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Zeit und Geschichte

"Am Anfang war Amerika: Für Habermas" - Anmerkungen zum 95.

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergDienstag, 18.06.2024
Über Jahrzehnte gab es in Europa – bei allen Krisen und Konflikten – ein West und Ost verbindendes singuläres Jubiläum: den Sieg über Nazi-Deutschland, den Tag der Befreiung des Kontinents vom Faschismus.

So beginnt Albrecht von Lucke seinen Würdigungsartikel zum 95. Geburtstag von Jürgen Habermas, der am 18. Juni 1929 auf die Welt kam.

Doch seit diesem Jahr gehört auch die Gemeinsamkeit des Erinnerns in Europa endgültig der Vergangenheit an.

Diese Befreiung war das zentrale Erlebnis des 16jährigen Habermas, der ein vielgestaltiges Werk schuf. Er prägte die alte Bundesrepublik stärker als seine Lehrer Adorno und Horkheimer. 

Allerdings sei eine Anmerkung eingefügt: Seine Lehrer schrieben ein besseres Deutsch und dachten kritischer. Vor allem durch letztes konnten sie nicht mehrheitsfähig werden. So erwarb sich Jürgen Habermas gerade durch sein Handicap große Verdienste um die politische Kultur der alten Bundesrepublik und deren Liberalisierung. 

Der Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Habermas gehört zum Herausgeberkreis, bettet prägnant Leben und Werk dieses prägenden Intellektuellen in die politische Geschichte.

Am Anfang war Amerika: Für Habermas, der den Einzug der US-amerikanischen Soldaten in seiner Heimatstadt Gummersbach als „eine Befreiung, historisch und persönlich,“ erlebte, war es die demokratische Urerfahrung, lebensweltlich wie politisch, weshalb der Vorwurf des Antiamerikanismus gegen ihn stets absurd war. „Go west“ bedeutete für Habermas: Erst kam das Erlebnis Amerikas, zu Beginn in der Heimat, später auch an zahlreichen US-Universitäten, und erst dann, auch als Korrektiv irregeleiteter Vereinigter Staaten, das Engagement für Europa, aber beides stets auf Basis seiner Grundprämisse: Kommunikation und Verständigung als universalistisches, demokratisches Antidot gegen das nationalistische Freund-Feind-Denken.

Die politischen Interventionen von Habermas bleiben markante Signaturen der Epoche. 

Blind ist der Sozialphilosoph dabei nicht für Verbrechen des "Westens", den er in seiner Gespaltenheit darstellt, den Widerspruch zwischen imperialen Interessen und wertegeleiteter Außenpolitik sah und sieht er:
„Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern“, lautete sein Verdikt nach dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg, der die Spaltung des Westens zur Folge hatte. Gegen den „hegemonialen Unilateralismus“ der neokonservativen Bush-Regierung forderte Habermas ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, dessen Kern die Vertiefung der EU in universalistischer Absicht vorantreiben solle.

Wie steht es aber um den Zukunftsgehalt des greisen Denkers?

Albrecht von Lucke bleibt zuversichtlich:

Denn mehr noch als zu Zeiten des Kalten Krieges verlangen die eigentlichen Jahrhundertaufgaben, Klimakrise, globale Ungleichheit und Migration, nach friedlicher Koexistenz. Richtig bleibt daher: Wir dürfen uns mit dem Kriegszustand nicht arrangieren. Wenn Krieg (gerade auch unter ökologischen Vorzeichen) die „ultima irratio“ ist, wie es Willy Brandt in seiner Dankesrede für den Friedensnobelpreises 1971 in Oslo auf den Punkt brachte, dann darf es keine Gewöhnung an diesen Zustand geben, gilt es immer auch den Austritt aus dieser maximalen Unmündigkeit zu denken. Frieden als Zielsetzung bleibt die ultima ratio.

In der heutigen Welt in Unordnung, Zerrüttung und Aufruhr ist tatsächlich eine verrechtlichte Friedensordnung wünschenswert.

Wichtigste Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden sind in dieser Tradition das Völkerrecht und ein föderaler Staatenbund. Dieser Gedanke, der sich von Kant bis in das 20. Jahrhundert und die Ideen von Völkerbund und Vereinten Nationen als legitimen überstaatlichen Friedensstiftern zieht, ist das große politische Projekt der Moderne, dem sich historisch betrachtet erst der Liberalismus und später die freiheitliche Linke verschrieben hat. Diese gleichermaßen liberale wie linke Traditionslinie reicht daher von Immanuel Kant über Woodrow Wilson und Willy Brandt bis zu Jürgen Habermas.

Wie aber kann das heute fortgesetzt werden, wenn die faktenbasierte Wahrheitsanspruch technologisch unterlaufen werden kann?

Mit der zunehmenden Ununterscheidbarkeit zwischen fact and fiction, zwischen Original und Fälschung, bleibt der wechselseitige Wahrheitsanspruch auf der Strecke, der für jede gelingende Kommunikation existenziell ist – und damit auch die conditio humana, um deren Verteidigung es Habermas letztlich geht. Mit diesem dialektischen Umschlag in Lüge und Unvernunft – auf einer „vollends aufgeklärten Erde, die strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Horkheimer und Adorno) – droht das universalistische Fortschrittsversprechen des Westens zu scheitern, wird aus Verständigung wieder Feindschaft und Unterwerfung. Damit aber bleibt das unvollendete Projekt des Jürgen Habermas das Projekt der Moderne selbst, aber auch ihr Problem – und damit der unabgegoltene Auftrag an uns alle.

Hier stellen sich weitere drängende Frage nach den Erfahrungen von 1989 nach über drei Jahrzehnten: Wie ist das ohne einen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Formationswechsel zu schaffen? Wie kann das westliche Projekt der unvollendeten Moderne den Osten erreichen? In der bisherigen Geschichte war jeder grundsätzliche Systemwechsel gewaltsam. Warum sollte das diesmal anders sein?

Und längst gibt es produktive Intellektuelle, die 1989 als Zäsur erlebten wie Jürgen Habermas 1945.

Dennoch: Selbst mit 95 Jahren bleibt der am Starnberger See lebende Denker produktiv, so erscheint im September ein neues Buch mit dem Titel "Es musste etwas besser werden...".

Ein Würdigungsartikel kann viele offene Fragen, die 1989 stellte und die Habermas nicht mehr beantworten kann, nicht aufgreifen. Deshalb hier ein Gespräch mit der 1979 in Tirana in Albanien geborenen, heute in London lehrenden Lea Ypi als Beispiel für die Erben, die häufig dort ansetzen, wo Habermas im Jahre 1973 endete: "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus".

"Am Anfang war Amerika: Für Habermas" - Anmerkungen zum 95.

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