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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Zu großer Form läuft Daniel Binswanger in diesem Essay auf; zu Recht meinen etliche in den Kommentaren, es sei einer der besten Texte, der in der REPUBLIK erschienen ist:
Auf den Schultern von Michael Sandel, einem renommierten Moralphilosophen unserer Zeit (Näheres im Link im Essay), zeigt er die Entstehung und Entwicklung einer neuen Meritokratie, die bekämpft werden muss.
Was aber verdammt ist Meritokratie? Es ist ein Ausdruck, der in unseren Breiten nicht so bekannt ist, und der Begriff bedeutet
die Herrschaft derer, die es auch verdienen zu herrschen. Etwas technischer ausgedrückt: die Hierarchisierung der Gesellschaft gemäss dem objektiven Verdienst ihrer Mitglieder, gemäss ihren Fähigkeiten und Qualifikationen – oder eben ihren Meriten. Etymologisch leitet der Begriff sich ab vom lateinischen meritum, was Verdienst bedeutet. Praktisch bedeutet er etwas Simples: Die Hochqualifizierten und Kompetenten sollen oben in der Hierarchie stehen.
Was aber ist denn daran so schlecht, dass diese Oberschicht bekämpft werden soll?
Der Autor begründet überzeugend, wie mit dieser Ideologie politische und ökonomische Machtverhältnisse, wenn nicht gar ausgeblendet, so zumindest verschleiert wurden.
Die Eliteuniversitäten sind,
so erläutert Daniel Binswanger beispielhaft,
nicht das Sprungbrett für sozialen Aufstieg, sondern der Ort, an dem soziale Privilegien von einer Generation zur nächsten transferiert werden. Und das eigentliche Problem dabei ist, dass dies nicht hauptsächlich auf «gekaufte» Studienplätze zurückgeführt werden kann, sondern vielmehr darauf, dass die meritokratischen Selektionskriterien tatsächlich respektiert werden. Die amerikanische Oberschicht ist nämlich dazu übergegangen, enorme Summen in die Ausbildung ihres Nachwuchses zu investieren.
Diese leistungsbereiten und fähigen Eliten werden mit der langen Dauer an der Macht, wenn es keinen ausreichenden Zufluss aus anderen Schichten gibt, selbstgerecht und überheblich. Verhärtungen sind die Folge.
Die so entstandene neue, starrer gewordene, Klassengesellschaft behauptet zudem, sie sei gerecht, jeder bekomme, was ihm zusteht.
Es war ein Vorstoß von Konservativen, die Liberale übernahmen:
Aber das Pathos des «Du sollst bekommen, was du verdienst» blieb nicht dem amerikanischen Konservatismus vorbehalten, sondern wurde ein geläufiges Element der Rhetorik aller politischen Lager. Clinton benutzte «du verdienst» doppelt so häufig wie Reagan. Obama benutzte die Formel dreimal so viel.
Treffend deutet Michael Sandel die Reaktionen auf diesen grundstürzenden Wandel:
Unter den Gewinnern erzeugt es Hybris; unter den Verlierern erzeugt es Demütigung und Ressentiment. Diese moralischen Affekte bilden den Kern des populistischen Aufstands gegen die Eliten. Mehr noch, als dass sie ein Protest gegen Einwanderer und Outsourcing wäre, richtet sich die populistische Anklage gegen die Meritokratie. Und diese Anklage ist berechtigt.
Freilich argumentiert Daniel Binswanger nicht nur mit Michael Sandel, sondern auch mit anderen klugen Beobachtern. Thomas Frank, der über die heraufziehende rechte Revolte publiziert:
Die akademische Mittelschicht definiert sich durch ihre Ausbildungserfolge, und jedes Mal, wenn sie dem Land wieder erklärt, dass es mehr Bildung braucht, sagt sie im Grunde nur: Die Ungleichheit ist nicht der Fehler des Systems. Sie ist dein Fehler.
Aber die neue rechte Revolte ist nicht gegen die sozialen Hierarchien gerichtet, sondern sie
will ein Ende der Demütigung, so wie es unter den Bedingungen der Meritokratie eben möglich ist. Sie will von der Verlierer- auf die Gewinnerseite wechseln, befreit werden vom Stigma, zu den Losern zu gehören. Trump bediente diesen Affekt systematisch, nicht nur mit seiner berüchtigten, in Variationen immer wieder wiederholten Ansage: «Ihr seid die Elite! Die sind nicht die Elite!», sondern auch mit dem ständigen, obsessiven Gerede von Verlierern und Gewinnern. Trump demonstriert nicht nur, welche Zerstörungskraft das von weit her kommende Meritokratie-Prinzip in sich birgt. Er ist sein lautester – und absurdester – Apostel.
Das Fazit:
Trump zeigte uns die groteske Fratze eines sinnentleerten Kampfes um Elitenstatus. Die Pandemie führt vor Augen, wie dramatisch sich unter Krisenbedingungen der Gemeinsinn relativieren kann.
Die Vision der Demokratie erscheint heute alles andere als selbstverständlich. Haben wir das verdient?
