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Europa

Unser Parteiensystem in der Krise

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlMontag, 11.11.2024

Unser Parteiensystem ist - wie viele anderen in Europa - in der Krise. Gut überstehen werden diese Krise nur die Grünen, die AfD, eventuell auch das BSW. Das behauptet der Politologe Jan Gerber, den die taz in einem Interview befragt:

Beide Parteien werden die Krise der Gegenwart, die auch eine Krise des Parteiensystems ist, wohl gut überstehen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat auch gute Chancen darauf, allerdings befindet es sich noch in der Konsolidierungsphase. Da ist noch vieles offen. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie die alltagsweltlichen Erfahrungen der meisten Menschen deutlich besser bedienen als die SPD, die Linke oder die CDU. Trotz der immensen programmatischen Unterschiede, die es gerade zwischen AfD und Grünen gibt, setzen alle drei Parteien auf Emotionalisierung, Polarisierung, Reflex und Beschleunigung. Das entspricht ganz dem populistischen Zeitgeist. Populismus ist weniger Programm als Politikstil.

Ich neige dazu, ihm hier zu folgen. Sicher hat er auch recht, dass unsere Parteien und unser Bild von ihnen vom Kalten Krieg und der fordistischen Industriegesellschaft geprägt wurden. In Deutschland waren CDU und SPD die strukturellen und politischen Entsprechungen des Fordismus. Sie waren 

durch große Betriebe gekennzeichnet, halbwegs homogene Milieus, vereinheitlichte Produktion und Konsumtion. …. Ähnlich kollektiv wie in die Fabriken strömten die Leute in die Parteien. Ihr schwerfälliger Apparat, die langwierigen Entscheidungsprozesse und klaren Hierarchien entsprachen den Erfahrungen des damaligen Arbeits- und Alltagslebens.

Mit dem Übergang in den 70ern in eine Dienstleistungsgesellschaft veränderte sich die Situation. An die Stelle der Routinen und Fähigkeiten für die Industriegesellschaft traten neue:

Flexibilität, permanente Erreichbarkeit, Einzigartigkeit, stetige Neuerfindung. Mit dieser Veränderung von Produktion und Alltagsleben erodierten auch die sozioökonomischen Grundlagen des alten Parteiensystems. Die klassischen Parteien kamen den alltäglichen Erfahrungen immer seltener entgegen.

Mit dieser Veränderung der Wirtschaft aber auch im  Alltagsleben konnten die Akteure und Strukturen des alten Parteiensystems (und wohl auch der Gewerkschaften?) nicht mithalten. 

Die klassischen Parteien kamen den alltäglichen Erfahrungen immer seltener entgegen.

In einem würde ich dem Soziologen nicht folgen; dass man nach dem kalten Krieg im Westen begann, die Sozialsysteme zu schleifen. Weil diese nach dem Sieg nicht mehr benötigt wurden, um sich gut darzustellen. Und Deutschland habe sich mit der Einheit verhoben. (Aber eben nicht, weil es weniger für Soziales ausgegeben hat). Es stimmt:

Was die Leute heutzutage emotional an die Nation bindet, ist das Sozialsystem: Rente, Sozialversicherung, Bildung. 

Aber stimmt deswegen auch:

Dieses System wurde schon durch Hartz IV zerschossen, mit der Flüchtlingskrise kamen neue Herausforderungen dazu. 

Hier würde ich eher dem Ökonomen Werner Plumpe  in der FAZ folgen. Die aktuelle Handlungs­unfähigkeit der Staaten haben ihre Ursache eher in der (halb) keynianistischen Politik, seit den Siebzigerjahren zur Bekämpfung von Krisen und Problemen, Schulden aufzunehmen, diese aber in den Aufschwungphasen nach den Krisen kaum zurückzuzahlen. Sich also kontinuierlich auf hohem Verschuldungsniveau zu bewegen. Womit 

das Schuldenmachen die Probleme, zu deren Bekämpfung es gedacht war, gar nicht ­beseitigte, sondern nur verschob beziehungsweise camouflierte.

