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Zeit und Geschichte

Nun aber los! – Habermas zu Korrekturen in Deutschland und der EU

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 05.10.2020

Als im September 2020 die dichte und überraschende Gegenwartsanalyse 30 Jahre danach: Die zweite Chance. Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschien, erkannten etliche den Gehalt. Es gab Artikel über den Artikel.

Disparates verbindet Jürgen Habermas, dessen Gedanken in den Blättern stets in lesbarem Deutsch publiziert werden: der Skandal um die Kurzzeitwahl eines FDP-Politikers als Thüringer Ministerpräsident mit Stimmen von Rechtsextremen und die Pandemiebekämpfung in der EU, wo erstmals gemeinsame Schulden aufgenommen worden sind, das Wechselspiel von deutscher Einheit und europäische Einigung. 

Wenn wir heute, angesichts der Wiederbelebung der europäischen Dynamik, über drei Jahrzehnte hinweg eine Parallele zur anfänglichen Verbindung des deutschen mit dem europäischen Einigungsprozess aufzeigen möchten, müssen wir zunächst an die retardierenden Folgen erinnern, die die deutsche Einheit für die Europapolitik gehabt hat. Auch wenn die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates mit einem folgenreichen Integrationsschub durch den Verzicht auf die D-Mark gewissermaßen erkauft worden ist, hat sie die weitere Vertiefung der europäischen Kooperation nicht gerade befördert.

Habermas erläutert wie der Brexit die gemeinsame Schuldenaufnahme erst ermöglichte, gegen die sich Merkel und die CDU lange gestellt haben, er zeigt wie der Unvereinbarungsbeschluss, der Linke und Rechte hufeisennah zusammen sah, Politik erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht.

Mittlerweile gehe auch Merkel gegen die AfD vor:

Die Europakritik diente bei dieser, nun zusätzlich durch Flüchtlingskrise und Fremdenhass beschleunigten Amalgamierung von west- und ostdeutschen Protestwählern als Katalysator. Daher konnte sich der Konflikt zwischen CDU und AfD in jenem Augenblick verdichten, als sich der Europaabgeordnete Meuthen am 8. Juli 2020 im Straßburger Parlament erhob und der Kanzlerin – bei ihrer Vorstellung des Plans eines europäischen Aufbaufonds – die Argumente entgegenschleuderte, mit denen sie selbst ein Jahrzehnt lang die Krisenagenda von Schäubles Sparpolitik begründet hatte.

Damit berühren wir die Nahtstelle, an der sich heute der europäische und der innerdeutsche Einigungsprozess erneut treffen. Denn in solchen Veränderungen des parteipolitischen Spektrums spiegeln sich tiefer liegende Verschiebungen in den politischen Mentalitäten einer Bevölkerung.

Bei seinen Erläuterungen über Ostdeutschland korrigiert Jürgen Habermas eigene Ansichten aus den 1990er Jahren.

Breiten Raum nehmen bei ihm die unterschiedlichen Erinnerungen und Prägungen in Ost und West.

Scharf kritisiert Jürgen Habermas wie in der alten Bundesrepublik viele Schreibtischtäter und Henker trotz Auschwitzprozess u. a. wieder aufgestiegen sind, ein Kainsmal der Demokratie, aber auch die fehlende politische Öffentlichkeit in der DDR erkennt er.

Weil sich 1945 an die eine Diktatur eine andere angeschlossen hat (wenn auch eine Diktatur ganz anderer Art), konnte in den Jahrzehnten danach eine spontane, aus eigener Kraft geführte, mühsam selbstkritische Klärung eines verschütteten politischen Bewusstseins nicht in ähnlicher Weise wie in der Bundesrepublik stattfinden.

Nach der zweiten deutschen Einheit wiederum wurden gerade diejenigen diffamiert,

die DDR-Alltagserfahrungen hatten artikulieren und widerspiegeln können. In der alten Bundesrepublik waren sie noch literarisch gewürdigt und sogar gefeiert worden, aber in der wiedervereinigten galten jetzt Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller und all die anderen nicht mehr nur als die Linken, die sie waren, sondern als die intellektuellen Wasserträger des Stasi-Regimes, die sie nicht gewesen waren.

Nach diesem hier nur schlaglichthaft beleuchteten Ritt durch die deutsche Geschichte, weitet er den Blick auf die Chancen, dass Korrekturen bei der nationalen Einheit auch Chancen einer Vertiefung der europäischen erhöhen.

Sein Fazit:

Diese innenpolitische Verschiebung der Relevanzen können wir als Chance verstehen, den Prozess der deutschen Einigung zu vollenden, indem wir unsere nationalen Kräfte für den entscheidenden Integrationsschritt in Europa bündeln. Denn ohne europäische Einigung werden wir weder die einstweilen unabsehbaren ökonomischen Folgen der Pandemie noch den Rechtspopulismus bei uns und in den anderen Mitgliedstaaten der Union bewältigen.

Freilich, diese Hoffnung äußerte Habermas schon öfters - vergeblich.

Aber ist sie deshalb falsch?

Nun aber los! – Habermas zu Korrekturen in Deutschland und der EU

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