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Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 im torial blog. torial ist wie piqd ein Projekt der Schwingenstein Stiftung.
von Simon Hurtz
Es wäre so schön, wenn man Elon Musk einfach ignorieren könnte. „Ich spiele den Narren auf Twitter und schieße mir oft selbst in den Fuß und bereite mir allen möglichen Ärger“, sagte er kürzlich im Gespräch mit der Financial Times. „Ich empfinde es fast schon als therapeutisch, mich auf Twitter auszudrücken.“
Anders ausgedrückt: Selbst Musk gibt zu, dass er auf Twitter mit der Öffentlichkeit spielt, dass er bewusst provoziert, Grenzen auslotet und sich über die Reaktionen freut. Offenbar hält er Twitter für ein großes Spiel, das ihm Spaß macht – und ignoriert dabei, dass seine Tweets reale Folgen haben, wenn seine Fans etwa auf kritische Journalistinnen losgehen.
Dummerweise ist dieser aufmerksamkeitssüchtige Troll nicht nur der reichste Mensch der Welt, sondern auch der neue Eigentümer von Twitter. Deshalb ist es ähnlich wie bei Donald Trump: Dieser Mann ist zu mächtig, um ihn komplett zu ignorieren. Er spuckt nicht nur große Töne, er handelt auch, und seine Entscheidungen haben massive Konsequenzen für eine Plattform, die trotz ihrer überschaubaren Größe politisch und gesellschaftlich wichtig ist.
Vor einem Monat kaufte Musk Twitter, und seitdem ist es fast unmöglich, über das Thema zu schreiben, ohne sofort von der Realität überholt zu werden. Mindestens täglich, teils stündlich, nimmt das Drama neue Ausmaße an. Deshalb bleibt diese Kolumne ausnahmsweise monothematisch. Die Gemengelage ist so komplex, dass es schwerfällt, auch nur die wichtigsten Facetten abzubilden.
Wer das ganze Elend mitverfolgen will, bucht am besten einen Logenplatz auf der Seite Twitter is Going Great! (angelehnt an Web3 is Going Just Great von Molly White) und kann sich über die Absurditäten amüsieren – bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt, weil hier eben nicht nur Theater gespielt wird, sondern das Wohlergehen Tausender Angestellter und einer ganzen Plattform auf dem Spiel steht, die ein wichtiges Sprachrohr für Menschen ist, sie sonst kaum gehört werden. #MeToo oder #BlackLivesMatter zeigen, welchen positiven Einfluss Twitter haben kann.
Zwischen all den nächtlichen Entlassungen und dem Chaos um die blauen, grauen und künftig wohl auch goldenen Haken bleiben ein paar größere Linien und Zusammenhänge, die unabhängig vom tagesaktuellen Geschehen wichtig sind:
Mittlerweile könnte man allein mit dem Kündigungschaos ein halbes Buch füllen. Musk setzt Tausende Menschen vor die Tür, holt einen Teil davon wieder zurück, vergrault mit lächerlichen Ultimaten die engagiertesten Angestellten und bietet ihnen wenige Tage später massive Gehaltserhöhungen an, damit sie es sich anders überlegen.
Twitters Angestellte wurden wenigstens per E-Mail benachrichtigt, bei den freien Mitarbeitenden hielt Musk selbst das nicht für nötig. Teils erfuhren sie erst durch Tweets von Kollegïnnen oder Reporterïnnen, dass sie gefeuert worden waren. Sie haben damit nicht nur kein Einkommen, sondern auch keine Krankenversicherung mehr – ohne jede Vorwarnung. Für chronisch Kranke oder Schwangere ist das eine Katastrophe.
Verbliebene Angestellte äußerten daraufhin ihre Sorgen. Öffentlich auf Twitter oder intern auf Slack kritisierten sie Musk oder drückten ihre Solidarität mit den Entlassenen aus. Der scheint aber absoluten Gehorsam einzufordern und selbst sanftesten Widerspruch brutal zu bestrafen. Wer es wagte, den Mund aufzumachen, erhielt eine E-Mail: „Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung beendet ist. Ihr jüngstes Verhalten hat gegen die Unternehmensrichtlinien verstoßen.“
Wer noch bei Twitter arbeitet, muss jederzeit damit rechnen, dass Musk vorbeikommt, Code-Schnipsel inspizieren möchte und das als Grundlage für die Entscheidung nimmt, ob man bleiben darf oder gehen muss. Anwesenheit bis in die Nacht wird als selbstverständlich vorausgesetzt, Twitter ist schließlich kein gewöhnlicher Job, sondern „purpose“.
Bei einer anonymen (nicht repräsentativen) Umfrage unter 400 Angestellten gaben 89 Prozent an, dass sie glaubten, Musk werde Twitter ruinieren. Nur zwei Prozent würden Twitter als Arbeitgeber weiterempfehlen, ein Prozent der Teilnehmenden sagte, die Entlassenen seien mit „Würde und Respekt“ behandelt worden.
