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Europa

Fünfzig Jahre Kniefall von Warschau: Ein "dolles" Ding

Ulrich Krökel
Osteuropa-Korrespondent / Piqer für DLF-Europaformate
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Ulrich KrökelSonntag, 06.12.2020

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal auf die Knie sank, um „für mein Volk um Vergebung zu bitten“, wie er es später selbst formuliert hat. Die Aussage steht gleich am Beginn von Andrzej Klamts 3Sat-Dokumentation über den Kniefall von Warschau und die Macht der Erinnerung. Damit ist der starke Ton für einen starken Film vorgegeben. Egon Bahr dagegen, lange Jahre Brandts engster Vertrauter, hat die welthistorische Szene und seine eigene Reaktion einmal mit folgenden Worten beschrieben:

Vor allem erinnere ich mich daran, dass ich den Kniefall selbst gar nicht gesehen habe! Ich hatte mich ein wenig im Hintergrund gehalten. Plötzlich wurde es mucksmäuschenstill und irgendjemand raunte:  „Er kniet…“ Die Bilder habe ich erst gesehen, als sie um die Welt gingen. [...] An dem Abend in Warschau haben wir einen Whiskey zusammen getrunken. Da habe ich nur gesagt: „Das war aber doll!“

"Doll" war es definitiv. Das zeigt auch Klamts Film noch einmal, der bei mir immer wieder Gänsehautgefühle ausgelöst hat. Nicht zuletzt bestand das Dolle darin, dass die wortlose Demutsgeste eine Vielzahl von Deutungsräumen eröffnet hat, die bis heute nicht abgeschlossen sind und nach historischer Selbstvergewisserung verlangen. Und das gilt keineswegs nur für Deutschland, wie die Äußerungen des polnischen Performancekünstlers Rafał Betlejewski zeigen. Er wollte mit einer Aktion auf den Verlust des jüdischen Lebens in Polen durch den Holocaust hinweisen. Überall im Land schrieb er an Mauern und Wände den Schriftzug: "Ich sehne mich nach dir, Jude." Betlejewskis Bilanz:

Mein Vorhaben ist gescheitert. Das Wort Jude ist [in Polen] bis heute genauso negativ besetzt und beleidigend, wie es vor zehn oder zwanzig Jahren auch war. Hier ändert sich leider nichts im Wesen der polnischen Kultur. [...] Das Wort Jude wird [auf den Mauern nachträglich] meist ausradiert, und das sehr präzise. Warum? Weil es in der polnischen Psyche nicht annehmbar ist. Das ist ein Wort mit einer solchen Last, voller Paranoia. Die Polen können das Wort an einem öffentlichen Ort nicht ertragen.

Kaum weniger deutlich und bedenkenswert sind die Ausführungen der deutschen Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann

Für mich ist [der Kniefall] ein paradoxes Ereignis. Willy Brandt hat den Anfang einer deutschen Erinnerungskultur gesetzt. Aber er hat auch gleichzeitig mit diesem Akt, mit dieser Erinnerungsgeste, etwas ins Vergessen hineinbefördert, und das ist das Verhältnis der Deutschen zu den polnischen Opfern. Er hat die jüdischen Opfer an dem Ort des Widerstands der Ghettokämpfer ganz stark in das Gedächtnis der deutschen Gesellschaft eingeschrieben und gleichzeitig einen anderen Aufstand ... ich würde fast sagen: ausradiert, ohne dass er das wollte, nämlich den [nichtjüdischen] Warschauer Aufstand ein Jahr später.

Andrzej Klamt lässt noch eine ganze Reihe weiterer prominenter Interpreten zu Wort kommen: den Regisseur Volker Schlöndorf, den Historiker Götz Aly, den Schriftsteller Artur Becker, CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, um nur einige Namen zu nennen. Aber auch die weniger prominenten Protagonisten haben Spannendes zu sagen, begleitet von eindrucksvollen Bildern.

Mein Fazit: Die Doku ist auch ein ganz dolles Ding. Unbedingt angucken!

Fünfzig Jahre Kniefall von Warschau: Ein "dolles" Ding

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Kommentare 1
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 4 Jahren

    Mir gefällt der Film auch.

    Ergänzend noch die Haltung des Historikers Peter Brandt zum Kniefall seines Vaters:
    https://www.spiegel.de...

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