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Volk und Wirtschaft

Zeitgeister - Gespräche zur Zeit

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlDienstag, 09.02.2021

Diese Seite verwirrt zunächst und fordert dann heraus. Nicht nur die Navigation ist gewöhnungsbedürftig. Gespräche oder Interviews mit (bis zum Ende des Jahres 21) spannenden Menschen (zehn sind es schon), von Daniel Barenboim, Kevin Kühnert über Hartmut Rosa und Peter Sloterdijk bis hin zu Gregor Gysi oder Ursula von der Leyen. Ja, 

Diese Seite ist eine Zumutung. Sie glaubt an ihre Leser. Auf der Suche nach einer Form, die ihrer Zeit gerecht wird, erschließt sie die Horizontale als zweite Gesprächsdimension.

Verknüpfungen von oben nach unten im jeweiligen Gespräch selbst und nach links und rechts zwischen den Gesprächen. Aber nicht nach links-rechts Schemata. 

Nehmen wir Peter Sloterdijk und sein Urteil über den Staat im Verordnungsrausch, der so unter demokratischen Normalverhältnissen nicht vorkommt:

Die Bundesrepublik kennt zwar keinen Paragraphen 48 wie die Weimarer Republik, der es erlaubte, am Parlament vorbei mit Notverordnungen zu regieren. Durch analoge Mechanismen, zum Teil vorbereitet durch die umstrittenen Grundgesetzänderungen von 1968, kamen wir diesem Zustand ziemlich nahe – wenngleich in einer Gesamtlage, in der die Demokratie unvergleichlich besser konsolidiert ist als 1930.

Dabei hat der Staat, so Sloterdijk, im vergangenen Jahr unvergeßliche Erfahrungen gemacht: 

unter anderem in der Geldpolitik und in puncto Fügsamkeit der Population unter Verordnungsregiment. In der sogenannten Geldschöpfung haben wir eine Enthemmung erlebt, wie sie seit den legendären Effekten der Jahre 1922/23 nicht mehr zu beobachten war. Damals hatte seitens des deutschen Staates offensichtlich a priori keine ernsthafte Rückzahlungsabsicht bestanden, was die Kriegsanleihen beim eigenen Volk betraf.

Daneben sagt Ursula von der Leyen dazu:

Ich spreche hier von einigen Billionen Euro, die bereits durch die Mitgliedstaaten in die europäische Wirtschaft gepumpt worden sind, und weiteren 1,8 Billionen, die durch »Next Generation EU« und den Europäischen Haushalt zur Verfügung gestellt werden, damit die Wirtschaft die Corona-Krise überwinden kann.

Noch weiter links bemerkt Gysi den sich wandelnden Zeitgeist:

In der Finanzkrise konnte der Bundestag innerhalb einer Woche 450 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, aber wenn du ein Milliönchen für eine Kindertagesstätte brauchst, ist das Geld nicht da. Die Leute können nicht mehr nachvollziehen, wieso immer nur den Großen geholfen wird – und es bei den Kleinen immer so schwer ist.

Auf die Frage ob die Politik einen  Primat über die Wirtschaft habe, antwortet Sloterdijk dann weiter unten - ja, wieder einmal. Auch wenn sie sonst immer behauptet, sie dürfe das nicht, die Wirtschaft habe den Vorrang.

Für diesen Primat war einmal ein kompakter Ausdruck in Gebrauch: Sozialismus. Solange sich offen so nennende Systeme existierten, erübrigte sich scheinbar die Diskussion darüber, was an erster, was an zweiter Stelle stehen soll. 

Aber, was den kalten Krieg gewonnen hatte, war nicht das angeblich alternativlose liberale ökonomische System – es war die westliche Variante des Primats der Politik mit ihrer entfesselten Rüstungspolitik, über die östliche. Und dieses westliche Primat der Politik sei nun erstarkt zurückgekehrt.

Auch bei uns herrschen zur Stunde semi-diktatoriale Verhältnisse, die offenlegen, was die Soziologen nicht gern und die Politiker schon gar nicht hören möchten: Unser System entspricht seit längerem einem okkultierten Semi-Sozialismus. Mit einer Staatsquote von plus minus fünfzig Prozent am globalen Wirtschaftsergebnis einer Nation läßt sich schwerlich behaupten, wir lebten in einer kapitalistischen Gesellschaft – obschon die Oberflächenprozesse und die entsprechenden Palaververhältnisse uns tagtäglich einreden, die Übermacht liege beim Unternehmertum, und dort besonders beim investiven Kapital. 

Kühnert und Gysi sehen das natürlich neben der Spalte von Sloterdijk völlig anders. Demnach hat der Staat wegen seines betriebswirtschaftlichen Denkens viel Zeit und Geld verschwendet, weil er nicht genug Masken bevorratet habe. Und da hat die Wirtschaft den Primat, weil so Gysi:  "Die Kanzlerin können Sie abwählen, nicht aber den Chef der Deutschen Bank."

Wie auch immer, mit 21Zeitgeister haben wir ein spannendes Instrument unterschiedliche Weltsichten zu vergleichen. Man kann die subtilen Verknüpfungen und Widersprüche finden, die die Macher der Seite gesetzt haben. Der Komplexität entspricht die Vielfalt der Sichten. Man kann sich entscheiden oder skeptisch bleiben  .....


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