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Volk und Wirtschaft

Degrowth und Wachstumszwang in der Klimakrise

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 18.08.2024

Sicher, die Klimaproblematik ist wesentlich eine Folge des wohlstandsschaffenden Wirtschaftswachstums der letzten ca. 200 Jahre. Der kapitalistischen und der sozialistischen Industrialisierungen und des entsprechenden Konsums. Was also könnte man dagegen tun? Den Kapitalismus und seinen "Wachstumszwang" abschaffen, die gegenwärtige Wirtschaft schrumpfen oder mit neuen Technologien umweltfreundlich weiter machen?

Der Wirtschaftssoziologe Christoph Deutschmann geht in Soziopolis diesen Fragen nach und wirft gleichzeitig zusätzliche Fragen auf:

Wer die Forderung nach „Degrowth“ realisieren und nicht nur als schöne Floskel pflegen will, ist mit einer Reihe ungelöster Fragen konfrontiert.

Dabei wendet er sich zunächst den Konzepten des Wirtschaftswachstums und des Wachstumszwangs selbst zu. So streiten Soziologen und Ökonomen durchaus darüber, ob es einen genuin kapitalistischen Wachstumszwang wirklich gibt. Klar ist lediglich, die Weltwirtschaft ist in den letzten Jahrhunderten stark gewachsen - befeuert durch die Industrialisierung. Aber ist das ein Zwang oder eine Möglichkeit? Und kommt man da nur raus, indem man den Kapitalismus beseitigt? Deutschmann sieht hier eher eine "gesellschaftliche Zwanghaftigkeit des Wirtschaftswachstums" und meint, dass diese Zwanghaftigkeit von einer Wirtschaftssoziologie,
die von strukturellen Variablen ausgeht, überzeugender beleuchtet werden kann als von der individualistisch ansetzenden neoklassischen Wirtschaftstheorie, in der sogar die Frage kontrovers ist, ob es so etwas wie einen Wachstumsimperativ überhaupt gibt. 

Wachstum ergibt sich demnach als ungeplanter Effekt eines spezifischen Zusammenspiels von Faktoren auf der Makro- und Mikro-Ebene von Gesellschaften - oder auch nicht. Die staatliche Wirtschaftspolitik hat darauf i. d. R. nur begrenzten Einfluss. 

Wachstum entsteht folglich weder notwendig noch gesetzmäßig; vielmehr kann auch das Gegenteil der Fall sein, und auch solche Konstellationen können durch das Verfahren der Mehrebenenanalyse differenziert in den Blick genommen werden. 

Für ihn bedarf es drei Bedingungskomplexe, die zusammengenommen einen Wachstumsdruck hervorrufen können. So etwa eine unterschiedliche Verteilung der Vermögen und Einkommen (letztendlich der Eigentumsrechte über die Produktion).

Die eigentumsbasierte Teilung der Klassen konfrontiert die Akteure mit einem auf den ersten Blick unüberwindbar scheinenden Ausmaß an sozialer Ungleichheit. Heute ist jedoch klar, dass es zu der sozialen Polarisierung der Klassen auf globaler Ebene, die Marx vor 150 Jahren vorausgesagt hatte, nicht gekommen ist. Im Gegenteil scheint sich die Dichotomie der Klassen in vielen Ländern geradezu in eine Anreizstruktur für den individuellen sozialen Aufstieg verwandelt zu haben. Zwar sind die faktischen Aufstiegschancen aus der arbeitenden in die vermögende Klasse oft nur gering, aber im Gegensatz zu ständischen Formen sozialer Ungleichheit ist die Ungleichheit der Klassen formal nicht festgeschrieben. Die bloße Chance, sich durch individuelle Anstrengungen in den Club der Vermögenden emporzuarbeiten, kann jedenfalls beträchtliche motivierende Wirkungen entfalten.

Erscheint dies großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr möglich, erlischt der Drang zu individuellen Anstrengungen. 

Weiterhin braucht es dazu noch breite Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Das erfordert 

ein möglichst gut ausgebautes Bildungs- und Wissenschaftssystem sowie frei zugängliche Kreditsysteme und Kapitalmärkte, die die Finanzierung von Innovationen und sozialen Aufstiegen ermöglichen. Gefordert ist zweitens eine technische und kulturelle Infrastruktur für die Kommunikation ökonomischer Zukunftsvisionen, die auf Resonanz auf den Märkten stoßen müssen. 

Dazu muss dann noch eine junge und ehrgeizige Bevölkerung kommen:

Die dritte und vielleicht wichtigste Voraussetzung ist eine jugendliche und wachsende, zugleich nach sozialem Aufstieg strebende Bevölkerung, die die Spannung zwischen dem sozial vorgegebenen Ziel des Reichtums und den begrenzten Mitteln im Modus der „Innovation“ zu bewältigen sucht; Ritualismus, Rückzug oder Rebellion bleiben habituelle Orientierungen, die sich auf Randgruppen beschränken.

