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Europa

Fünf oppositionelle Blicke auf Ungarn nach der Wahl

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDonnerstag, 14.04.2022

Oppositioneller Katzenjammer nach der Wahl in Ungarn – Orban hat wieder eine absolute Mehrheit. Was sagen die ungarischen Oppositionellen, die Künstler selbst dazu? Die "WELT" hat fünf ungarische Künstler nach ihrem Blick auf die Wahl und in die Zukunft des Landes gefragt. 

Der Schriftsteller Ferenc Barnás (1959 in Debrecen geboren), von dem Wahlergebnis überrascht, fühlt sich durch die Wirklichkeit ernüchtert:

Wenn ein Land eine Opposition von einem solchen Niveau hat, wie es die derzeitige ist, die die Fidesz seit zwölf Jahren kein bisschen in die Klemme bringen kann, wenn diese Opposition über keine einzige glaubwürdige Führungspersönlichkeit verfügt, um die herum sich die Opposition tatsächlich aufreihen würde oder könnte (denn diesmal hat sie das nicht getan), dann kann dafür, …., einzig und allein die Opposition etwas und nicht das für die Opposition nachteilige ungarische Wahlsystem oder das Fehlen einer ausgewogenen Medienlandschaft.

Er sieht die Unfähigkeit der Opposition, die sich in der Hauptstadt konzentriert und deren ideologischen Argumentationen in der Provinz nicht ankommen, als Ursache für das Wahlergebnis zu Gunsten Orbans. Und das, obwohl 

die Ungarn unter den EU-Ländern zu den engagiertesten Anhängern der Europäischen Union zählen. Ungarn war nie eine bürgerliche Demokratie im westlichen Sinne und wird es, so glaube ich, in absehbarer Zeit auch nicht sein. Das bedeutet aber nicht, dass unser politisches System nicht grundlegend demokratisch wäre. Und es bedeutet auch nicht, dass wir uns nicht im Kontext des kulturellen und politischen Wertesystems der westlichen Demokratien definieren wollten. …

Andrea Tompa (geboren 1971) ist eine rumänisch-ungarische Schriftstellerin und Theaterwissenschaftlerin. Sie betont hingegen, dass sie die Wahl nicht für demokratisch und fair hält.

Ich habe die Leserinnen (und ich weiß, dass ich Fidesz-Wählerinnen unter ihnen habe) auch gebeten, darüber nachzudenken, ob wir es Demokratie nennen können, wenn der Kandidat der Opposition genau fünf Minuten für den Wahlkampf in den öffentlichen Medien bekommt. 

Sie betont, dass viele Intellektuelle sich in einer unmittelbaren existenziellen Abhängigkeit vom Staat befinden. Was dazu führt, dass diese in die innere Emigration gehen und schweigen. Ein Phänomen, das wir aus der DDR, dem Ostblock durchaus kennen. 

Iván Fischer (Jahrgang 1951), ein ungarischer Dirigent, Orchesterleiter und Komponist, formuliert:

In Budapest hat in fast allen Bezirken die Opposition gewonnen, in der Provinz überall fast ausschließlich die Regierung. Die Ungarn leben in zwei Blasen, sie haben zwei Denkweisen, und sehen sich gegenseitig als Feinde an. Das darf so nicht bleiben.

Auch er sieht bei der Intelligenzija das Problem der Abhängigkeit von staatlichen Institutionen und Aufträgen:

Diejenigen, die international Erfolg haben, können unabhängig bleiben. Die aber, die nur in Ungarn auftreten, müssen gute Kontakte zu Institutionen haben, damit sie eingeladen werden. Wird sich das noch verschärfen? Ich weiß es nicht. Die Kunst überlebt immer und ist nicht zu unterdrücken. Ich mache mir viel mehr Sorgen um die Leute, um unser Publikum. 

