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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Der wiederzuentdeckende Jahrhundertmann Hans Mayer

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergFreitag, 21.05.2021

Das Foto ist typisch für den Schriftsteller und Wissenschaftler Hans Mayer (1907-2001): Niemals trug er Jeans, immer Krawatte und Anzug. Ein Bilderbuchbürger auf den ersten Blick.

Hans Mayer füllte bei seinen Vorträgen bis ins hohe Alter große Säle.

Einiges von seiner mündlichen Erzählkraft und analytischen Schärfe findet man im Gespräch mit Beate Pinkerneil zum 80. Geburtstag, das auf dem Zeitzeugenportal zu finden ist. Dieses Stück aus dem Jahre 1987 ist das Zentrum dieses piqs, aber ich fand bislang keinen aktuellen Anlass, der durch die Erinnerung anlässlich seines 20. Todestages durch Benedikt Wolf von der Universität Bielefeld vorliegt. Und die zunehmende Aktualität einiger Bücher dieses außerordentlichen Autors. Hans Mayer rang sein ganzes Leben mit extremen Widersprüchen - inneren und äußeren.

Er war ein Homosexueller als das noch verboten war. Er war ein Jude, der floh, während ein Großteil seiner Angehörigen in der Shoah ermordet worden ist. Er war ein Kenner der Hochkultur und ein Linksradikaler (kein Extremist). Er glaubte an die Notwendigkeit einer nachkapitalistischen Gesellschaft und konnte mit vielen Linken seiner Zeit nicht zusammen arbeiten. Er war Antistalinist und deshalb in Opposition zu den Kommunistischen Parteien.

Er verband Zeitzeugenschaft, Erzählung und Philosophie mit tiefen historischen Bohrungen.

Im Fernsehgespräch analysiert er, warum die Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 nicht nur für Juden die große Zäsur im 20. Jahrhundert ist.

Nicht nur der Gegensatz der Supermächte im Kalten Krieg ging aus dem Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition hervor, sondern auch viele Konflikte im Nahen Osten.

Der studierte Jurist, der selbsternannte "Kommunist ohne Parteibuch" hatte heute noch bekannte Lehrer: von Hans Kelsen über Max Horckheimer bis zu Carl Jacob Burckhardt.

Als das Hauptwerk von Hans Mayer gilt sein Buch Außenseiter. Es beginnt, hier nachzulesen in der Leseprobe, mit diesem Paukenschlag:

Dies Buch geht von der Behauptung aus, dass die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist. Dem wird kaum widersprochen werden, wenn man der Gleichheitspostulate gedenkt. Formale Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht mit der materialen Egalität einer gleichen Lebenschance zu verwechseln, eignet sich vielmehr, wie die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft demonstriert, vorzüglich zur Verhinderung. ... Scheitern einer bürgerlichen Aufklärung muss nicht den Bankrott des aufgeklärt-humanistischen Denkens bedeuten.

Weil Hans Mayer ein wichtiger Zeitzeuge eines extremen Jahrhunderts war und zugleich ein Denker einer Diversität, die nicht in Schwarz-Weiß-Schemata verbleibt, ist er hochaktuell. Ein Mann unserer Zeitfragen.

Benedikt Wolf begründet seine Forderung zur Wiederentdeckung so:

Mayers Ansatz führt ... Formgeschichte mit soziologischen Fragen in einer innovativen Weise eng, die nach ihm kaum je mehr erreicht wurde. Literatur scheint so auf als ein Ort, an dem der dialektische Prozess der Kritik sich vollzieht und an dem eine utopische Überschreitung der Defizite der Aufklärung denkbar wird. Mit einem solchen Forschungsprogramm kommt man woanders an als die damalige bundesdeutsche Linke. Nicht zuletzt an seinen Ausführungen »Judenhass nach Auschwitz« lässt sich die Unbestechlichkeit von Mayers Argumentation ablesen. Schon 1975 formuliert Mayer die Erkenntnis, dass sich nach der Shoah und mit der Gründung Israels »die Antithesen der einstigen ›Judenfrage‹ ins Weltpolitische erweitert« hätten. Gegenüber dem »jüdischen Außenseiterstaat« komme es seitdem (und kommt es bis heute) immer wieder zu »Klauseln zugunsten der Existenz dieses Staates«, das heißt zu »Bekenntnissen zur Nichtvernichtung«, die in der Form der Verneinung den Vernichtungswunsch ausdrücken. »Wer den Zionismus angreift, aber beileibe nichts gegen die ›Juden‹ sagen möchte, macht sich oder andern etwas vor.« Dieser Satz Mayers stimmte damals und er stimmt heute nicht minder. Er entstammt einem Projekt der Aufklärungskritik, das mit den heute modischen Absagen an die Aufklärung nichts gemein hat, sondern konsequent Partei für die Außenseiter ergreift, ohne die Aufklärung zu verraten.

20 Jahre nach seinem Tod muss man sich Mayer-Leserinnen wünschen.

Und vielleicht beginnen diese damit, ihm im Gespräch zuzuhören.

Gestern & Heute: Der wiederzuentdeckende Jahrhundertmann Hans Mayer

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