Quelle: Daniel Binswanger Bild: Joakim Eskildsen/... www.republik.ch
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Das Lustige ist ja, dass Menschen mit Geld und Macht meist davon ausgehen, sie hätten diese Dinge verdient, weil sich erarbeitet. Das Element des Glücks und die Hilfe von anderen – niemand, niemand schafft es allein nach oben – wird gerne vergessen. Und das gilt auch abgesehen von Privilegien.
Es ist schon ironisch. Der Text kritisiert die Meritokratie, belegt aber gleichzeitig, wie sehr wir sie verinnerlicht haben. Schon der zweite Absatz beginnt mit: "Der Harvard-Professor Michael Sandel ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten Moralphilosophen unserer Zeit."
Würde hier stehen "Der routinierte Lastwagenfahrer Michael Sandel ...", dann würde niemand von uns den Text lesen, bzw. der Text wäre überhaupt nicht geschrieben worden. Selbst in der Kritik der Meritokratie richten wir uns nach deren Maßstäben.
"Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähgkeiten."
Hier haben wir doch die Diskussion um die Stundenlöhne der Firmenchefs und -Chefinnen.
Vom Gerechtigkeitsstandpunkt aus ist das Quark, denn wer höhere Fähigkeiten hat, dem fallen "höhere" Leistungen leicht, er/sie genießt sie sogar. Er/sie hat nicht nur eine erfüllendere Arbeit, sondern auch bessere Gesundheit und ein längeres Leben, weil: mehr Gestaltungsmacht in der Arbeit als der Mensch am Band.
Vom Effizienzstandpunkt aus könnte man argumentieren, dass höherer Anteil am Sozialprodukt als Anreiz nötig ist, um die Fähigen zur Entwicklung und zum Einsatz ihrer Fähigkeit zu bewegen (was fragwürdig ist) oder dass er ihnen ein sorgenfreieres Leben ermöglicht, was wiederum die Fokussierung auf gutes Arbeiten fördert (was zumindest erwägenswert ist).
Das gilt auch in einer hypothetischen sozialistischen Ordnung.
Im Kapitalismus kommt die Konkurrenz um die besten Leute verschärfend hinzu. Hier ist gutes Leitungspersonal nicht nur ganz nett, sondern überlebensnotwendig für die Wirtschaftseinheit - und somit die Bereitschaft, über hohe Löhne um die Besten zu konkurrieren, wesentlich höher.
Das hat alles noch nicht viel mit Meritokratie zu tun, sondern ergibt sich aus der Logik des Wirtschaftens. Das steht so auch im gepiqten Artikel als von Hayeks und Rawls Auffassung.
Also die Würde der Arbeit...
Es hat schon auch sehr viel mit Geld zu tun. Wenn für einfachere Arbeiten nicht mehr bezahlt wird als vor 50 Jahren , was für ein funktionierendes Leben als Familie einfach nicht ausreicht, (während es das früher noch tat) , ist mit Würde nicht viel geholfen.
Wir müssen uns bewusst werden, wieviel Zufälligkeit in der Tatsache liegt, eine Leistung zu erbringen.
Ich denke, das Meritokratie eher die wirtschaftliche Grundlage der Gesellschaft sein sollte. Und jeder weiß, das sie extrem anfällig ist (und langfristig immer schon war - das sehe ich wie Christian Huberts) für Mißbrauch. Also nicht das Instrument meritokratischer Systeme ist Schuld, sondern der Mißbrauch. Das ist übrigens mit der Moral genau so. Es geht daher nicht um Moral oder Meritokratie. Es geht um Meritokratie und Moral. Beide werden benutzt. Ich glaube daher nicht, dass man dem mit moralischen Appellen beikommt. Eher mit Kontrolle - wird aber schwierig.
Vielen Dank für den Piq!
Kleiner Exkurs in die Spielekultur: Der Rhetorikforscher Christopher A. Paul hat vor wenigen Jahren in seinem Buch »The Toxic Meritocracy of Video Games« die Kommunikation innerhalb von Gaming-Communities analysiert und stellt die These auf, dass der meritokratische und schein-faire Leistungs-Fokus vieler populärer Spiele für die große Toxizität einiger Spielergemeinschaften mitverantwortlich ist: https://www.upress.umn.... Aus dem destruktiven #GamerGate-Phänomen entwickelten sich ja unter anderem auch Teile des digitalen Grassroots-Wahlkampfs von Donald Trump, etwa r/The_Donald auf Reddit. Und auch der jüngste r/WallStreetBets-Fall mit GameStop-Aktien ist zum Teil aus diesem High-Score-Geist erwachsen. Finde ich eine sehr spannende Beobachtung, gerade weil der gesellschaftliche Einfluss von Games stetig weiter wächst, via Gamification sogar direkt in soziale Prozesse eingebracht wird, und ihre im Mainstream verinnerlichte meritokratische Ideologie kaum hinterfragt, wenn nicht sogar zum positiven Kern erklärt wird. Persönlich halte ich das Satire-Quatschkonzept der »Meritokratie« ebenfalls für eine Gefahr für die Demokratie. Es geht in der Praxis einfach jedes Mal langfristig in quasi-aristrokratische Strukturen über, in denen sich die Leistungselite selbst reproduziert und die Leistung der anderen sabotiert.