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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Wie sind Sprache, Realität und Historie verbunden?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 19.10.2020
Hätte Angela Merkel nicht „Wir schaffen das“ gesagt, so der Schriftsteller Christoph Hein in einer bemerkenswerten Rede, sondern von „Bemühungszusagen“ gesprochen, wären ihre Sätze 2015 folgenlos geblieben.

Er spürt mit Erlebnissen und Lektüren dem Verhältnis von Sprache und Realität nach, wie wir unsere Welt mit Sprache erkennen oder verschleiern. Dabei begreift er George Orwell als Zeitgenossen. Bei der Arbeit am 1948 erstmals veröffentlichten Roman "1984" war der große britische Autor

unermüdlich bei der Suche nach den Worten für sein Newspeak, und fündig wurde er in seiner Welt, in England, bei der BBC, in der Sprache des Kalten Krieges, den Parolen des Spanienkriegs, der offiziellen, der amtlichen Sprache in den USA wie in der Sowjetunion.

Seine Warnung, dass mit diesem Newspeak dem Totalitarismus der Weg geebnet wird, blieb folgenlos. In allen Staaten, Diktaturen wie Demokratien, wurde das Neusprech bis heute weiter vervollkommnet, um Sachverhalte zu verbergen, fatale Zustände zu verschleiern oder Verbrechen zu beschönigen.

Christoph Hein wiederum sucht Beispiele für eine die Wirklichkeit unkenntlich machende Sprache in unserer Zeit, in Deutschland wie anderswo:

Eine sprachliche Neuprägung aus unserem Innenministerium ist das Wort Gefährder. Der Begriff unterhöhlt die Unschuldsvermutung, die das Grund- und das Strafgesetz vor einem rechtmäßig erfolgten Schuldspruch vorschreiben, und ermöglicht, Menschen, die nichts Strafbares getan haben, als Kriminelle anzusehen und zu behandeln.

Die Beraterin von Donald Trump, Kellyanne Conway, erfand 2017 den Ausdruck alternative Fakten für die widerlegbar falschen Behauptungen ihres Präsidenten.

Da Christoph Hein auf den Schultern von George Orwell steht, ist dessen Roman "1984" so verlinkt, dass man alle Zitate mit Neusprech schnell findet.

Bei Orwell beginnt der Zerfall eines Gemeinwesen beim Zerfall der Sprache. Die verordnete und verstümmelte Sprache lässt die Wirklichkeiten in ihren Widersprüchen nicht angemessen erkennen.

Christoph Hein befürchtet, dass das wieder geschehen kann - wie es auch dafür Beispiele lange vor Orwell gab. Sein Schlussabsatz lautet deshalb:

Auch unsere Demokratie ist gefährdet, und wir wissen aus der Geschichte, aus den vergangenen viertausend Jahren, wie Gesellschaften und Staaten zerfallen können, plötzlich und unerwartet, wie es heißt, weil man die Zeichen auf der Wand nicht sah oder nicht zu deuten wusste. Und plötzlich und unerwartet greifen jene Hände, die jahrzehntelang, jahrhundertelang ehrerbietig die Schleppe trugen, nach dem König und der Königin, um sie auf das Schafott zu schleppen.

Gestern & Heute: Wie sind Sprache, Realität und Historie verbunden?

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Kommentare 11
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

    Interessantes Thema. Leider will die BZ ein Abo von mir .....🙁

    Ob der Begriff "Gefährder" die Unscholdsvermutung unterminiert, das würde ich bezweifeln. Es ist eine Vermutung, gestützt auf Indizien. Keine Verurteilung, keine Verhaftung. Und wie wollen wir denn zu einem Schuldspruch kommen ohne Vermutung und Recherche? Da beißt sich doch in den Schwanz.

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 4 Jahren

      Wieso? Der Text ist doch frei zugänglich.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Dirk Liesemer Dachte ich auch. Vielleicht war ich zuoft auf der Seite der BZ?

    3. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Vielleicht, eventuell Cookies löschen, übrigens sind Berliner Zeitung und BZ zwei unterschiedliche Berliner Blätter ;-)

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Dirk Liesemer Aha, das hab ich übersehen. 🤔

      War aber bei der richtigen. Cookies hatte ich gelöscht. Mußte mich aber anmelden. Werd es noch mal von vorn versuchen.