Und Plumpe hat recht, wirklich brisant wird es für die Zahlungsfähigkeit der Staaten durch die seit Jahren sinkenden Produktivitätszuwächse beziehungsweise die stagnierende und schrumpfende Produktivität seit 2018. Seit der Mitte der Neunzigerjahre ist in der gesamten westlichen Welt die Produktivitätsdynamik gebrochen.

Von im deutschen Fall langfristig stabilen zwei Prozent Produktivitätswachstum gingen die Zuwächse seit dieser Zeit zunächst langsam auf etwa 0,4 Prozent zurück. Seit 2018 sinkt die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung. Parallel dazu schwächeln die Investitionen.

Für den Staat zeigt sich, während seine Leistungsfähigkeit sinkt, wächst der öffentliche Sektor. Es steigen die Ausgaben, von denen der größte Teil (mehr als vierzig Prozent) Sozialausgaben sind. Aber auch bei den Angestellten gab es historisch bisher nie einen so großen Staat.

Die Verschuldung drückt das in aller Kälte aus, und sollten sich Wachstum und Produktivitätsentwicklung nicht rasch verbessern, wird ein Szenario vorstellbar, wie es die späte DDR kennzeichnete, die sich einen Staat leistete, den zu finanzieren ihre Wirtschaft gar nicht in der Lage war. Der Einsturz der Carolabrücke lässt sich durchaus auch als Menetekel sehen.

Und ich frage mich, ob unsere politischen und intellektuellen Eliten das alles verstanden haben. In Novo hat Frank Furedi für Amerika nach dem Trump-Sieg einen sehr scharfen Vorwurf gegen das eher linke Establishment formuliert:

Die Hysterie, die von Teilen der etablierten Medien an den Tag gelegt wird, wird vom Rest des Establishments geteilt. Nach der Reaktion der Eliten auf die Wahl von Trump im Jahr 2016 zu urteilen, wird sich diese Wut bald in eine antipopulistische Raserei verwandeln. Bereits 2016 hieß es in einem Essay im Atlantic: „Unser drängendstes politisches Problem ist heute, dass das Land das Establishment im Stich gelassen hat, nicht umgekehrt.“ Ein Kolumnist von Foreign Policy reagierte auf den Brexit im selben Jahr mit den Worten, es sei „Zeit, dass sich die Eliten gegen die unwissenden Massen erheben“. Angesichts des Ausmaßes von Trumps Comeback wird sich das Gefühl der Eliten, vom Volk verraten worden zu sein, nur noch weiter verstärken.

Und er hat wohl recht damit, eine neue Ära des Populismus, nicht der Rationalität, ist angebrochen. 

Dies wird erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten westlichen Welt zeitigen. Europa, genau hinsehen!

Ich glaube, wir müssen über all unsere lieb gewordenen Denkraster, Begriffe, Urteile, Wunschvorstellungen und Schuldzuweisungen nochmal schnell und drastisch durchdenken. Sonst verlässt uns das Volk. Ein anderes haben wir nicht.

Unser Parteiensystem in der Krise

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 13 Tagen

    Hm. Verstehe den Tenor, ja. Aber sozialwissenschaftliche Daten belegen eigentlich was anderes: siehe zb Mau: "Triggerpunkte", etc. Von wegen (keine) Spaltung...

    "setzen alle drei Parteien auf Emotionalisierung, Polarisierung, Reflex und Beschleunigung" - dem würde ich in Bezug auf die Grünen doch widersprechen und etwa die CSU und Teile der CDU hier subsumieren.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 13 Tagen

      Das Parteiensystem ist ja nicht das Volk. Inwieweit das Volk wirklich gespalten ist, das wird im Interview nicht angesprochen. Und natürlich setzen die Grünen auf Emotionalisierung, Polarisierung, Reflex und Beschleunigung. Wer nicht zu 100% hinter der ganz schnellen Klimawende steht ist schnell ein Klimaleugner. Wer die Art und Weise wie Migration und Asyl gehandhabt werden kritisiert wird gern als Rassist, fremdenfeindlich und natürlich als rechts eingestuft. Das kommt reflexartig, sehr emotional und polarisiert enorm …..

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