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Europa

Unser Leben in Putins Welt – eine Zwischenkriegszeit?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDienstag, 01.03.2022

Wie Ivan Krastev (und sinngemäß auch andere) schreiben, leben wir nun alle in Putins Welt. Was auch heißt, bis vor Kurzem meinten wir noch in einer Nachkriegsperiode zu sein, zumindest in Europa vielleicht sogar im "ewigen" Frieden. Man kann sagen

Russia’s military aggression in Ukraine is one of those moments that impels us to reinterpret our own era. What we called the 30-year peace that followed the Cold War (tending to forget, consciously or unconsciously, the wars in the former Yugoslavia) has now ended. Future historians will look at these last decades, by and large, much as they look at the interwar period: as an opportunity squandered.

Vielleicht ist es aber auch eine Chance, zu Klarheit zu gelangen und endlich aus der Geschichte zu lernen? Je früher uns das klar wird, umso größer ist die Chance, dass dies ohne Totalschaden gelingt. Krastev erzählt, dass Angela Merkel 2014 nach der Krim-Annektion mit Putin gesprochen habe. Nach diesem Gespräch meinte sie zu Präsident Obama, Putin hätte den Kontakt zur Realität verloren.

He was, she said, living in “another world.” Today we are all living in it. In this world, to quote Thucydides, “the strong do what they can, and the weak suffer what they must.”

Mal davon abgesehen, das Europa von seinen Eliten darauf nicht vorbereitet wurde, man acht Jahre verschenkt hat, wie kann man das ändern? Wie wird man selbst stark, um nicht unter den Starken leiden zu müssen? Krastev stellt dazu eine wichtige Frage – geht es Putin um Rache, also um Revanchismus, oder um Revisionismus? 

Revisionists wish to build an international order of their liking. Revanchists are driven by the idea of payback. They dream not of changing the world but of changing places with the victors of the last war.

Richtig ist dabei sicher: es ist nicht Russlands Krieg, nicht im russischen Interesse. Es ist Putins Krieg mit seiner Sicht aus seiner Generation sowjetischer Sicherheitsbeamter, die sich nie mit ihrer Niederlage im kalten Krieg abfinden konnten.

For them, the current assault on Ukraine is a logical and necessary inflection point. The imperial table can once again be reset. These people are not interested in writing the future; they want to rewrite the past.

Klar ist aber zweitens auch, dass der Westen dabei nicht von der Welt automatisch als gerechter und guter Akteur angesehen wird. Putin also nicht automatisch allein und als Paria dasteht, von Sanktionen völlig gelähmt und unisono moralisch verurteilt. Die Achse China-Russland steht und auch andere Staaten halten sich mit dem totalen Bruch gegenüber Moskau zurück.

Many countries see the conflict between Russia and the West as one between old imperialists that hardly affects them. Of greater and more immediate concern is the way that sanctions imposed by the West will drive up energy and food prices. The West can win over skeptics of its efforts to combat Mr. Putin only if it succeeds in showing those outside Europe that what is at stake in Kyiv is not the fate of a pro-Western regime but the sovereignty of a newly born postimperial state. 

Drittens könnten oder werden die Folgen für Europa schlimm sein. Dieser Krieg hat u. a. das Potenzial, eingefrorene Konflikte an der Peripherie unseres Kontinents aufbrechen zu lassen – im postsowjetischen Raum oder auf dem Balkan. Auch die autokratischeren Staaten in der Europäischen Union könnten sich von einem Sieg Putins bestärkt fühlen. Die Invasion der Ukraine hat Europa zunächst vereint, könnte aber bald auch den Zusammenhalt schwächen.

But more fundamentally, the events of the past week will necessitate a radical rethinking of the European project. For the past 30 years, Europeans have convinced themselves that military strength was not worth the cost and that American military pre-eminence was enough to dissuade other countries from pursuing war. Spending on defense fell. What mattered, the received wisdom intoned, was economic power and soft power.

Sanktionen halten Panzer nicht auf. Wirtschaftliche Verflechtungen sind noch keine Garantie für den Frieden. Man kann die Erfahrungen Westeuropas nicht einfach universalisieren. Kapitalismus allein reicht nicht aus, um Autoritarismus oder imperiale Gelüste zu mildern.

