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Zeit und Geschichte

Antisemitismus: Die Schattenseite der postkolonialen Theorien

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerMontag, 04.03.2024

Mit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist die Debatte über postkoloniale Denkgebäude neu aufgebrandet. Es ist zwar sympathisch, dass sich die Theoretiker auf die Seite der Unterdrückten stellen oder ohnehin dort stehen, aber beim Blick auf den Nahost-Konflikt folgen sie bis heute holzschnittartigen und viel zu oft antisemitischen Schablonen, ohne dies sonderlich schlimm zu finden. Während manche noch meinen, diese Theorien vor jeglicher Kritik in Schutz nehmen zu müssen wie Simoné Goldschmidt-Lechner am 18. Januar im Deutschlandfunkkultur, schauen andere mittlerweile genauer hin, ohne deshalb alles zu verwerfen. Gepiqd habe ich einen Essay des Soziologen Jens Kastner, der in der taz erschienen ist. Kastner erinnert an einen "ureigenen Anspruch" der Postcolonial Studies, dem diese nicht gerecht würden. Dass die postkolonialen Theorien untergehen, ist nicht anzunehmen, aber wenn sie hierzulande nicht völlig in Verruf geraten wollen, dann müssen sie sich ihren Schattenseiten stellen. Kastners Essay ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Antisemitismus: Die Schattenseite der postkolonialen Theorien

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Kommentare 8
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 9 Monaten

    Naja, es ist schwierig auf wenig Raum in einer aufgeheizten Debatte etwas Sinnvolles zu schreiben.

    Allerdings werden auch in Zukunft im Nahen Osten Juden als "Weiße" erkannt, weil sie es mehrheitlich sind. Selbst wenn es schwarze Juden gibt, ist Israel von Opfer der Shoah und deren Nachkommen aufgebaut worden. In den besetzten Gebieten leben so viele mit sowjetischen Wurzeln, dass es russische Läden gibt.

    Die internationale Debatte und Kritik läuft auf einem höheren Niveau - schon lange vor dem 7. Oktober. Hier ein Beispiel: https://jacobin.com/20...

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 9 Monaten

      Da geht es aber nur um Said und nicht um antisemitische Klischees in den postkolonialen Theorien.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 9 Monaten

      @Dirk Liesemer Es gab schlimme antisemitische Vorfälle, aber ob davon jenseits von "AktivistInnen" einschlägige Werke betroffen sind, bezweifele ich.

      Ich nahm Said heraus, weil er einen der Gründungstexte geschrieben hat und die oben verlinkte Kritik erscheint mir plausibel.

      Die von Jens Kastner jedoch nicht. Im Abschnitt über Said heißt es: "Doch Jüdinnen und Juden als Weiße zu klassifizieren, leugnet nicht nur die Kontinuität des Antisemitismus."

      Das ist so eine Meinung, die einfach an der Wirklichkeit vorbeigeht. Ich weiß, dass es schwarze und asiatische Juden gibt, aber vorherrschend sind in Israel "weiße" Juden. Warum sonst vermutet man, und ich meine sowohl Araber wie Israelis, in mir einen Juden zu erkennen?

      Und ich lese so etwas nur in deutschen Medien. Oder kennst Du Beispiele aus dem englischsprachigen Raum?

    3. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 9 Monaten · bearbeitet vor 9 Monaten

      @Achim Engelberg Bei dem Begriff "weiße Juden" geht es ja nicht um eine Hautfarbe, vielmehr ist es eine Chiffre für "weiße", also europäische Überheblichkeit, siehe https://internationale... Es geht um die (aus meiner Sicht absurd-vereinfachende) Frage, auf welcher Seite man Juden verorten sollte: auf der Seite der Unterdrücker oder der Unterdrückten?

      Und ja, es ist sicher so, dass die Debatte, wie viele antisemitische Klischees in postkolonialen Texten stecken, hierzulande schärfer geführt wird als anderswo in der Welt, aber in Deutschland herrscht sicher auch mehr Sensibilität als, sagen wir, in Südafrika oder Indonesien.

      Ein Akademiker, dessen Name im taz-Text nicht fällt, aber über den heftig gestritten wurde, ist A. Dirk Moses, siehe etwa hier https://www.faz.net/ak... (den Autor des FAZ-Stücks, Stephan Malinowski, kennst Du sicher, oder?)

      Ansonsten werden im taz-Text von Jens Kastner doch einige Intellektuelle genannt: Gayatri C. Spivak, Walter D. Mignolo, Ramón Grosfoguel.

      Und nicht zu vergessen die höchst umstrittene Frage, die gerade in postkolonialen Kreisen debattiert wird: Gibt es eine direkte Linie von Windhuk nach Auschwitz? https://taz.de/Konzent...