In unseren schnell alternden und schrumpfenden Gesellschaften sinken also auch die Chancen für wirtschaftliches Wachstum stark. Und das zeigt sich auch empirisch:

Die Wachstumsraten weisen, nicht nur in den Industrie-, sondern zunehmend auch in den Schwellenländern, einen langfristigen Trend nach unten auf. Ob man es für wünschenswert hält oder nicht: Degrowth ist eine Realität, die freilich durch strukturelle Faktoren verschiedener Art bedingt ist ….

Unabhängig von den aktuellen politisch und ideologisch teilweise hysterisch geführten Kontroversen pro und contra Wachstum bewegen sich die realen Wachstumsraten schon länger klar in Richtung "Degrowth".  Was zwar auch mit der Klimakrise zu tun hat, großteils aber ganz andere Ursachen hat. So zitiert Deutschmann das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung:

Nach allen verfügbaren Statistiken hat sich der Wachstumsrückgang über Jahrzehnte verfestigt. Er ist dauerhaft und strukturell bedingt. Kurz gesagt, ist er größtenteils eine Auswirkung des Erfolges der Menschen in den weit entwickelten Ländern: Weil sie mehr Bildung mitbekommen und es ihnen besser geht, bekommen sie weniger Nachwuchs und leben immer länger. Das Bevölkerungswachstum klingt langsam aus, die Gesellschaften altern. Dieser demographische Wandel gilt als eine der Hauptursachen für das rückläufige Wirtschaftswachstum. Die Stagnation wäre demnach eine logische, systemimmanente Folge des sozioökonomischen Fortschritts und ein, womöglich das große Thema des 21. Jahrhunderts. Denn dieser Trend trifft nicht nur die Industrienationen, sondern – zeitversetzt, aber mit höherem Tempo und stärkerer Wucht – längst auch die Schwellenländer von China bis Brasilien. Ihm folgen alle Länder, die sich auf den Entwicklungspfad begeben.

Sicher sind diese Prozesse bei weitem nicht genug, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Ein drastischer Wandel unserer Energieinfrastrukturen bleibt notwendig. Dazu diskutiert Deutschmann drei ungelöste Fragen bezüglich der möglichen politischen Durchsetzung einer Degrowth-Strategie

  • Welche genau sind die institutionellen Reformen, die notwendig wären, um den kapitalistischen Wachstumszwang zu stoppen? 
  • Wie soll der demokratisch erforderliche Mehrheitswille für eine Degrowth-Politik, von der wir offensichtlich weit entfernt sind, zustande kommen? 
  • Auch wenn es gelänge, das Wirtschaftssystem auf einen Pfad einfacher Reproduktion zurückzuführen oder sogar eine temporäre Schrumpfung zu erreichen – inwieweit könnte das Ziel des Klimaschutzes damit tatsächlich erreicht werden?

Gerade bei der letzten Problematik zeigt sich:

Angesichts der schon weit fortgeschrittenen Erderwärmung fehlt schlicht die Zeit, erst die Gesellschaftsordnung auszutauschen, um dann gründlich und systematisch die Behebung der durch den Kapitalismus verursachten Klima- und Umweltschäden in Angriff zu nehmen. Fortschritte müssen hier und heute erzielt werden. 

Und aus meiner Sicht ist gerade der klimagerechte Umbau all unserer Infrastruktur ein großes Wachstumsprogramm. Das wiederum heißt auch

Vorerst bleibt daher nur die Option, die Reparatur der Umweltschäden der gleichen kapitalistischen Wirtschaft aufzuerlegen, die sie verursacht hat. 

Man muss nicht allen Anregungen folgen, die Deutschmann diskutiert - z.B. der einer von den Arbeitenden als Eigentümern geleitete Wirtschaft. Z.T. ist er selbst skeptisch. Aber er postuliert auch, vor dem Hintergrund des sinkenden Wachstums 

könnte – noch nicht heute, aber in einer absehbaren Zukunft – eine Situation entstehen, in der der in der kapitalistischen Verfassung der Eigentumsrechte angelegte Wachstumsimperativ kaum mehr eingelöst werden kann. Es wird dann nach neuen institutionellen Lösungen gesucht werden müssen, um die Wirtschaft auch dann in Gang zu halten, wenn sie nicht mehr wächst und keine Profite mehr abwirft. So könnten der Öko-Sozialismus, aber auch andere nichtkapitalistische Modelle der Wirtschaft, am Ende doch eine Chance bekommen.
Degrowth und Wachstumszwang in der Klimakrise

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Kommentare 2
  1. Ralf Schnitzler
    Ralf Schnitzler · vor 2 Monaten

    Mir erscheint es ziemlich naiv, auch nur ansatzweise an das Erreichen des 1,5 Grad Zieles zu glauben. Ansonsten eine interessante und spannende Lektüre, in der ich E.F. Schumachers "Small is beautiful" vermisst habe.

  2. Martin Krohs
    Martin Krohs · vor 2 Monaten · bearbeitet vor 2 Monaten

    Sehr interessant und passt gerade perfekt zu einer bei mir aktuellen Thema. Danke für den Piq. Oder jetzt Pick? Jedenfalls für den Hinweis!

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