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Volk und Wirtschaft

Pöbel, Populismus, Demokratie – eine schwierige Beziehung

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlFreitag, 04.12.2020
Der Populismus ist wieder in aller Munde – als eine Gefahr für die Demokratie. Korreliert damit auch die Angst von Teilen unserer intellektuellen Eliten vor dem Pöbel und seine „Beschimpfung" vornehmlich in Form von Pegida oder AfD? Der Artikel sucht die Spur der Begriffe und Zusammenhänge in der Geschichte und stellt u. a. die Frage:
Lässt sich über die Figur des Pöbels also eine den engen Zeitraum der Industriegesellschaft überdauernde Geschichte der unteren Klassen und vor allem ihrer Abwertung schreiben?
In der frühen Bundesrepublik erschien der Pöbel als etwas, das der Vergangenheit angehört. War doch mit dem Wechsel von der ständischen zur "ökonomisch-klassenmäßigen Sozialstruktur" das selbstbewusste Proletariat entstanden. Der Begriff des Pöbels wurde ungebräuchlich und bekam wieder die abwertende Bedeutung – etwa als der wirtschaftlich, intellektuell und sozial abgehängte Rest. Aber Zeiten und Bedeutungen ändern sich:
Heute klingt die Rede vom Proletariat, selbst die von der Arbeiterklasse für viele antiquiert, vom Pöbel hingegen ist wieder die Rede. 
Der Autor Roman Widder taucht zunächst ein in die Geschichte des Begriffs und charakterisiert ihn schon damals als eine Missachtungsformel, die früh im politischen und ökonomischen Kampf benutzt wurde:
Martin Luther etwa schrieb gegen die Bauern: »Der esel will schleg haben || vnd der pöffel will mit gewalt geregiert seyn || das wüßte Gott wol || darumb gab er der oberkayt nicht ainen fuchsschwantz || sonder ein schwert in die hand.« 
Der Pöbel – das waren hier also die revoltierenden Bauern, unter denen sich allerdings ebenso städtische Handwerker fanden. 
In der Frühen Neuzeit verwendete man daneben oft den präziseren und positiveren Begriff des »gemeinen Mannes« für den dritten Stand der Bürger und Bauern. Der Pöbel, das waren und blieben immer die anderen, nicht anwesenden, die unberechenbaren. 

So kam es in der frühen Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert in den Städten zu Konflikten bei der Einführung von Steuern auf Nahrungsmittel oder bei Geldkrisen. Auch Handwerksgesellen konnten streiken und das wirtschaftliche Leben der Kommunen lähmen. So wurde die Frage des öffentlichen Gewaltmonopols akut. Die Folge:
Erst die militante Gegenwehr gegen die polizeiliche Macht der Obrigkeit machte den gemeinen Mann in den Augen der Fürsten und Gelehrten zum Pöbel. Mit der Missachtungsformel des Pöbels wurde an den Gehorsam der Untertanen appelliert, an ihre Bereitschaft, in den engen Begrenzungen ihres Stands gottgefällig das eigene Schicksal zu ertragen – ein Appell, der in Krisenzeiten von städtischer Polizei und fürstlichen Armeen unterstützt wurde. Die Militanz des gemeinen Manns wurde durch die militärische und diskursive Disziplinierung des Pöbels beantwortet.
Wobei die "Gelehrten" und Dichter der frühen Neuzeit oft bemüht waren, durch die Verunglimpfung des gemeinen Mannes als Pöbel Anerkennung bei den aristokratischen Autoritäten zu finden.
Das Resümee des Autors zum Phänomen des Populismus – es ist eine unerwünschte Rückkopplung, eine Störung der elitären, von den Intellektuellen dominierten und abgeschotteten kommunikativen Strukturen moderner Gesellschaften.
Die Pöbel-Polemik taucht seit der frühen Neuzeit überall dort auf, wo die elitäre Segmentierung der Öffentlichkeit brüchig wird, und auch der sogenannte Populismus ist in diesem Sinn zuallererst das, was die saubere Hierarchisierung und Kontrolle kommunikativer Sphären durchkreuzt und herausfordert. 
Feedback durch den "Pöbel" (des nicht dem Ideal entsprechenden Volkes) ist dort nicht vorgesehen. Der hatte auch nie eine Möglichkeit, Feedback auf der kommunikativen Ebene mit vergleichbaren Kommunikationsmitteln einzubringen. Was sich vielleicht durch die sozialen Medien jetzt ändert.

Ein Beispiel aus der Neuzeit ist der Fall Claas Relotius', des Spiegel-Reporters,
der durch seine erfundenen Reportagen über amerikanische Provinzen, albanische Blutrache, jemenitische Gefangene oder deutsche Eltern behinderter Kinder Dutzende Preise gewonnen hat. Wie selten zuvor wurde hier die Geschlossenheit mancher Teile der publizistischen Öffentlichkeit deutlich, das heißt die Abwesenheit von Publikums-Rückkopplungen, das Fehlen von Feedback. Diejenigen, über die geschrieben wird, gehören auf geradezu konstitutive Weise nicht zu den Lesern und Leserinnen – wie sonst hätte der fiktive Charakter jener in die Gattung der Reportage gekleideten Erdichtungen unbemerkt bleiben können?
Gute Frage und Zeit, neu über das Volk nachzudenken.
Pöbel, Populismus, Demokratie – eine schwierige Beziehung

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 4 Jahre

    Klar. Pöbel sind immer die anderen. es ist allerdings nicht so dass es ihn gar nicht gebe in seiner negativen Form (der dann die Abwertungsformel zu recht trägt): einerseits der aggressive spontan entstehende Mob und andererseits der dem Populismus komplett anheim fallende Diskriminierende/othering-Machende.
    unabhängig davon: ja mir ist auch aufgefallen dass niemand mehr Proletarier sein will. Jeder ist irgendwie Mitte und wenn nicht, Prekariat (ohne Stolz klasse Existenzminimum und teilhabe).

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 4 Jahre

      Ich bin mir nicht sicher, ob der spontan entstehende Mob ein Privileg des Pöbels ist? Was wäre ein Mob? Eine Hetzmasse? Das was Elias Canetti oder Le Bon als die Masse (https://de.wikipedia.o...; https://de.wikipedia.o...) verstehen?

      https://de.wikipedia.o...

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