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Zeit und Geschichte

Interne Dokumente belegen deutsches Afghanistan-Versagen

Lars Hauch
Researcher. Schwerpunkte: Mittlerer Osten, insbesondere Syrien.
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Lars HauchSamstag, 20.01.2024

Das Scheitern des 20-jährigen NATO-Einsatzes in Afghanistan ist in seiner Gewaltigkeit kaum greifbar. Ein wenig Abhilfe schafft eine Recherche der Zeit, die ein Archiv interner E-Mails und Protokolle ausgewertet hat.

Zur Erinnerung: Im Februar 2020 einigen die USA unter Trump sich mit den Taliban auf das "Doha Abkommen". Das sieht im Gegenzug für Sicherheitsgarantien der Taliban (= internationalem Terrorismus keine Herberge bieten) einen schrittweisen Truppenabzug der USA bis April 2021 vor. Geplant sind außerdem innerafghanische Friedensverhandlungen. Um die bemüht sich aber niemand. 

Im August 2021 übernehmen die Taliban nach kontinulierlichem Vormarsch in den Provinzen schließlich die Kontrolle über Kabul. Die Bundesregierung scheint aus allen Wolken zu fallen. Mehr schlecht als recht wird die Evakuierung deutscher Staatsbürger in die Wege geleitet. Die mehr als 10.000 afghanischen Ortskräfte, die auf der Abschussliste der Taliban stehen, werden überwiegend ignoriert.

Tatsächlich ist das Chaos aber made in Germany. Die Gleichgültigkeit und das Versagen sämtlicher Behörden wird besonders am Ausmaß deutlich, mit dem später versucht wird, das Geschehene zu vertuschen. Dabei hätte es ganz anders kommen können. Die notwendigen Informationen lagen vor.

Der BND kam allerdings zu einer anderen Schlussfolgerung. Am 3. August 2012, als Kabul schon voll mit eingesickerten Taliban-Kämpfern war, prognostizierte der Geheimdienst, eine Machtübernahme der Taliban sei „frühestens in zwei Jahren“ ein wahrscheinliches Szenario.

Das Auswärtige Amt verkennt ebenfalls die Brisanz der Lage. Die deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, meldet am 6. August 2021 nach Berlin, die USA würden Afghanistan in Kürze verlassen und planten wegen der sich anbahnenden Machtübernahme der Taliban eine rasche Evakuierung. Nichts passiert. Eine Woche später schickt Haber einen weiteren Bericht: Avril Haines, Direktorin der US-Geheimdienste, sei ebenfalls vom Fall Kabuls überzeugt. Endlich reagiert das Auswärtige Amt, der Krisenstab trifft sich - passenderweise - am Freitag den 13.

Amerikaner und Briten haben zu diesem Zeitpunkt bereits Evakuierungen initiiert. Deutschland bleibt untätig. 48 Stunden später fällt Kabul. Emily Haber wird zu diesem Zeitpunkt trotz ihrer wiederholten Warnungen in den Urlaub entlassen. Frühere Warnungen anderer Kollegen werden in internen Emails belächelt („Meine Güte, schreibt der Kollege hier sein Tagebuch?“).

Das Auswärtige Amt versäumt sogar, Reise- und Sicherheitshinweise für Afghanistan zu aktualisieren. Eine dringende Ausreiseaufforderung liegt ab dem 9. August bereits auf dem Tisch, bleibt aber drei Tage lang einfach liegen.

Die Koordinierung mit dem Verteidigungsministerium scheint ebenfalls desaströs. Während Kabul fällt, heißt es in einer internen Mail des Außenministeriums: „Hoffentlich haben die was in der Schublade“. Gleiches gilt für das Kanzleramt. Merkel sieht die Brisanz der Lage bis zum Fall Kabuls nicht.

Es folgt die chaotische Evakuierungsmission der Bundeswehr sowie das Desaster der (mit Kalkül, so legen die Unterlagen nahe) im Stich gelassenen Ortskräfte. Hierfür trägt das Innenministerium maßgeblich Verantwortung.

Von Verantwortung will allerdings niemand etwas wissen. Rasch beginnt eine Vertuschungsaktion. Die wird, wie der gesamte Ablauf, in einem Ausschuss des Deutschen Bundestages untersucht. Im Sommer diesen Jahres werden dort auch Merkel und Seehofer angehört. Bleibt zu hoffen, dass es personelle Konsequenzen gibt. Deutschland rühmt sich international mit seiner Unterstützung für „accountability“, also Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit von Entscheidungsträgern (anderer Länder). Eine gute Gelegenheit, vor der eigenen Tür zu kehren.

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Kommentare 5
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 10 Monaten

    Dieser Fall zeigt beispielhaft die ganze Inkompetenz deutscher politischer/staatlicher Institutionen und Bürokratien. Die Realitätsferne zieht sich durch die ganzen Jahre des Afghanistaneinsatzes. Weltfremdes Weltbild führt zu weltfremden Handeln. Wenn man das hochrechnet auf andere "Fachgebiete" - wofür es gute Gründe gibt - dann kommt weiter einiges auf uns zu.