  2. Andreas P.
    Andreas P. · vor 4 Jahren

    Vielen Dank fur diesen ungewöhnlichen und großartigen piq.

  3. Silke Jäger
    Silke Jäger · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

    Heins Text ist für mich in zwei Teile geteilt: in einen sehr interessanten ersten und einen sich wenig Mühe gebenden zweiten Teil. Es kippt da, wo die Geschichte mit den auf ein Display starrenden Eltern beginnt. Ab da bleibt Hein mir zu oberflächlich, da könnte er seine eigenen Schlussfolgerungen stärker auf die Probe stellen. Seine Beispiele holen Orwells Charakterisierung des Problems nicht wirklich in die gesellschaftliche Gegenwart. Etwas anderes ist es da, wo es um politische Sprache geht. Da finde ich die Anfrage an die Geschichte noch gut in die Gegenwart geholt.
    Ich sehe aber nicht so recht, wie der erste und zweite Teil miteinander verbunden sind. Wie er aus einer schlüssigen Analyse, "auf den Schultern Orwells stehend" – wie du so treffend sagst – zu seiner Allgemeinkritik an Gesellschaft kommt, ist mir nicht klar geworden.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 4 Jahren

      An Deiner Kritik ist was dran, obwohl ich die Rede gut finde. Aber in einigen Teilen löst sich Hein zu wenig oder zu unorganisch von Orwell. Deshalb verlinkte ich alle "Neusprech-Stellen" aus "1984". So gibt es mehr Denkanstöße.

    2. Matthis Pechtold
      Matthis Pechtold · vor 4 Jahren

      Ganz so auch meine Rezeptionserfahrung, Frau Jäger, treffend verbalisiert!
      Vieles im inhaltlich zweiten Teil der Rede liest sich wie der beliebige Kulturpessimismus, mit dem gerne auf diffuse Gefühle eines angeblich zum Schlechten hin verlaufenden gesell. Wandels reagiert wird.
      Da wirft Hein vieles zusammen, was einer viel differenzierteren Betrachtung bedürfte.

    3. Silke Jäger
      Silke Jäger · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      @Matthis Pechtold Ja. Und das ist sehr schade, weil ich glaube, dass da etwas sehr Interessantes drin steckt: Wie die Art, wie wir über Dinge und Ideen sprechen und durch welches Medium diese Sprache transportiert wird, Wirklichkeit verändert, weil sie die Wahrnehmung und Bewertung verändert. So wie Orwell das an ganz konkreten Beobachtungen beschreibt.

      Solche Beobachtungen kann ich im 2. Teil nicht so wirklich finden. Ich weigere mich aber auch, davon auszugehen, dass man zB den Eltern gewisse Absichten unterstellen kann oder dass die Wirkung dieses Verhaltens nur eine Entwicklung beim Kind zulässt. Aber zuallererst überzeugt mich das Beispiel gar nicht, weil es eine Momentaufnahme ist. Die Eltern könnten einfach total erschöpft sein ... Wir erfahren es nicht. Das meine ich damit, wenn ich sage, Hein hätte sich da mehr anstrengen müssen. Oder andere Beispiele finden müssen, die mehr auf die Sprache an sich als auf das Vermittlungsmedium abzielen. Um zu bewerten, wie sich das auf unsere Bewertung der Wirklichkeit auswirkt braucht es ein bisschen mehr. Wahrscheinlich mehr Daten ... Das ist wohl ein Dilemma.

    4. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 4 Jahren

      @Silke Jäger Blöderweise bekomme ich keine Kommentare mehr als Mail, deshalb reagiere ich spät.

      Drei Stichpunkte:

      Das Genre ist eine Eröffnungsrede. Da muss einiges offen bleiben. Deshalb koppelte ich die Rede mit Orwell.

      Häufig findet man in Essaybänden, nicht nur bei Hein, die Bemerkung, dass die einzelnen Beiträge in gestraffter Form in Zeitungen veröffentlicht worden sind, so dass sie hier oft zum ersten Mal vollständig erscheinen.

      Oder aber, dass der Essay auf Grundlage einer Rede entstand.

      Da wir uns einig sind, dass der Beitrag Treffendes enthält, gibt es Anlass zur Hoffnung, dass das nicht das letzte Wort ist.

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