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Volk und Wirtschaft

Philosophien und Strategien auf dem Weg durch die Pandemie

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlDienstag, 07.07.2020

Welche grundlegenden Denkstrukturen stecken hinter den verschiedenen sozio-ökonomischen Strategien zur Bewältigung der Pandemie? Wie sind diese philosophisch einzuordnen und was ist noch denkbar? Diesen Fragen stellt sich Gerard Delanty in "Soziopolis". Er nennt und analysiert sechs (plus eine) politische Philosophien bzw. Strategien zur Reaktion auf die gegenwärtige Krise:

  • Das kollektive Interesse bzw. den Utilitarismus 
  • Die Würde des Individuums (zurückgehend auf Kant)
  • Der andauernde Ausnahmezustand (Giorgio Agamben)
  • Die Renaissance des Kommunismus (Slavoj Žižek)
  • Die Krise als Chance (zum Nachdenken)
  • Ein neues Zeitalter
  • Anreize schaffen und Demokratie schützen (die Nudging-Theorie)

Auch wenn man weiß, dass die meisten dieser Ideen in Reinform nie umgesetzt werden können bzw. ein Versuch teilweise im Unglück enden würde, ist das Nebeneinanderstellen und Abwägen interessant. Und sicher lehrreich für die Zukunft.

Der Autor ordnet etwa die britische Strategie als typisch utilitaristisch ein. Das dieser Ansatz dort gescheitert ist, bedeutet jedoch nicht, das es für den Utilitarismus als politische Theorie keine überzeugenden Argumente gäbe:

Dabei sollte er nicht, wie so oft, mit einer Ausrichtung an materiellem Gewinn gleichgesetzt werden. Vielmehr lautet seine grundlegende Prämisse, dass stets versucht werden sollte, das größte Gut zu verwirklichen. Dies kann zur Konsequenz haben, dass der Zweck die Mittel heiligt, wird im Allgemeinen aber so verstanden ... dass das Eigeninteresse niemals mehr Gewicht haben darf als das Interesse der größten Zahl. Als anwendungsbezogene Philosophie muss sich die utilitaristische Herangehensweise jedoch über die Mittel im Klaren sein, mit denen sich das gewünschte Ziel erreichen lässt. Und an genau diesem Punkt wird die Sache kompliziert. 

Bei Corona zeigt sich beispielsweise, dass die Erreichung von Herdenimmunität sowohl Mittel als auch Zweck ist. Als alleiniges Mittel aber funktioniert sie nicht, weil die schnelle Erreichung eine nicht akzeptable Sterberate bedeutet.

Neben der Herdenimmunität sind auch Lockdown, Selbstisolation und social distancing denkbare Mittel zur Bekämpfung der Pandemie. Inzwischen herrscht allgemein Übereinstimmung darüber, dass ihr Ziel darin besteht, die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen. Dabei handelt es sich allerdings weniger um eine normative Vorgabe als um eine Zielsetzung zugunsten eines Zwecks, der unklar bleibt. Der Utilitarismus funktioniert gut, wenn das kollektive Gut leicht zu identifizieren ist und durch ein Mittel verwirklicht werden kann, das keine erheblichen Nachteile verursacht. Außerdem setzt er etwas voraus, das in vielen Fällen nicht gegeben ist, nämlich eine vollständige Kenntnis aller relevanten Fakten. 

Utilitarismus bringt also immer Nachteile für einige Gruppen mit sich – wie eigentlich jede denkbare Strategie. Aus meiner Sicht besteht die Aufgabe darin, gangbare Wege und realistische Mittel zu finden, von denen man sich die geringsten Opfer erhofft, um das jeweils sozial wünschenswerte Ziel zu erreichen. Und dann den Stand der Wirkungen und Nebenwirkungen ständig zu prüfen.

So ist das Scheitern des Utilitarismus in Großbritannien im März 2020 weniger ein Scheitern der utilitaristischen Philosophie gewesen als vielmehr ein Versagen von Politik und Wissenschaft.

Das Gegenstück zum Utilitarismus wäre eine rein normativ begründete Theorie, die etwa auf Kant zurückgeht, und

an der zentralen Bedeutung der Menschenwürde statt am grundsätzlich schwer bestimmbaren Gemeinwohl an(setzt). In einem Interview hat Jürgen Habermas, ... unlängst den kantischen Grundsatz geltend gemacht, „dass die Anstrengung des Staates, jedes einzelne Menschenleben zu retten, absoluten Vorrang haben muss vor einer utilitaristischen Verrechnung mit den unerwünschten ökonomischen Kosten“.

Der Autor diskutiert m. E. recht überzeugend, dass man, wenn die Würde der einzelnen Individuen als die allem übergeordnete normative Größe bei der Bestimmung konkreter Maßnahmen gelten soll, in eigentlich unlösbare Widersprüche gerät:

Soweit er von der Wahrung der Menschenwürde geleitet ist, erkennt der derzeitige Umgang mit der Pandemie die Fragen des Lebensunterhalts sowie andere Probleme, die sich aus dem Lockdown ergeben, nicht in ausreichendem Maße an. Würde ohne Sicherheit ist keine Lösung, wie die schockierende Sterberate in Pflegeheimen belegt ...

Es lohnt sich also, weiter über die Konzepte zu diskutieren, aber wir sollten sie nicht rein gesinnungsethisch beurteilen.

Philosophien und Strategien auf dem Weg durch die Pandemie

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