Terézia Mora  (geboren 1971) ist eine deutschsprachige ungarische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin. Sie konstatiert, dass es der Opposition nicht gelungen ist, die resignierten Massen auf dem ungarischen Land zu erreichen – die keine andere Informationsquelle kennen als die staatlich kontrollierten Medien. 

Ein Bekannter von mir war Wahlhelfer in einem kleinen Dorf, in dem man keine politische Diskussion führen kann, denn die Wähler kennen nur einen Namen auf dem Wahlzettel, den von Orbán; dass sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, zum Wahllokal zu kommen und ihr Kreuz zu machen, ist schon ein Wunder. Dass die Opposition – trotz manipulierter Wahlkreisgrenzen – in den Städten gewinnt, ist nicht nur ein Grund zur Freude, sondern auch ein Zeichen dafür, dass sie auf dem Land versagen. 

Aber offensichtlich stellt sich eine gewisse Gewöhnung ein – Orban sei ja nur ein "Putin in Legogröße". Er könne nur zu Hause Schaden anrichten. 

Kinga Tóth (geboren 1983), eine ungarische Lyrikerin und Performancekünstlerin, ist die jüngste der Interviewten. Sie verneint das Narrativ, von einem zentralisierten Land, in dem sich niemand um die Provinz, um die armen Leute im Elend, ohne Ausbildung und Ahnung, wen sie wählen sollen, kümmert. Aber auch sie stellt fest:

Die Organisationen in Regierungshänden, die wie Pac-Man immer größer und dicker werden, haben die freie Kultur, die NGOs, entweder kaputt gemacht oder gefressen. Wer noch arbeiten, schreiben und derartigen Luxus üben möchte, kann die Regierungsorganisationen fast nicht vermeiden, es sei denn, man wechselt die Sprache und schreibt und versucht ein bisschen auf fehlerhaftem Deutsch zu jammern – weil man machtlos ist.

Man kann also vermuten, Orbans anhaltende Mehrheit in den Wahlen basiert neben der Herrschaft über die Quellen der wirtschaftlichen Macht auf einer kulturellen Hegemonie in den Medien, den Bildungseinrichtungen und der Wissenschaft. So erlebt es wohl die oppositionelle Intelligenz. Und das verstärkt sich wechselseitig. Geld gibt es nur für hörige oder schweigende Kulturschaffende und sonstige Intellektuelle. Auch das kommt einem bekannt vor – eine Art von Sozialismus 2.0?

Fünf oppositionelle Blicke auf Ungarn nach der Wahl

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre

    Das alles könnte man - wenn natürlich auch auf anderem Niveau - zb auch über Bayern und die CSU Schreiben. was ist der Unterschied? Freie Medien über Bayern hinaus plus einen starken Rechtsstaat mit starker Verfassung die über den bayrischen Gesetzen etc. steht.
    Wir brauchen also eine wesentlich stärkere EU eine demokratischere. Die Rechtsstaats-Regularien sollten endlich - trotz Ukrainekrieg - Polen und Ungarn sanktionieren.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      Eine demokratischere EU, die ihre Mitglieder sanktioniert? Das empfinde ich aber als eine gefährliche Idee.

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl Gesetze durchsetzen. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      @Cornelia Gliem Aber warum soll der Rechtsstaat, der dann über den bayerischen Gesetzen steht, besser sein? Es ist doch ein Irrglauben, dass die übergeordnete Ebene grundsätzlich demokratischer und/oder besser ist. Oft eher im Gegenteil. Sie sollte andere Dinge entscheiden als die Regionen. Etwa Aussenpolitik. Aber nicht die Feinsteuerung übernehmen. Ein solches Europa wird m.E. nicht funktionieren.

      Was heißt denn "starke Verfassung"? Es ist doch nicht der Verfassungstext sondern die Interpretationen durch die Institutionen, das Verhalten, die Reaktionen der Bevölkerungen darauf und dann die Gesamtwirkung in der Gesellschaft dadurch, die eine gute Gemeinschaft schaffen.

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