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Volk und Wirtschaft

Fußball als Spiegelbild unserer Gesellschaft

Anja C. Wagner
Bildungsquerulantin
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Anja C. WagnerSonntag, 25.07.2021

Letzthin wurde mir ein YouTube-Video empfohlen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht mein Themenschwerpunkt ist. In dem Ausschnitt aus der Sendung von Markus Lanz vom 7. Juli versucht sich die Gesprächsrunde an einer Bilanz des bescheidenen Abschneidens der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft. Hier verlinkt habe ich einen Artikel, der die gesamte Sendung recht umfangreich zusammenfasst. Ich beziehe mich allerdings nur auf das letzte Drittel dieses Artikels zur generellen Kritik am DFB.

Erfolgsverwöhnt und larmoyant 

Zunächst werden recht naheliegend der Trainer und die Motivation der Spieler kritisiert. Aber sehr schnell kommt die fachkundige Runde auf die systemischen Probleme zu sprechen, die in meinen Ohren stellvertretend für sehr viele gesellschaftliche Bereiche, auch in der Aus- und Weiterbildung, stehen. Es scheint mir fast ein beispielhafter Diskurs zu sein, was in diesem Lande eher schiefläuft. (Fettmarkierung durch mich):

Die Trainingsphilosophie ist nicht mehr zeitgemäß, führt Tabea Kemme weiter. Sie hat das schon in den letzten Jahren gemerkt und ist deshalb nach England gegangen. Deutschland ist Neuem gegenüber skeptisch gegenüber und trotzdem erfolgsverwöhnt. Eine Leistungsgesellschaft: Mit 14 Jahren werden viele in die Blase gesteckt, in der es nur noch Fußball gibt. Hier werden die jungen Spieler kaputt trainiert, übernimmt Ewald Lienen wieder. So perfektionistisch, dass vielen der Spaß genommen wird. Wo soll da eine charakteristische und starke Persönlichkeit mit Führungsqualitäten für eine Mannschaft herkommen? Zu früh werden die Jugendlichen groß, überfordert und ausgeschlachtet. Bei den Engländern ist hier ein ganz anderer Hunger auf Fußball. Es wird den deutschen Spielern jede Selbstständigkeit genommen, stimmt Tabea Komme zu. Woher sollen sie da wissen, worauf sie hungrig sind, wenn sie nicht einmal selbst merken, ob sie hungrig sind?

Könnte es sein, dass "wir" die Professionalisierung der arbeitsteilig ausdifferenzierten Bereiche so ins Maßlose geführt haben, dass zwar das Feintuning einzelner Eigenschaften bis ins perfektionistische Extrem gefördert wird, dabei aber die Seelen der Menschen auf der Strecke bleiben? Und sie dann restlos überfordert sind in Situationen, die nicht im kontrollierten, optimierten Zustand daherkommen?!

Das sind rhetorische Fragen meinerseits, denn meine These ist schon lange: Wir haben unser Bildungssystem gut optimiert für die alte Industriegesellschaft, in der das Gros der Menschen verbindliche, gute Arbeit in klar definierten Prozesslogiken abliefern musste. Heute aber, in der Informationsgesellschaft, die sich fundamental anders organisiert (sagen wir: agil), sind genau diese Menschen überfordert, Schritt zu halten mit den Veränderungen, weil dafür keine Handbücher und Top-Down-Aufträge existieren. Oder um es mit Ewald Lienen & Co. zu sagen:

Früher haben die Trainer erst langjährig Fußball aktiv gespielt, dann eine Mannschaft nebenbei mit trainiert und danach erst ging es ganz in den Trainerbereich. Heute wird ein Zertifikat erworben, ohne jegliche vorherige Erfahrung. Wir sehen uns immer noch als Weltklasse Nation, das sind wir aber nicht mehr, schlägt auch Tabea Komme in die Wunde. Oder die anderen sind eben auch Weltklasse … Deutschland ist aktuell von der Weltspitze ein ganzes Stück entfernt, bringt es Marcel Reif ganz auf den Boden der Tatsachen.

Es geht der Fokus auf die Mannschaft gänzlich verloren, erklärt Lucas Vogelsang. Irgendwann ist dieses Wort nur noch ein Slogan. Ein Hashtag. Ein Claim und keine Mannschaft im eigentlichen Sinne, weil keiner mehr weiß, was das eigentlich bedeutet. Nur noch ein Festhalten an Marketing-Idealen. Es wird eine bestimmte Atmosphäre hineingetragen wie die Klatschpappen, weil man selbst nicht mehr weiß, wie man klatscht.

Sorry, dass ich hier so viel zitiere, aber man kann es nicht besser ausdrücken, was in diesem Lande grundsätzlich falsch läuft. Es gibt kaum mehr Leidenschaft und reflexive Kompetenz, die bisherige Strukturen grundlegend infrage stellt. Es dominiert vielmehr PR-Geschwafel und Symbolpolitik das Geschehen. 

Im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie füllt dies viel Luft, hilft uns aber nicht, einmal querzuschießen oder einen Ball unvorhersehbar zu lupfen (um im Bild zu bleiben). Im Dribbeln auf engstem Raum waren "wir" noch nie gut, eher im Abarbeiten von Systemen. Das ist Qualität "Made in Germany", aber auch dieses PR-Bild scheint langsam ins Wanken zu kommen.

Fußball als Spiegelbild unserer Gesellschaft

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 3 Jahre

    Ich würde hat nicht so weit gehen und daraus gleich eine systemkritik zu formulieren - aber es tut dem Fußball gar nicht gut seitdem er Industrie und Geschäft geworden ist.

  2. wolle wo
    wolle wo · vor mehr als 3 Jahre

    Vielen Dank Anja,

    du bringst es mal wieder auf den Punkt - "Fussball ist unser Leben der König, Fussball regiert die Welt: wie der Kaiser (Beckenbauer) in den 6oigern gesungen hat"
    Mancher gibt dafür wirklich sein letztes Hemd.

    Zugegeben, als Rheinländer geht man/frau in die Kneipe und trinkt sein Kölsch, so ist es selbstverständlich sobald der Fernseher mit Fussball läuft wird man irgendwie mitgerissen. Ausserdem hat der Fussball mit Spielen schon liege nichts mehr zu tun. Die Jugend spielt in der Hoffnung entdeckt und Reich zu werden.

    Ps. habe vor ca. 20 Jahren Fussball abgeschaltet, da Bitburger mir inzwischen mind. 3 Fernseher durch ihre Dauerwerbung zerstört hat.

    LG
    wolle

  3. Michael Eisner
    Michael Eisner · vor mehr als 3 Jahre

    Ich komme ja nicht aus Deutschland...
    Improvisation und Spielfreude wären wichtig.
    Und Unernst und Hunger.
    Fussball ist ja eigentlich ganz egal. Soziales nicht, aber da fehlt auch der Mut mal anderes zu versuchen.

    1. Anja C. Wagner
      Anja C. Wagner · vor mehr als 3 Jahre

      Absolut. Bisserl Humor würde auch nicht schaden ;-)

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