auch so. Und trotzdem sollten wir skeptisch bleiben gegenüber Meriten. Wenn sie echt sind, umso besser.

    4. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      @Thomas Wahl Einverstanden, allerdings, wer die Meriten erhält, ändert sich, ist umkämpft, wird diskutiert.

      Michael Sandel zum Beispiel, der mittlerweile im Rentenalter ist, publizierte lange in Wissenschaftsverlagen, deren broschürte Ausgaben kaum in die Buchhandlungen gelangen. Nun aber erscheinen seine Werke als Hardcover in Publikumsverlagen.

    5. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg redet Ihr nicht ein wenig um den heißen Brei rum? Muss man nicht einfach unterscheiden zwischen Meriten und Geld?
      Ein Problem entsteht doch immer erst durch die Vererbbarkeit von Meriten via Geld. Oder andere bezahlte Skalierungen auf andere Personen. Da wird dann aus der Meriokratie die Oligarchie.
      Wie Achim unten schon schreibt: die Durchlässigkeit ist notwendig und wie Sandel schon an anderer Stelle sagt: die gibts nicht mehr, oder jedenfalls nicht genug und immer weniger. Wo immer mehr Menschen trotz Leistung immer weniger partizipieren können, sondern zunehmend unter Druck geraten, da passiert was. Ich glaube, man sieht in den USA gerade ganz gut was.
      Oder?

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Was mir noch durch den Kopf geht: Manchmal muß man vielleicht auch zw. Person und Werk unterscheiden. Das Werk kann großartig sein, der Mensch ein Armleuchter. Was machen wir dann mit den Meriten?

  3. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor mehr als 3 Jahre

    "Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähgkeiten."
    Hier haben wir doch die Diskussion um die Stundenlöhne der Firmenchefs und -Chefinnen.
    Vom Gerechtigkeitsstandpunkt aus ist das Quark, denn wer höhere Fähigkeiten hat, dem fallen "höhere" Leistungen leicht, er/sie genießt sie sogar. Er/sie hat nicht nur eine erfüllendere Arbeit, sondern auch bessere Gesundheit und ein längeres Leben, weil: mehr Gestaltungsmacht in der Arbeit als der Mensch am Band.
    Vom Effizienzstandpunkt aus könnte man argumentieren, dass höherer Anteil am Sozialprodukt als Anreiz nötig ist, um die Fähigen zur Entwicklung und zum Einsatz ihrer Fähigkeit zu bewegen (was fragwürdig ist) oder dass er ihnen ein sorgenfreieres Leben ermöglicht, was wiederum die Fokussierung auf gutes Arbeiten fördert (was zumindest erwägenswert ist).
    Das gilt auch in einer hypothetischen sozialistischen Ordnung.
    Im Kapitalismus kommt die Konkurrenz um die besten Leute verschärfend hinzu. Hier ist gutes Leitungspersonal nicht nur ganz nett, sondern überlebensnotwendig für die Wirtschaftseinheit - und somit die Bereitschaft, über hohe Löhne um die Besten zu konkurrieren, wesentlich höher.
    Das hat alles noch nicht viel mit Meritokratie zu tun, sondern ergibt sich aus der Logik des Wirtschaftens. Das steht so auch im gepiqten Artikel als von Hayeks und Rawls Auffassung.
    Also die Würde der Arbeit...
    Es hat schon auch sehr viel mit Geld zu tun. Wenn für einfachere Arbeiten nicht mehr bezahlt wird als vor 50 Jahren , was für ein funktionierendes Leben als Familie einfach nicht ausreicht, (während es das früher noch tat) , ist mit Würde nicht viel geholfen.
    Wir müssen uns bewusst werden, wieviel Zufälligkeit in der Tatsache liegt, eine Leistung zu erbringen.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre

      Das ist aber ein weites Feld. Gerechtigkeit heißt ja u.a. Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Insofern wäre höhere Leistung auch höher zu bewerten. Ob die wirklich leichter fällt, das wage ich zu bezweifeln. Ich habe auch mal am Band gestanden und dann als Handwerker gejobt - vor und im Studium. Das war eigentlich ganz ok und schön einfach. Wenig Verantwortung, nach acht Stunden war Schluß. Man mußte sich nicht disziplinieren, nicht weiter Gedanken machen, nicht weiter bilden. Auf Dauer nur etwas langweilig und keine wirkliche Perspektive. Aber der Karriereweg war dann doch nicht ohne Härten und nicht ohne Einsatz. So rein zufällig ist m.E. ein "Aufstieg" nicht. Es gibt natürlich beides und beides gehört dazu - Glück und Anstrengung/Fähigkeiten.

  4. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Ich denke, das Meritokratie eher die wirtschaftliche Grundlage der Gesellschaft sein sollte. Und jeder weiß, das sie extrem anfällig ist (und langfristig immer schon war - das sehe ich wie Christian Huberts) für Mißbrauch. Also nicht das Instrument meritokratischer Systeme ist Schuld, sondern der Mißbrauch. Das ist übrigens mit der Moral genau so. Es geht daher nicht um Moral oder Meritokratie. Es geht um Meritokratie und Moral. Beide werden benutzt. Ich glaube daher nicht, dass man dem mit moralischen Appellen beikommt. Eher mit Kontrolle - wird aber schwierig.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      An moralische Appelle glaube ich auch nicht. Auf jeden Fall ist eine stärkere gesellschaftliche Durchlässigkeit notwendig, um Spaltungen zu verringern.

  5. Christian Huberts
    Christian Huberts · vor mehr als 3 Jahre

    Vielen Dank für den Piq!

    Kleiner Exkurs in die Spielekultur: Der Rhetorikforscher Christopher A. Paul hat vor wenigen Jahren in seinem Buch »The Toxic Meritocracy of Video Games« die Kommunikation innerhalb von Gaming-Communities analysiert und stellt die These auf, dass der meritokratische und schein-faire Leistungs-Fokus vieler populärer Spiele für die große Toxizität einiger Spielergemeinschaften mitverantwortlich ist: https://www.upress.umn.... Aus dem destruktiven #GamerGate-Phänomen entwickelten sich ja unter anderem auch Teile des digitalen Grassroots-Wahlkampfs von Donald Trump, etwa r/The_Donald auf Reddit. Und auch der jüngste r/WallStreetBets-Fall mit GameStop-Aktien ist zum Teil aus diesem High-Score-Geist erwachsen. Finde ich eine sehr spannende Beobachtung, gerade weil der gesellschaftliche Einfluss von Games stetig weiter wächst, via Gamification sogar direkt in soziale Prozesse eingebracht wird, und ihre im Mainstream verinnerlichte meritokratische Ideologie kaum hinterfragt, wenn nicht sogar zum positiven Kern erklärt wird. Persönlich halte ich das Satire-Quatschkonzept der »Meritokratie« ebenfalls für eine Gefahr für die Demokratie. Es geht in der Praxis einfach jedes Mal langfristig in quasi-aristrokratische Strukturen über, in denen sich die Leistungselite selbst reproduziert und die Leistung der anderen sabotiert.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      Danke - vor allem für die wichtigen Ergänzungen.

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