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Zeit und Geschichte

Eine verrohte Gesellschaft mit Opfermentalität

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 23.01.2023

Warum hat die Mehrheit der russischen Gesellschaft kaum Mitleid mit ihrem angeblichen ukrainischen Brudervolk?

Dieser Frage spüren Lew Gudkow und sein Institut nach.

Lew Gudkow ist ein mutiger Mann. Lew Gudkow ist ein alter weiser Mann.

Der 76-Jährige leitet, immer noch in Moskau arbeitend, das Lewada-Zentrum. Es ist das einzige unabhängig arbeitende russische Meinungsforschungsinstituts. Nicht unmöglich ist es, dass der Sozialwissenschaftler – während Sie dieses Gespräch lesen – verhaftet wird oder nun doch flieht.

Oder: dass das Institut aufgelöst wird.

Die Geschichte solcher Einrichtungen, die am Ende der Sowjetunion oder Anfang der 1990er-Jahre entstanden, scheint zu Ende zu gehen. Oder zumindest unterbrochen zu werden.

Lew Gudkow erklärt im Gespräch mit Christina Hebel, warum eine Mehrheit in Russland kaum Mitgefühl mit den Ukrainern hat. Er beschreibt mit historischer Tiefenschärfe eine verrohte Gesellschaft mit Opfermentalität.

Neben der frei zugänglichen englischen Fassung gibt es eine deutsche Übersetzung hinter einer Bezahlschranke hier und über Blendle.


Der Krieg hat Mechanismen in der Gesellschaft offengelegt, die seit Sowjetzeiten bestehen. Aus Gewohnheit identifizieren sich die Menschen mit dem Staat, übernehmen seine Rhetorik über den Kampf ihres Vaterlands gegen den Faschismus und Nazismus wie zu Sowjetzeiten, um die Lage zu rechtfertigen. Das alles ist schon lange in den Köpfen der Menschen vorhanden, die Propaganda aktiviert diese Muster.

Sie blockieren jegliches Mitgefühl und Empathie für das, was in der Ukraine passiert. Das gibt es nur für die eigenen toten und verwundeten Soldaten, »unsere Männer«.

Unheimliche Fäden verbinden den Putinismus mit dem Stalinismus.

Ein teilweiser Rückfall in sowjetische Zeiten sieht man in der Rückkehr einer strengen Zensur unter gänzlich veränderten medialen Gegebenheiten:

Facebook, Twitter sind blockiert, dazu sehr viele Internetmedien. Der Anteil derjenigen, die wissen, wie sie die Blockaden durch VPN (Dienste, die eine verschlüsselte Onlineverbindung herstellen – Red.) umgehen können, ist zwar von etwa 6 bis 8 Prozent auf 23 Prozent angestiegen, aber immer noch klein. ... Für die deutliche Mehrheit, vor allem die älteren Russen, sind die einzigen maßgeblichen Informationsquellen die staatlichen Fernsehsender.

Freilich, viele Junge sind besser informiert und gerade Männer im wehrfähigen Alter wollen den Krieg nicht, wollen nicht kämpfen, aber auch keine Verantwortung übernehmen:

Es erinnert mich alles an das Verhalten der Menschen in der Sowjetunion, als sie in die Kolchosen zum Ernteeinsatz geschickt wurden. Niemand von den Studenten mochte es, Kartoffeln aus den Böden zu holen. Aber sie machten es dennoch, weil sie wussten: Widerstand und offener Protest führen zur völligen sozialen Ausgrenzung.

Immer wieder gibt es Vergleiche mit der Sowjetunion, aber neben Ähnlichem gibt es gravierende Unterschiede:

Meiner Meinung nach ist der »Putinsche« Mensch eine Fortsetzung des sowjetischen Menschen, aber ersterer ist zutiefst zynisch, verwirrt und orientierungslos.

Der Sowjetmensch wusste, dass das Leben nicht reich war, es ständig an etwas fehlte, sei es an Waren oder Abwechslung. Aber er glaubte, dass die Dinge mit der Zeit besser werden würden – dieser von oben verordnete Optimismus war essenziell.

Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr, die Macht ist diskreditiert: Sie gilt als korrupt und egoistisch, sie stellt sich über das Gesetz und behandelt die Menschen als austauschbares Material.

Die Schuld am Krieg wird beim Westen, vor allem den USA, gesehen. Oder bei EU oder NATO. Als souveräner Staat wird die Ukraine nur von wenigen verstanden.

Gut und schön, könnte man einwenden, wie aber kann man in einer Diktatur verlässliche Meinungsumfragen erstellen? Antworten nicht nur kritische Geister und die Mehrheit bleibt stumm? Wie genau sind daher die ermittelten Daten?

Wir betreiben einen großen Aufwand, um die Zuverlässigkeit unserer Daten zu überprüfen. Wir führen in der Regel statt kurzer, zehnminütiger Telefongespräche persönliche Befragungen durch, die etwa eine Stunde dauern. Unsere Interviewer bauen in solchen Umfragen zunächst Vertrauen auf, damit den Befragten der Sinn der Fragen deutlich wird. Sie wiederholen Fragen, um abzuklären, wie verlässlich die Antworten sind. Die Menschen haben keine Angst zu antworten, das ist ein totales Missverständnis. Die Antwortrate hat sich in den letzten Monaten nicht so sehr verändert: Sie liegt bei 24 bis 26 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland ist sie etwas höher, bei 28 bis 33 Prozent.

Vieles deutet darauf hin, dass die Zeit des Aufstands nicht gekommen ist. Alle Zeichen deuten auf einen langen Krieg.

Eine verrohte Gesellschaft mit Opfermentalität

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Kommentare 1
  1. Juliane Hobe
    Juliane Hobe · vor fast 2 Jahre

    https://www.reddit.com...
    ein Link zur englischen Fassung

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