Eine weitere beunruhigende Wirkung der russischen Invasion – für Krastev sogar die destabilisierendste – könnte sein, dass viele Staaten nun meinen, ohne eigene Atomwaffen gäbe es keine Sicherheit.

At the Munich Security Forum this month, (Ukraine’s president Volodymyr Zelensky) stated that Kyiv had made a mistake abandoning the nuclear weapons it inherited from the Soviet Union. The United States’ unwillingness to defend a friendly country like Ukraine can make at least some American allies believe that nuclear weapons are the only way to guarantee their sovereignty. It’s not hard to imagine China’s neighbors also thinking this way. 

Wir sollten aber die Hoffnung nicht fahren lassen. Putin hat sich offensichtlich verrechnet. Die Ukrainer kämpfen tapfer, die Solidarität mit dem Land und seinen Bürgern wächst und Europa legt einen beeindruckenden Lernprozess hin. Noch ist die Zukunft nicht verloren …

Unser Leben in Putins Welt – eine Zwischenkriegszeit?

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Kommentare 2
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

    Noch ein Krastev Artikel:
    "Dieses Europa geht nun unter. Russlands Präsident zerstört nicht nur ukrainische Städte und die Militär- und Energie-Infrastruktur, sondern auch die moralische und intellektuelle Infrastruktur. Politik ist nicht nur das, was Regierungen tun, sondern schließt auch die Argumente ein, mit denen sie ihr Handeln rechtfertigen. Indem er seinen Einfall in die Ukraine als "Spezialoperation" zur "Entnazifizierung" des Landes rechtfertigt, vergewaltigt der russische Präsident die moralischen Grundlagen, auf denen die europäische Ordnung basierte.

    Wie der tragische Tod der Weimarer Republik ist das Ende der liberalen Ordnung, das wir soeben erleben, "teils Mord, teils Auszehrung, teils Selbstmord", wie der Kulturhistoriker Peter Gay das Ende von Weimar nannte. Was nun kommt, ist der Einfall des Unbekannten. Wir gehen vom Zeitalter der "sanften Macht" ins Zeitalter der Resilienz über: Die "sanfte Macht" war die Strategie des Westens, seine Attraktivität als Waffe einzusetzen. Resilienz ist die Fähigkeit liberal-demokratischer Gesellschaften, andere daran zu hindern, ihre Verwundbarkeit als Waffe gegen sie einzusetzen.

    Die beiden Konzepte haben gemeinsam, dass die Macht in der Gesellschaft liegt und nicht einfach in den Fähigkeiten des Staates. Die Widerstandsfähigkeit einer Nation lässt sich weder an der Höhe ihres Bruttoinlandsprodukts noch an ihrer militärischen Stärke bemessen. Die widerstandsfähige Gesellschaft setzt resiliente Individuen und eine lebendige Zivilgesellschaft voraus. Sie setzt voraus, sich ihrer eigenen Verwundbarkeit bewusst zu sein. Im Zeitalter der Resilienz zählt eher der Schmerz, den man ertragen kann, als der Schmerz, den man anderen zufügen kann.

    Als Deutschland die Zertifizierung von Nord Stream 2 stoppte, war die eigentliche Botschaft an den Kreml nicht, dass er Schaden nehmen werde, sondern dass Deutschland bereit ist, für die Treue zu seinen Grundsätzen Schaden in Kauf zu nehmen. Die deutsche Entscheidung, endlich Waffen an die Ukrainer zu liefern und sich dem europäischen Konsens über die Sperrung des Swift-Zugangs anzuschließen, zeigt dieselbe Bereitschaft, bislang undenkbar, einen eigenen Schaden hinzunehmen. Es ist nun klar, dass Putins Krieg in der Ukraine auch den Westen verändert.

    Resilienz beginnt damit, dass man seine eigene Gesellschaft kennt."

    Genau das ist die Frage. Wie gut kennen wir, kennen unsere Eliten unsere Gesellschaft? Oder auch andere Gesellschaften?

    https://www.zeit.de/20...

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als 2 Jahre

    Gut, dass Du den Beitrag hier empfiehlst. Ich überlegte, ob ich den Harari oder den Krastev bringe.
    https://www.piqd.de/su...
    Beide sind sehr verschieden, aber auf ihre Weise überzeugend.

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