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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Gefühle, Triebe und Gespenster im Kapitalismus

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 05.07.2021

Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Literaturwissenschaftler entwickelt zu einem international anerkannten Analytiker der heutigen Gestalt des Kapitalismus. Spätestens mit dem 2010 erschienenen "Das Gespenst des Kapitals" ist das bei Joseph Vogl der Fall.

Daniel Graf versucht auf Grundlage des neuen Buches "Kapitalismus und Ressentiment" das Spezifische dieser Theorie der Gegenwart herauszuarbeiten.

Die Plattform­ökonomie in ihrer heutigen Form führt zu einer Aushöhlung der Demokratie, lautet der Grund­befund.

So interpretiert Daniel Graf und entlockt so dem Dialektiker Joseph Vogl immer wieder starke Positionen und man bekommt Einblicke in den Motor seiner Denkfabrik.

Das sind Formulierungen, die gut in den Klappen­text passen würden, die aber im Buch selbst etwas anders gewendet werden. Was mich interessiert hat, ist eine Untersuchung mit einem längeren historischen Atem, die Entstehung dessen, was ich Finanz­regime nenne und was in seiner Genese auf die Frühe Neuzeit zurück­zudatieren ist.

Verbunden damit ist die These, dass so etwas wie das Finanz­wesen nicht einfach ein ökonomischer Sachverhalt ist, sondern in einer engen Austausch­konstellation zwischen Staats­apparaten und privaten Financiers entstanden ist. Seit der Frühen Neuzeit ist das Finanz­wesen eng verwoben mit regierungs­technischen Fragen, in jüngerer Zeit mit dem Ausbau von Governance-Strukturen. Es geht also um privat-öffentliche Osmosen.

Da hat sich eine Dynamik entwickelt, die das Finanz­regime mehr und mehr aus der Überprüf­barkeit durch rechts­staatliche demokratische Ordnungen heraus­gelöst hat.

Immer wieder arbeitet Joseph Vogl die Macht und Vielschichtigkeit von Gefühlen und Affekten heraus. So heißt es über das titelgebende Ressentiment, es sei

durchaus eine Spielart von Kritik, und niemand kann wohl behaupten, er oder sie wäre ganz und gar frei davon. Es produziert den bösen Blick, es sinnt auf Genugtuung, es aktiviert Kränkungs- und Verletzungs­gefühle. Aber – und das ist die Falle des Ressentiments – es nimmt meist einen mehr oder weniger polizeilichen Weg: Das Ressentiment fahndet und verdächtigt, gibt sich einer gewissen Straffreudigkeit hin, ruft nach stärkeren Instanzen und Mächten, die sich um die Schädigung oder Bändigung der Beleidiger kümmern sollen, schliesslich sucht es stets nach konkreten Schuldigen – irgendjemand muss ja schuldig sein, wenn es mir schlecht geht. Das wäre die Falle oder Sackgasse ressentimentaler Kritik. Kritik selbst aber sollte den umgekehrten Weg nehmen: heraustreten aus der Urteilssucht, aus der Vergeltungslust.

Bei solchen Passagen merkt man, warum sich Joseph Vogl schnellen Thesen verweigert. Urteile stellen fest und versperren den Blick auf das Offene von Geschichte.

Wer die Entwicklung von Joseph Vogl nachvollziehen möchte, wird auf der Webseite von Alexander Kluge fündig, der etliche Gespräche mit diesem führte. Bekanntlich heißt eins von Kluges Hauptwerken "Chronik der Gefühle".

So gibt es ein Gespräch vom 15. August 2011 mit dem Titel

Die Menschmaschine: Bestie Mensch

In diesem wird erläutert, dass gerade im Zeitalter der industriellen Revolution, die "Triebe im Menschen" als unheimliche Mächte neu entdeckt werden.

Schon hier ist angelegt, was nun offen zu Tage tritt. Das Werk von Joseph Vogl ist angesiedelt im Dreieck zwischen Verstehen des Wirtschaften auf dem neuesten Stand der Technik, der Analyse von damit verbundenen Gefühlen und Affekten sowie der Macht von Erwartungen und Phantasmen.

Gestern & Heute: Gefühle, Triebe und Gespenster im Kapitalismus

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Ich empfinde diese Argumentation selbst als vor allem Ressentiment getrieben….. Vogl steckt in seiner von ihm postulierten Falle ressentimentaler Kritik.

  2. Michael Praschma
    Michael Praschma · vor mehr als 3 Jahre

    Seitenblick: Auch dieser Beitrag ist wieder ein Beleg für die erstaunliche Qualität der Schweizer "Republik", die ja eines der ganz wenigen ausschließlich von Lesern finanzierten Onlinemedien mit Bezahlschranke ist.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      Das stimmt und Erich Kästner scheint das schon gewusst haben:

      "Vergiß in keinem Falle, auch dann nicht, wenn vieles mißlingt: Die Gescheiten werden nicht alle! (So unwahrscheinlich das klingt)"

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