  2. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 10 Monaten

    Wirklich erschreckend. Neben den gefallenen Bundeswehr-Soldaten haben auch Ortskräfte den Einsatz für eine menschlichere Gesellschaft mit dem Leben bezahlt. Die verbliebenen sind in Gefahr, was sich gegen Ende des Artikels so liest:

    "Die Deutschen auf der Evakuierungsliste waren stets penibel angeführt, die Ortskräfte nie. Eine BND-Analyse vom März 2021 hält fest: Die Ortskräfte sind ‚grundsätzlich‘ bedroht. In der Tat: Für die Taliban waren sie stets Ziele wie die Bundeswehr selbst - nur leichter zu treffen.“

    Der Artikel beleuchtet dabei auch die Rolle des zuständigen Innenministeriums als Verhinderer einer großzügigen Aufnahme der Ortskräfte, aus wahltaktischen Erwägungen Horst Seehofers.

    ***
    Gestern las ich einen längeren Artikel im SZ Magazin vom August 2023, "Das Versprechen“, bei dem es um die GIZ und ihre Ortskräfte ging.
    Die GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit - koordinierte im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die finanzielle Unterstützung Afghanistans und führte Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit durch. Dazu gehörte auch das Police Cooperation Project (PCP) mit dem afghanischen Innenministerium, finanziert vom Auswärtigen Amt. Einheimische Polizisten wurden ausgebildet - lesen und schreiben lernen, Demokratie verstehen.
    Deutschland hatte bereits mehr als 30 000 Menschen einreisen lassen. Darunter waren neben ehemaligen Mitarbeitern von Bundeswehr und BMZ auch Menschenrechtler, Journalisten, Frauenrechtsaktivistinnen, Menschen aus Justiz und Verwaltung.

    Zitat: s. Fortsetzung ...

    1. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 10 Monaten

      Zitat:
      Für ehemalige afghanische Mitarbeiter [Bundeswehr und BMZ] gibt es das sogenannte Ortskräfteverfahren. Wenn sie gefährdet sind, können sie sich bei den deutschen Behörden melden und um Aufnahme bitten. Doch viele sind noch im Land und haben keine Aussicht mehr darauf, nach Deutschland zu kommen. ...
      In einer gemeinsamen Recherche haben das Investigativbüro Lighthouse Reports, Süddeutsche Zeitung, WDR und NDR beispielhaft 20 Fälle von Ortskräften im Detail untersucht. Viele von ihnen wurden von der Bundesregierung abgelehnt, obwohl Prüfer der GIZ zuvor eigens auf ihre besondere Gefährdungslage und die hohe Exponiertheit hingewiesen hatten. ...
      Das Trauma, das ihrerseits die deutsche Politik in Afghanistan erlitten hat, lässt sie mittlerweile durch eine eigene Enquetekommission aufarbeiten, in Berlin ...
      Geladen sind in diesem Untersuchungsausschuss eher selten: Ortskräfte aus Afghanistan, die es nach Deutschland geschafft haben und hier ihre Erlebnisse schildern, auch unter Tränen. Öfter sprechen: Regierungsdirektoren aus Ministerien und Referentinnen, Analysten des Bundesnachrichtendienstes, Soldaten und Diplomaten, Entwicklungshelfer. Und diejenigen, die für die GIZ in Afghanistan Verantwortung trugen.
      Zu Beginn dieser Aufarbeitung, im September 2022, spricht Hans-Hermann Dube, ein langjähriger Regionalleiter der GIZ in Afghanistan, als Sachverständiger. Er sagt, ihm sei "kein Fall bekannt, dass von unseren ehemaligen und noch anwesenden Ortskräften irgendjemand zu Schaden gekommen wäre". Dube, der selbst jahrelang in Afghanistan gelebt hat, berichtet gar von freundlichen Anrufen aus dem "Taliban-Lager" und von der "Bitte, jetzt nicht alle wegzuholen, weil man die Menschen dort braucht".
      Diese Einschätzung bestätigt auch Ende April 2023 der ehemalige oberste Risikomanager der GIZ in Afghanistan. "Allein aufgrund ihrer Tätigkeit für die Entwicklungszusammenarbeit", sagt der GIZ-Mitarbeiter, seien die Taliban "keine gezielte Gefahr für die Mitarbeiter". Er ergänzt: "In Kombination mit anderen Faktoren, also zum Beispiel private Konflikte, Neiddebatten, Familienstreitigkeiten, Racheaktionen, tribale Konflikte, durchaus. Aber wirklich nur aufgrund der Tätigkeit: Nein."
      Keine gezielte Gefahr für die Mitarbeiter? Diejenigen, die mit den Reportern gesprochen haben, erzählen von einer anderen Wirklichkeit in Afghanistan. ...
      In einem internen Dokument urteilt die GIZ: "Mitarbeiter*innen des PCP gelten als besonders gefährdet durch ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit und Zusammenarbeit mit der Polizei."

      https://www.sueddeutsc... (Bezahlabo)

      Berührend die Schilderungen von Einzelschicksalen, erschauern lässt auch die Kaltschnäuzigkeit deutscher Bürokratie, mit der Anträge abgewiesen wurden. Bei den PCP-Ortskräften kommt hinzu, dass sie keine Arbeitsverträge hatten. Sie waren über Werkverträge eingebunden, d.h. selbstständige Unternehmer, outgesourct. Ein sog. Thesenpapier aus Zeiten der alten Bundesregierung sah bei Werkvertragsnehmern eine "restriktive Handhabung" vor.

      Wird die Aufnahme Zehntausender jemals die Wunden der Zurückgelassenen heilen können?

  3. Ferdinand H
    Ferdinand H · vor 10 Monaten

    Liest sich ein wenig so als hätte es in den Ministerien keine geeigneten Kompetenzen gehabt für ein rasches Handeln das den Versprechen der Vergangenheit angemessen war.

  4. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 10 Monaten

    ...und es wird wieder viele geben die der AMPEL die Schuld geben werden.

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