    4. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 9 Monaten · bearbeitet vor 9 Monaten

      @Dirk Liesemer Mir ist schon klar, dass es um weiß hier nicht bloß um weiß geht. Aber dann wieder doch.

      Die ungenaue Sprache zeigt hier auch das ungenaue Denken.

      Meine Versuche, Moses zu lesen, scheiterten. Das ist wie der Antipode Kastner Denkschlamm.

      Mir geht es nur um einige zentrale Denker wie Said oder Stuart Hall. Die beschäftigten sich auch nicht um direkte Linien von Windhuk nach Auschwitz. Bei Zimmerer ist übrigens ein Fragezeichen.

    5. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 9 Monaten

      @Achim Engelberg Zimmerer ist in der Tat ein Kapitel für sich.

    6. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 9 Monaten

      Für die Einordnung der in Kastners Artikel aufgeworfenen Fragen – mehr noch für das Verständnis des Nahostkonflikts und seiner Wahrnehmung in Europa – hilft vielleicht dieses:

      Im Vermächtnis des britischen Rabbiners Jonathan Sacks befindet sich seine Keynote Speech auf dem Interreligiösen Dialog des Europäischen Parlaments 2016 – „Zur Zukunft der jüdischen Gemeinden in Europa“.
      Sacks‘ präzise Sprache erklärt den Antisemitismus derart komprimiert, wie ich es noch nie zuvor gehört habe.

      Auf postkoloniale Studien geht er nicht explizit ein, sagt aber, dass der Antisemitismus langsam die Ultralinken, Ultrarechten, akademische Kreise, Gewerkschaften und sogar einige Kirchen infiziert hat.
      „Europa, das sich selbst vom Virus des Antisemitismus geheilt hat, wird erneut von einigen Teilen der Welt angesteckt, die niemals diese Selbstabrechnung durchgemacht haben, seit der Holocaust bekannt wurde.“

      Bezüglich der Kontinuität des Antisemitismus wird deutlich, dass er nie verschwand, doch trat er über die Jahrtausende und Jahrhunderte in unterschiedlichen Erscheinungsbildern auf. Eines blieb: die Juden waren immer schuld. Die Rassentheorie prägte den Antisemitismus der Nazis.

      Im ersten Teil der Rede zeigt Sachs, wie er Schulkindern den Unterschied zwischen legitimer Kritik am Staat Israel und dem Antisemitismus erklärt. Und im zweiten Teil gibt er eine einfache Erklärung zur Gruppendynamik (wobei er betont, dass es ein sehr komplexes Thema ist, was häufig auf schwarz und weiß reduziert wird).

      „Wenn einer Gruppe schlechte Dinge passieren, können ihre Mitglieder zwei verschiedene Fragen stellen. Erstens: ‚Was haben wir falsch gemacht?‘ Oder zweitens: ‚Wer hat uns das angetan?‘ Und was die gesamte Gruppe glaubt, wird davon abhängen, welche Frage sie wählt. ... Beim Antisemitismus geht es nur zweitrangig um Juden. Primär geht es um das Unvermögen von Gruppen, Verantwortung für eigenes Versagen zu übernehmen und ihre Zukunft mit eigener Anstrengung zu gestalten.“
      https://rabbisacks.org... (in englischer Sprache, 20 min)

      Die Veranstaltung wurde geleitet von Martin Schulz, dem damaligen EP-Präsidenten. Seine Rede kann man hier nachlesen: https://www.europarl.e...

    7. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 8 Monaten · bearbeitet vor 8 Monaten

      "Natürlich" werden Juden - besser: Israelis oft als 'weiß' gelesen.
      Sie werden aber dennoch als Minderheit als Nicht-"Arisch" gelesen. Wie Araber und Asiaten ja an sich auch.
      Je nach dem wie es dem Beobachter gerade passt...

      Und wie schwierig und paradox das oft war bzw. ist, sieht man an den Verrenkungen, die zb die Nazis anstellten, um anhand anderer körperlicher Merkmale doch noch ihre Rassenlehre "hinzukriegen" (Nase Schädelform etc.). Oder wenn Jahrhundertelang Rassisten Asiaten partout als 'gelb' und Indianer/Indigene als 'rot' bezeichneten.

      Wie sehr "wir" dem rassistischen narrativen verfallen sind bzw. Mit der Befreiungsidee / Bürgerrechtsbewegung über die (für uns in Europa) als "Umweg" zu sehenden postkolonialen Studien zum Antirassismus/Anti-Antisemitismus kamen, kann man auch an dem für deutsche Verhältnisse Verlegenheitsbegriff der People of Colour erkennen. (Türken Araber _Juden_ zt sogar Osteuropäer als PoC zu lesen, ist halt schon ein Kraftakt).

      Es erinnert mich an Sexismus bzw. Frauen-Diskriminierung:
      Sie sind nun wirklich keine Minderheit - sie werden aber (oft) so behandelt.

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