Vielleicht verbirgt sich dahinter eine zynische Strategie. Casey Newton und Zoë Schiffer, deren Newsletter Platformer sich zur wichtigsten Publikation zu Musk und Twitter entwickelt hat, berichten über einen perfiden Plan. Demnach habe Musk von Anfang an deutlich mehr als die Hälfte der Belegschaft loswerden wollen. Der menschenfeindliche Umgang diene dazu, weitere Angestellte zur Kündigung zu bringen, um Personalkosten zu sparen.
Ein Ziel hat Musk definitiv erreicht: Ganze Teams reichen geschlossen ihre Kündigungen ein, wichtige Abteilungen haben sich fast vollständig aufgelöst, Twitter wird im kommenden Jahr deutlich weniger Menschen Gehalt zahlen müssen.
Doch er könnte sich verkalkuliert haben. Was bei Tesla funktioniert haben mag, stößt bei Twitter Angestellte ab. Sie sind eine andere Unternehmenskultur gewohnt und haben keine Lust, zum Spielball von Musks Willkür zu werden. Neben Sales und der Abteilung für Trust and Safety, die Musk für verzichtbar hält, trifft es auch Teams, die am technischen Fundament der Plattform arbeiten.
Zahlreiche aktuelle und ehemalige Entwicklerïnnen erklären gerade in Threads und Newslettern, warum Twitters Infrastruktur akut bedroht ist. Viele Menschen, die wussten, wie man Fehler behebt und Lücken stopft, sind nicht mehr da. Dieses Wissen lässt sich nicht so einfach ersetzen. Die laufende WM bedeutet höchste Last für Twitters Systeme und könnte die Plattform an den Rand ihrer Belastungsgrenze bringen.
Nach aktuellem Kenntnisstand ist es unwahrscheinlich, dass Twitter für längere Zeit offline geht. Vermutlich häufen sich die Bugs und Glitches, Nachrichten erscheinen verzögert, die App lädt nicht oder Tweets verschwinden. Kurzzeitig ist das verkraftbar. Wenn dieser Zustand länger anhält, werden Menschen die Lust verlieren. Dann könnte Musks Sparprogramm mehr Geld kosten, als es Gehaltskosten reduziert.
Trump erhält seinen Account zurück, und das Empörendste an der Entscheidung ist nicht einmal das Ergebnis, sondern der Prozess. Hunderttausende Menschen wurden für weniger gravierende Verstöße gesperrt als der Ex-Präsident, der sich Dutzende Male über Twitters Richtlinien hinweggesetzt hat. Es gab und gibt gute Gründe, Trump dauerhaft zu verbannen.
Es ist aber auch nicht völlig abwegig, ihm seinen Account zurückzugeben. Das größere Problem ist das Wie. Nachdem Musk zunächst angekündigt hatte, ein Content Moderation Council zu gründen, das unter anderem über Trumps Account entscheiden sollte, überlegte er sich anders – und wählte die schlechteste aller Möglichkeiten.
Am dritten Novemberwochenende ließ er darüber abstimmen. Die Umfrage lief 24 Stunden, rund 15 Millionen Konten beteiligten sich. Ob hinter allen echte Menschen stecken, ist unklar. Ironischerweise scheint Musk dieses Risiko plötzlich völlig egal zu sein, nachdem er monatelang versucht hatte, den Twitter-Kauf rückgängig zu machen, weil angeblich alles voller Bots und Fake-Accounts sei.
Knapp 52 Prozent sagten ja. „Vox Populi, Vox Dei“, verkündete Musk, und zack, schon hatte Trump seinen Account zurück. Dabei hat es offensichtlich wenig mit des Volkes Stimme zu tun, wenn Musk seine eigenen Follower dazu auffordert, sich während eines willkürlich gewählten 24-Stunden-Fensters an einer Vier-Wort-Umfrage („Reinstate former President Trump“) zu beteiligen.
Bislang klammert sich Trump trotzig an sein eigenes Netzwerk Truth Social, das er groß machen möchte. Falls er erneut als Präsident kandidiert und sich intern gegen andere Republikaner durchsetzen muss, dürfte er aber auf die Reichweite und den medialen Einfluss von Twitter angewiesen sein. Von einem twitternden Trump profitierte dann auch Twitter-Eigentümer Musk: Mehr Aufmerksamkeit und Schlagzeilen über Trump-Tweets können wirtschaftlich nicht schaden.
Musk scheint jedenfalls auf den Geschmack gekommen zu sein. Kurz nach der Trump-Umfrage ließ er darüber abstimmen, ob Twitter alle dauerhaft gesperrten Konten wiederherstellen soll, sofern die Inhaber nicht gegen Gesetze verstoßen oder Spam verbreitet haben. Fast drei Viertel befürworteten den Vorschlag. „Das Volk hat gesprochen“, kommentierte Musk, die Generalamnestie beginnt diese Woche.
