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Volk und Wirtschaft

Volk und Wirtschaft ohne Feuer?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 16.04.2023

Die Menschwerdung und die Entwicklung der Menschheit sind wohl ebenso an die Beherrschung des Feuers wie an den Wandel des Klimas gebunden. Insofern ist der Abschied von der fossilen Energie des Feuers ein zivilisatorischer Menschheitsschritt. Auch der menschengemachte Klimawandel zwingt uns (wie schon unsere Urahnen) zu technischen und sozialen Innovationen. Er erfordert, wie Jens Soentgen im Merkur schreibt,

ein Projekt von menschheitsgeschichtlicher Dimension, weil ein seit rund einer Million Jahre bestehender Pakt aufgelöst werden soll.

Man kann das durchaus in einer Theorie der Zivilisation denken. Ähnlich wie es Norbert Elias im Prozess der Zivilisation um die Erlangung von Kontrolle unwillkürlicher Gefühle oder Leidenschaften (Zorn, Wut, Angst oder Scham) ging, also "um den Zusammenhang von Soziogenese und Psychogenese", ging es beim Feuer um die gemeinschaftliche Kontrolle eines bedrohlichen Naturphänomens mit langfristig enormen Nutzungspotenzial. Soentgen bezieht sich dabei auf das Buch von Johan Goudsblom "Feuer und Zivilisation", der die Domestizierung des Feuers als Zivilisationsprozess beschreibt. Er formuliert das so:

Zu lernen, wie man Feuer kontrolliert, war und ist eine Form der Zivilisation. Weil Menschen das Feuer gezähmt und es zu einem Teil ihrer eigenen Gesellschaften gemacht haben, sind diese Gesellschaften komplexer und die Menschen selbst zivilisierter geworden. 

Zivilisation beginnt in dem Sinne nicht erst mit dem Übergang zur Landwirtschaft in der neolithischen Revolution. Diese setzte bereits die Kontrolle des Feuers voraus:

Denn diese Landwirtschaft beruhte auf Brandwirtschaft, also auf der Fähigkeit, durch das Feuer bestimmte Gelände von ihrer Vegetation zu befreien und für den Ackerbau tauglich, nämlich urbar zu machen. Von dem Moment an, in dem menschliche Gruppen das Feuer nutzten, bemühten sie sich zugleich darum, das spontane Feuer, das etwa durch Blitzschlag entsteht, und das übergriffige Feuer, das vom Herd aus die Hütte entflammt, unter Kontrolle zu bringen. All das erfordert Disziplin und Arbeitsteilung.

Das deutet schon an, wie tief die Beherrschung des Feuers in die Entwicklung der Menschheit eingebunden ist. Ich will hier gar nicht konkreter auf die spannenden historischen Schilderungen des Artikels eingehen. Das sollte man unbedingt selbst lesen. Aber kommen wir zur Gegenwart. 

Die Frage, wie viele Feuer eigentlich weltweit brennen, lässt sich schon deshalb nicht beantworten, weil die meisten Brände im Verborgenen vor sich gehen, in Industrieanlagen, in Motoren, Gasturbinen oder auch in Heizungsboilern. Dennoch lässt sich die Größenordnung statistisch erstaunlich exakt bestimmen, und das über lange Zeiträume. Denn wo immer Wälder (beziehungsweise Biomasse) abgebrannt, wo Torf, Kohle, Erdgas, Erdöl oder Müll verfeuert werden, entsteht, neben Rauch (Feinstaub) und Wasserdampf, die beide rasch aus der Atmosphäre verschwinden, Kohlendioxid.

Der Autor nennt Kohlendioxyd eindrücklich „die eigentliche, abstrakte Asche aller Feuer“, mit den bekannten dramatischen Folgen für das Klima. Und so verbreitet sich in den westlichen Gesellschaften das Leitbild der »klimaneutralen« Gesellschaft mit einer »dekarbonisierten, emissionsfreien Wirtschaft«. Es stimmt, diese Gesellschaft muss den Pakt mit dem Feuer auflösen, kohlenstoffbasierte Verbrennungsprozesse drastisch zurückdrängen. Der Artikel warnt aber davor zu glauben, dass eine solche Gesellschaft sich durch friedliche, sozial gerechte Transformation innerhalb weniger Jahrzehnte global einrichten lasse. Solche idealen Zukunftsprojektionen seien Utopien in wissenschaftlichem Gewand.

