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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Der Neoliberalismus ist eine Selbstbezeichnung - das unterscheidet ihn von vielen anderen geistigen Strömungen, die von anderen im nachhinein benannt worden sind.
Theresia Enzensberger, die einige noch hier von Piqd kennen, nähert sich dieser wirkmächtigen Ideologie in Form einer Reportage.
Sie reist dorthin, wo alles begann:
Hier, im ehemaligen «Hôtel du Parc» trafen in der Osterwoche 1947 39 Wirtschaftswissenschaftler, Journalisten, Historikerinnen und Philosophen zusammen – eine Gruppe bedeutender Köpfe, die auf den weiteren Lauf der Weltgeschichte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben sollte.
Wenige dachten außerhalb dieses Zirkels wie wirkmächtig der Neoliberalismus einmal werden würde; bald gehörten der Mont Pèlerin Society fünf Regierungschefs und etliche Finanz- und Wirtschaftsminister an, ihre Mitglieder berieten und beraten in internationaler Thinktanks die Politik vieler Staaten.
Der sogenannte Wirtschaftsnobelpreis ist anders als die anderen Auszeichnungen nicht von Alfred Nobel gestiftet, was aber meist untergeht. Eigentlich heißt diese von Neoliberalen gestiftete Auszeichnung "Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften". Kein Wunder, das bislang acht Mitglieder der Mont Pèlerin Society einen Nobelpreis erhielten.
Diese Verschleiungstaktik ist originär diesem Zirkel, der nur intern Klartext redet. So befand Friedrich Hayek, der den "Wirtschaftsnobelpreis" erhielt:
Die Frage, wie die Macht von Gewerkschaften angemessen eingeschränkt werden kann, sowohl rechtlich als auch tatsächlich, ist eine der wichtigsten Fragen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken können.
Theresia Enzensberger bringt viele sinnliche Details, die uns die Entstehung des Neoliberalismus plastisch vor Augen führen:
Wie Ola Innset in seinem Buch «Reinventing Liberalism» beschreibt, erinnert sich Dorothy Hahn, die junge Studentin aus dem ausgebombten London, noch heute daran, dass es beim Mittagessen Orangen gab. Sie hatte in ihrem Leben noch keine Orange gegessen und wusste nicht, wie man sie schält. Hayek kam ihr zu Hilfe, was Hahn ungemein peinlich war. Diese Anekdote sagt viel darüber aus, wie sehr die Tage am Mont Pèlerin von den Realitäten der Nachkriegszeit geprägt waren.
Heute gehört das ehemalige "Hôtel du Parc" dubiosen Geschäftsleuten, die aber gut dazu passen:
Eine kasachische Oligarchenfamilie, die der Geldwäsche bezichtigt wird. Der ehemalige Bürgermeister von Almaty, der sich während der rapiden Privatisierung postsowjetischer Staaten massiv bereichert haben soll. Ein russischer Mobster, der mit Donald Trump Immobiliengeschäfte macht.
Ein Belle-Époque-Hotel, das entkernt wird und als Kopie seiner selbst im Plattformkapitalismus wiederaufersteht.
Ihr Fazit, da der Neoliberalismus im Strom der Geschichte sich wandelte:
Eines jedenfalls ist sicher: «An der Macht befindliche Verrückte», wie es bei Keynes heisst, nehmen keine Rücksicht auf die Feinheiten akademischer Differenzierung. Das intellektuelle Erbe ist unkontrollierbar. Selbst die ernsthaften, Zigarre rauchenden Begründer der Mont Pèlerin Society waren dazu nicht in der Lage. Denn die Macht der Ideen liegt ja gerade in ihrer Veränderlichkeit.
Eine Idee ist kein Fixpunkt, sie existiert nicht im luftleeren Raum, sie ist angewiesen auf Auslegung und Interpretation. Und so spiegeln sich die Ideen des Neoliberalismus in allen glänzenden Oberflächen des «Pèlerin Palace».
Für diese ungewöhnliche Darstellung kam Theresia Enzensberger auf die Shortlist des WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2022.
Wer es stärker analytisch haben will, ist im Beitrag HAYEKS BASTARDE. DIE NEOLIBERALEN WURZELN DER RECHTSPOPULISTEN gut aufgehoben, der ebenso in der Reihe in der "Republik" erschien, in der auch Theresia Enzensbergers essayistisch angereicherte Reportage erschien.
Der Wirtschaftswissenschaftler Quinn Slobodian erläutert darin die Verbindungen zwischen Neoliberalen und Rechtsextremen.
Vielmehr stellten sie (die Neoliberalen, A. E.) fast ein Jahrhundert lang Überlegungen an, wie der Staat neu gedacht werden muss, um die Demokratie einzuschränken, ohne sie abzuschaffen, und wie nationale und überstaatliche Institutionen benutzt werden können, um Wettbewerb und Handel zu schützen.
Wenn wir Neoliberalismus als ein Projekt verstehen, den Staat umzubauen, um den Kapitalismus zu retten, dann beginnt sich sein angeblicher Widerspruch zum Populismus der Rechten aufzulösen.
Quelle: Theresia Enzensberger, Quinn Slobodian www.republik.ch
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