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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Nicht nur allein wegen des Krieges in und um die Ukraine ist die Welt mal wieder aus den Fugen. Für Shivshankar Menon, einen renommierten indischstämmigen Sicherheitsberater und Wissenschaftler liegt der Grund woanders. Die großen Mächte sind nicht mehr am Erhalt der bisherigen Weltordnung interessiert und es ist unklar, wohin das führt.
Am Beispiel der USA erläutert er die bisherigen Metamorphosen seit 1945:
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die Führungsmacht zweier Weltordnungen. Die erste war keynesianisch geprägt und interessierte sich nicht sonderlich dafür, wie die Staaten in der bipolaren Welt des Kalten Krieges ihre inneren Angelegenheiten regelten. So war es möglich, dass in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren das sozialistische Indien die meisten Hilfen von der Weltbank erhielt.
Nach dem Kalten Krieg wurde diese Ordnung durch eine neoliberale abgelöst, die in der nunmehr unipolaren Welt die nationale Souveränität und die Ländergrenzen ausblendete, wenn es sein musste. Beide Ordnungen erhoben den Anspruch, „offen, regelbasiert und freiheitlich“ zu sein und die Werte der Demokratie, der sogenannten freien Märkte, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten.
Allerdings gründeten beide Ordnungen bei allen Unterschieden auf der Hegemonie der USA. Bis vor wenigen Jahren hielt sogar das aufstrebende China daran fest. Diese Zeit ist aber nun vorbei – unwiderruflich. Etliche einflussreiche Staaten wandelten sich zu revisionistischen Mächten, was sich an Grenzverschiebungen zeigt.
Besonders die Staaten des Globalen Südens, so unterschiedlich und zerklüftet diese Länder sind, verlieren rasant das Vertrauen:
Sie erleben, dass die Vereinten Nationen und dass Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank, Welthandelsorganisation sowie die G20 nichts gegen ihre Entwicklungsprobleme und – noch dringlicher – gegen ihre Schuldenkrise unternehmen, die durch die Coronapandemie und den steilen Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise infolge des Ukrainekrieges noch zusätzlich verschärft wird. Laut IWF sind inzwischen mehr als 53 Länder von schweren Schuldenkrisen bedroht.
Für Shivshankar Menon bilden sich in planetarischer Sicht keine neuen Blöcke, deshalb sei es irreführend, von einem neuen "Kalten Krieg" zu sprechen. Die Welt wird vielmehr fragmentierter und verliert ihren Zusammenhalt. Deshalb entstehen Pläne für innere, autarke Ordnungen.
Diesen Weg haben in den vergangenen Jahren China, Indien, die USA und andere Staaten gewählt. [...] China mit seinem Entwicklungsmodell des „dualen Kreislaufs“, Biden mit der Build Back Better-Agenda und Indien mit der von Premierminister Narendra Modi propagierten atmanirbharta (Selbstständigkeit). Die Staaten wollen jedoch nicht nur wirtschaftlich unabhängiger, sondern auch militärisch sicherer werden. [...] Trotz der wirtschaftlichen Belastungen durch die Coronapandemie haben die weltweiten Verteidigungsausgaben 2021 erstmals die 2-Billionen-Dollar-Marke überschritten.
Regionale Kooperationen können nützlich sein, aber nur eine neue globale Ordnung kann die grundlegenden Fragen beantworten und Konflikte lösen, nicht zuletzt, sondern an erster Stelle die Klimakatastrophe.
Was tun?
So brillant die Analyse von Shivshankar Menon ist, kann er keine schnelle Antwort geben. Der Wissenschaftler erwartet stürmische Zeiten ohne Ziel.
Alle maßgeblichen revisionistischen Mächte wollen die internationale Ordnung verändern, weil ihre von Streit geprägte Innenpolitik es so verlangt, aber keine dieser Mächte hat eine überzeugende Vision, worin diese Veränderung bestehen könnte. Das sich rasch verändernde Kräftegleichgewicht dürfte auf lange Sicht ebenfalls nicht als Basis für eine stabile Ordnung taugen. Stattdessen werden die Großmächte sich vermutlich von einer Krise zur nächsten durchwurschteln. Ihre Unzufriedenheit mit der internationalen Ordnung und miteinander wird indessen weiterwachsen – ohne Richtung oder Ziel.
Ich empfehle die gekürzte deutsche Fassung des Beitrags, den man auch im englischen Original in voller Länge lesen kann: „Nobody Wants the Current World Order“.
Quelle: Shivshankar Menon Bild: DPA www.ipg-journal.de
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Ja, sehr spannend. Aber können Ordnungen Ansprüche erheben? Oder sind es die Ordnungsmächte, die solche Regeln/Ziele durchsetzen? Und die anderen folgen, solange das Kräfteverhältnis ein Abweichen schwierig macht und/oder sie Vorteile haben.Ist es die relative und absolute Schwäche des Westens (mit seiner zunehmende Dekadenz und Scheinheiligkeit), die es schwer macht, die "Werte der Demokratie, der sogenannten freien Märkte, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit" durchzusetzen?
Danke für diese sehr interessante Perspektive aus Indien. Sie beschreibt gut, warum in dieser Weltlage die europäischen Staaten viel stärker in der EU zusammenarbeiten müssen, wenn sie ihre Interessen einigermaßen wahren wollen.