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Volk und Wirtschaft

Der Kapitalismus, ein intellektuelles Artefakt ohne nennenswerte Resonanz in den Sprachräumen?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 01.03.2020
Der Autor beschreibt einen interessanten und radikalen Ansatz zur Analyse unserer Gesellschaft und unserer (Vor)Urteile sowie Ansichten darüber. Mit Hilfe von „Big Data" stellt er die Frage: Stimmen unsere „Großen Erzählungen" über unsere sozialen Umwelten mit unserer Kommunikation darüber überein?
In diesem Artikel wagen wir eine solche Einschätzung, indem wir einen tatsächlich großen Datensatz auf die Stimmigkeit der ihrerseits großen Erzählungen von der Säkularisierung, Ökonomisierung, Medialisierung und Politisierung von Gesellschaft prüfen. Dabei nutzen wir den Google Ngram Viewer, mit dessen Hilfe wir Zeitreihen-Diagramme für kombinierte Häufigkeiten von einschlägigen Stichwörtern im weltweit größten Online-Korpus, dem Google Books Korpus, erstellen und interpretieren. Am Ende der Untersuchung steht der Eindruck, dass gerade besonders trendige Gesellschaftstheorien Gefahr laufen, am Trend vorbei zu argumentieren.
Man nutzt Worthäufigkeiten, Wortnetze und die Präsenz von Autoren (z.B. Habermas vs. Luhmann)  im Google Ngram Viewer um daraus Schlussfolgerungen für deren Stellung in der gedruckten Kommunikation zu ziehen. Dabei geht es um die Analyse von Begriffen, die die „funktionale Differenzierung" unserer Gesellschaften in ihrer Entwicklungsgeschichte (1800-2000) widerspiegeln. Die Forscher gehen dabei von zehn Funktionssystemen aus, die für sie moderne Gesellschaftssysteme charakterisieren: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Recht, Sport, Gesundheit, Erziehung und Massenmedien. 
Die methodische Herausforderung besteht demnach darin, jedem dieser Funktionssysteme stimmige Suchwörter zuzuordnen, die es erlauben, die Karrieren der Funktionssysteme im deutschen Sprachraum zwischen 1800 und 2000 nachzuvollziehen.
Was sind die Ergebnisse? Zunächst zeigt sich, dass bei der kombinierten Worthäufigkeit das Stichwort "Politik" (mit den Suchbegriffen: politischen +Regierung +Staaten +Politik +Staat) bei weitem vorn liegt. Gefolgt von Recht, Wissenschaft, Religion, Erziehung und erst auf Platz sechs Wirtschaft (mit den Suchbegriffen: Wirtschaft +Kosten +wirtschaftlichen +Unternehmen +Geld). In den letzten etwa 30 Jahren liegt Wirtschaft jedoch unverändert hinter Politik und Wissenschaft auf Platz drei. Es zeigt sich also, 

1. Dass sich der Bedeutungszuwachs der Wirtschaft offenbar nicht wie gemeinhin unterstellt im 19. Jahrhundert ereignet hat,
2. Dass der Bedeutungszuwachs der Politik mit dem der Wirtschaft im gleichen Verhältnis steht und letzteren in seiner absoluten Bedeutung bei Weitem überragt,
3. Dass selbst in den Zeiten einer relativen Prominenz der Wirtschaft eben doch die Wissenschaft und nicht die Wirtschaft das zweiwichtigste Funktionssystem im deutschen Sprachraum ist.
Die Wissenschaftler schließen daraus, dass der deutsche Sprachraum weniger als ökonomisiert zu beschreiben ist, als vielmehr durch "Politisierung" charakterisiert wird. Das würde auch heißen:
Starke Definitionen des Kapitalismus als einer von der Ökonomie dominierten Gesellschaft können den deutschen Sprachraum demnach nicht adäquat beschreiben. Darüber hinaus scheinen auch Ideen von einer als "politische Ökonomie" gedachten kapitalistischen Gesellschaft insofern unrecht zu tun, als dass hier die entscheidende Rolle der Wissenschaft unterschlagen wird.

Weitet man den Untersuchungszeitraum bis 2008 aus, dann sieht man im deutschen Sprachraum eine weitere Annäherung der Ergebnisse für Politik und Wirtschaft - in den anderen Sprachräumen jedoch nicht. Das kann verschiedenes bedeuten:

  • Der deutsche Sprachraum beschreitet hier einen "falschen" Sonderweg
  • Der deutsche Sprachraum erfasst die Wirklichkeit (als einziger) besonders richtig
  • Deutschland entwickelte nach 1970 eine spezifische, kritische Kultur der Wirtschaftsanalyse in Bezug auf die Grenzen von Wirtschaft und Wachstum, die die Bedeutung der Wirtschaft im Sprachraum der Gesamtgesellschaft drastisch erhöht. 

In jedem Fall sind die Studienergebnisse Grund und Basis für weiteres Nachdenken -  mit "skeptischer Distanz, theoretischer Selbstironie und methodischem Spieltrieb". Also überhöhen wir hier zu Lande die Möglichkeiten von Politik ebenso wie die Gefahren der Wirtschaft? Unterschätzen wir die Funktion von Wissenschaft und Innovation? 


Der Kapitalismus, ein intellektuelles Artefakt ohne nennenswerte Resonanz in den Sprachräumen?

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