Neben Trump werden also weitere Rechtsradikale und Antisemiten ihre Konten zurückerhalten. Zumindest einem Verschwörungsideologen möchte Musk keine Bühne bieten. Auf die Forderung, Alex Jones zurückzuholen, antwortete er: „Mein erstgeborenes Kind starb in meinen Armen. Ich habe seinen letzten Herzschlag gespürt. Ich habe kein Mitleid mit jemandem, der den Tod von Kindern für Gewinn, Politik oder Ruhm ausnutzen würde.“
Das ist tragisch, menschlich nachvollziehbar und inhaltlich richtig – aber es zeigt erneut, welche Werte und Kriterien Musk zugrunde legt, wenn er über Dinge entscheidet, die mehr als 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer betreffen: allein seine eigenen.
In einem Monat hat Musk es geschafft, rund die Hälfte der wichtigsten Werbekunden zu verscheuchen. Drei der größten Werbeagenturen – IPG, Omnicom und Group M – sehen Twitter mittlerweile als „Hochrisiko“-Plattform.
Niemand könne vorhersehen, in welche Richtung Musk Twitter steuere. Die Massenentlassungen hätten Chaos ausgelöst. Es fehle an Expertïnnen für IT-Sicherheit und Datenschutz sowie an Content-Moderatorïnnen, die Inhalte prüfen und löschen. Die Agenturen vertreten Twitters wichtigste Anzeigenkunden, ihre Distanzierung könnte Musk Hunderte Millionen kosten.
Musk wirkt jedenfalls nervös. Kurz nach der Übernahme Ende Oktober wandte er sich mit einem offenen Brief an Werbekunden und versuchte, ihre Sorgen zu besänftigen. Twitter dürfe keine „Hölle“ werden, in der alles ohne Konsequenzen gesagt werden könne. Er habe das Unternehmen nicht gekauft, um Geld zu verdienen, sondern weil er die Menschheit liebe, und er werde eine Plattform schaffen, auf der sich alle willkommen fühlten.
Was er nicht zu verstehen scheint: Die Unternehmen kehren Twitter nicht den Rücken, obwohl er dort ist – sondern weil er dort ist. Für Musk, der Verehrung gewohnt ist, scheint das eine neue Erfahrung zu sein. Seine radikale Vorstellung von Redefreiheit ist das letzte, was Marketing-Verantwortliche möchten.
Das Stichwort lautet „Brand Safety“, große Marken wollen in einem harmlosen und familienfreundlichen Umfeld werben. Auch deshalb scheitern rechtsradikale Plattformen daran, genug Anzeigen zu verkaufen. Je mehr Menschen Musk rauswirft, je stärker er die Abteilungen für Content-Moderation, Datenschutz und Sicherheit ausdünnt, desto skeptischer werden Unternehmen, ob er seine Beteuerungen ernst meint.
Im Zuge des Kaufs hat Musk Twitter mit 13 Milliarden Dollar Schulden belastet, allein die jährlichen Zinsen betragen eine Milliarde. Musk dürfte wenig Interesse daran haben, Twitter jahrelang aus seinem Privatvermögen zu bezahlen. Die Plattform benötigt also ein besseres Geschäftsmodell und muss unabhängiger von Werbekunden werden.
Alle bisherigen Versuche, Menschen zu überzeugen, für das Abomodell Twitter Blue zu zahlen, sind gescheitert. Bald soll ein neuer Anlauf folgen, dann mit verschiedenfarbigen Haken für Individuen, Unternehmen und Institutionen. Das klingt schon in der Theorie so verwirrend, dass es schwer vorstellbar ist, dass es in der Praxis funktioniert.
Der letzte Punkt ist kurz, aber wichtig. Ich habe persönlich noch keine nennenswerten Erfahrungen mit Mastodon oder anderen Twitter-Alternativen gesammelt, weil ich seit Monaten nur noch wenig Zeit mit sozialen Medien verbringen – unabhängig von Elon Musk. Trotzdem halte ich es für wichtig, dass es Orte gibt, an denen Menschen im Netz zivilisiert miteinander diskutieren können.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mastodon, Hive, Post und wie die Alternativen alle heißen, Twitter nicht eins zu eins ersetzen können. Dafür ist die Plattform zu einzigartig. Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Möglicherweise folgt auf eine Ära weniger zentralisierter Plattformen eine diversere Social-Media-Landschaft mit vielen kleineren, teils dezentralen Strukturen.
Womöglich verpufft der Optimismus, den ich gerade bei vielen Menschen wahrnehme, die in den vergangenen Wochen zu Mastodon gewechselt sind. Ich habe zu viele Nischen-Netzwerke kommen und gehen sehen, um darauf zu wetten, dass es diesmal anders läuft. Ich wünsche mir aber, dass meine Skepsis unnötig ist, und schließe deshalb mit den inspirierenden Gedanken von Frank Rieger, der erklärt, warum Filterblasen ihren schlechten Ruf nicht verdient haben:
Lasst uns mehr Filterblasen wagen. Mehr kleinere, gemütliche, überschaubare digitale Räume aufbauen. Nicht als direkten Ersatz für die Plattformen mit globaler Reichweite, die vielleicht in mutierter Form weiter ihre Berechtigung als Publikations-Medien behalten werden, sondern als parallele Alternative, für das, wofür wir ursprünglich mal die „sozialen Medien“ gut fanden.
Quelle: Simon Hurtz Bild: torial blog.torial.com
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