Nicht so sehr deswegen, 

weil sie einen politischen und gesellschaftlichen Zielzustand imaginieren, dessen Verwirklichung sehr unwahrscheinlich ist (auch im Jahr 2021 stammten mehr als 80 Prozent der weltweit erzeugten Energie aus Verbrennungsprozessen; nahezu alles, womit wir hantieren, worauf wir blicken, ist gekocht, gebacken, destilliert, erschmolzen, von den Seiten der Zeitschriften und Bücher und ihrer Druckerschwärze bis hin zu Häusern, Straßen, Fabriken, Fahrrädern, Elektroautos, Flugzeugen, Raumfähren und Raumstationen), sondern vor allem deshalb, weil hier eine Welt versprochen wird, in der mit der Beseitigung eines Kernübels auch alle anderen verschwinden und außerdem für das bewahrenswerte Gute kein Schaden entsteht. 

Weltweit initiiert der geplante Ausstieg aus Verbrennungsprozessen und das Wachstum der erneuerbaren Energien dramatische Konflikte aufgrund unterschiedlicher ökonomischer oder sicherheitspolitischer Interessen (auch der Ukrainekonflikt hat u. a. einen solchen Hintergrund). Wie man am Beispiel der Wasserkraft zeigen kann, kommt es auch zu innerökologischen Konflikten, z. B. zwischen Klimaschutz und Biodiversität.

Wer sich nur mit dem Wünschenswerten befasst, verliert das Gefühl für das Wahrscheinliche und versäumt, sich darauf einzustellen. Wahrscheinlich aber ist, dass die weltweiten Emissionen in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren nicht drastisch sinken werden, sondern sich vielmehr auf dem erreichten hohen Niveau stabilisieren, trotz des gleichzeitigen weltweiten Ausbaus erneuerbarer Energien. Und das bedeutet, dass das in Paris vereinbarte 1,5-Grad-Ziel verfehlt werden wird; der Klimawandel wird sich weiter entfalten.

Schauen wir nur auf die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung (2010):

.. rund drei Milliarden Menschen, kocht mit Pflanzenresten, Dung, Holzkohle - und vor allem Holz. Es ist ein ökonomischer und ökologischer Teufelskreis: Für Feuerholz werden Wälder gerodet, wodurch die Erosion zunimmt. Der Regen schwämmt fruchtbaren Boden von den Feldern, die Ernten gehen zurück. Und es wird trockener, weil sich das regionale Klima ohne den Wald verändert. Wer traditionell kocht, verliert außerdem beim Holzsammeln wertvolle Arbeitszeit - auch das trägt zur Armut bei. Darüber hinaus schaden Holzfeuer dem Klima: Sie verursachen 17 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes.

Dieses Problem der Armut, der Unterernährung und der Entwaldung ganzer Regionen lässt sich mit unserer Energiewende nicht so schnell wie gewünscht lösen, es verschwindet nicht mit unseren Windrädern und ist schon gar nicht sozial gerecht.

Der Autor kommt daher zu einem aus meiner Sicht realistischerem Zukunfts-Szenario:

Das Ideal der modernen, feuerlosen Gesellschaft wird in kleineren, abgeschotteten Zonen, die ihren Feuerbedarf auslagern, durchaus realisiert werden. Denn in vielen Städten Europas wird sich der Rückzug der Öfen und Essen und der Verbrennungsmotoren fortsetzen. …… Die Feuerlandkarte der Zukunft wird also flackern und fleckig sein; und zwar auf verschiedenen Maßstabsebenen, auch global wird es eher feuerarme und extrem feuerreiche Regionen geben. Schon jetzt werden ja feuerintensive Produktionen (etwa von Stahl und anderen Metallen, die zum Beispiel für Elektromobilität notwendig sind) zunehmend in Ostasien, Südasien und Südostasien erledigt.

Wir sollten uns daher auf eine inhomogene »patchy high fire world« einstellen. Wir müssen lernen, damit umzugehen und müssen daher wohl auch lieb gewordene Überzeugungen revidieren:
 Solange das Leitbild eines kurz bevorstehenden globalen Abschieds vom Feuer den intellektuellen Diskurs beherrscht, ist der gesellschaftliche Lernprozess, der zu einem neuen, besonneneren Umgang mit dem Feuer führen könnte, nicht einmal in Gang gekommen.

Ich würde es nicht so absolut formulieren. Allerdings sehe ich auch: Unser Diskurs um die Antwort auf den Klimawandel ist noch weit weg von der Realität.

Volk und Wirtschaft ohne Feuer?

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Kommentare 3
  1. Dirk Liesemer
    Dirk Liesemer · vor mehr als ein Jahr

    Feuerlose Gesellschaft? Setzen wir nicht gerade mit der Solarenergie auf das größte Feuer überhaupt?

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Ok, aber dort verbrennt nichts. Oder?

    2. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Nicht im wörtlichen Sinne, dazu müsste die Sonne von Luft umgeben sein, aber metaphorisch bleibt sie natürlich ein Feuer. War ohnehin ein scherzhafter Einwurf.

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