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Kurator'in für: Europa Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953
Studium der Elektrotechnik und Elektronik
Forschung / Lehre auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Innovationstheorie
Entwicklung von Forschungsprogrammen im IKT-Sektor für verschiedene Bundesministerien und Begleitung der Programme und Projekte - darunter Smart Energy, Elektromobilität, netzbasiertes Lernen, Industrie 4.0
Nun im Un-Ruhestand
Sigmund Freud beschrieb "Das Unbehagen in der Kultur" 1930 als Gegensatz zwischen der Kultur und den Triebregungen:
Die Kultur sei bestrebt, immer größere soziale Einheiten zu bilden. Hierzu schränke sie die Befriedigung sexueller und aggressiver Triebe ein; einen Teil der Aggression verwandle sie in Schuldgefühl. Auf diese Weise sei die Kultur eine Quelle des Leidens; ihre Entwicklung führe zu einem wachsenden Unbehagen.Armin Nassehi folgt in seinem aktuellen Buch diesem massenpsychologischen Ansatz nicht. Er wählt eine systemtheoretische Sicht auf die Gesellschaft. Er konstatiert ein krisenhaftes Unbehagen aus Überforderung der Gesellschaft - ohne dabei in Fatalismus zu verfallen. So schreibt Ingeborg Villinger in ihrer Rezension:
… der Autor findet seine Kriterien weder in der Natur des Menschen noch in der Struktur einer ethisch-moralisch ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Gesellschaft. Er kehrt vielmehr die Denkrichtung um und nimmt die diagnostizierte Überforderung der Gesellschaft in der Moderne ernst. Damit rücken andere empirische Fragen in den Blick, etwa jene nach den gesellschaftsinternen Verarbeitungsregeln von Organisation, Information und Handlungsmöglichkeiten und deren Verhältnis zur Umwelt.Krisen sind demnach Ereignisse, die sich nicht in die alltäglichen Reaktionsroutinen unserer Institutionen einordnen und sich nicht mit den gängigen, eingeübten Methoden und Systemen lösen lassen. Nassehi's Referenzkrisen sind - wen wundert es - die sehr unterschiedlichen Probleme bei der COVID-19-Pandemie und der Klimakrise. Die "Covid-19" Krise lief die Suche nach den Verarbeitungsoptionen unter Bedingungen von Unwissenheit
quasi in Echtzeit vor den Augen der Öffentlichkeit ab, wobei permanent politische und institutionelle Steuerungsdefizite, aber auch fehlende Akzeptanz wissenschaftlicher Lösungen offenbar wurden.
Bei der Klimakrise liegt der Fall anders:
Ihre sachlichen Zusammenhänge (Ursache und Gegensteuerung) sind längst mehr als gut erforscht und bekannt. Dennoch kann diese Krise „radikale und apokalyptische Diagnosen hervorbringen – je öfter sie wiederholt werden, desto stärker sinkt ihr Informationswert“ ….
Trotzdem oder gerade daher (?) scheint sich vieles so weiterzubewegen wie bisher. Die Gesellschaften und ihre Politiken bleiben zumindest oberflächlich weitgehend unberührt.
Die Beobachtung dieser beiden so verschiedenen Krisen zeigt in aller Schärfe die analytische Notwendigkeit einer Unterscheidung von Sach- und Sozialdimension der Gesellschaft ….
Die Schere zwischen den "sachlichen Realien" und dem zunehmend hysterischeren menschlichen Unbehagen der unterschiedlichen Krisenwahrnehmungen scheint dabei immer mehr aufzugehen. Die normativ-ethischen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft selbst scheinen mir auseinander zu gehen, bis hin zu medialen "Bürgerkriegen".
In der Sachdimension geht es um das System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, um den Eigensinn von Kompetenzen, Fertigkeiten, kurz: um die Eigendynamiken von Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Sie alle sind durch eine hohe Eigenlogik gekennzeichnet, die die maßgebliche Voraussetzung ist, um den für die Lösung von Problemen nötigen Komplexitätsgrad zu erreichen, der die eigentliche Leistungsfähigkeit der Moderne ausmacht.
Die Sozialdimensionen hingegen sind vereinende Erzählungen, z.B. um die versöhnende Vermittlungen von Freiheit und Individualität innerhalb von gesellschaftlichen Gruppen - "um Solidarität und Werte wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Anerkennung – um das große Ganze." Und zum Teil ist dies wohl auch das Reich der Gefühle, der Leidenschaften und des Wunschdenkens? In dem man unliebsame soziale Entwicklungen nicht gern unvoreingenommen diskutieren will. Vielleicht läßt Freud hier doch wieder grüßen? Und genau aus diesen unterschiedlichen Dimensionen entsteht die Überforderung der Gesellschaft - nicht nur in Krisen.
Das Ganze wird verschärft durch die zunehmend funktionale Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme, die die Gesellschaft an die Grenzen des lebensweltlichen Verstehens, der Kompetenzen ihrer Bürger bringt. Was man in den Erzählungen der "Sozialdimension" nicht abbilden kann oder will.
Quelle: Ingeborg Villinger www.soziopolis.de
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In der FAZ ist auch eine Besprechung. Ramy Yousseff schreibt:
"Die Alternative zum „Durchregieren“, die Nassehi andeutet, dürfte indes vielen vertraut, wenn nicht sogar behaglich erscheinen: Nicht der große Wurf, nicht die Revolution seien der Komplexität der Gesellschaft angemessen, sondern eine Strategie, die Nassehi im Anschluss an die liberale amerikanische Ökonomin Deirdre N. McCloskey „trade-tested betterment“ nennt. Damit ist ein ergebnisoffenes Austesten von kleinteiligen, falliblen Lösungen gemeint, die bei Misserfolg rückgängig gemacht und im Bewährungsfall beibehalten werden. Kurzum: „Raute“ statt „Basta“. Worin sich dies vom Status quo unterscheiden soll, erschließt sich bei der Lektüre nicht.
Interessant ist aber die Rechtfertigung des „trade-tested betterment“, die Nassehi nicht normativ, sondern empirisch verstanden wissen will: Die Struktur der modernen Gesellschaft selbst erzwinge Ergebnisoffenheit und lege damit von sich aus ein liberales
Modell nahe, das die Funktionssysteme im inkrementellen Prozess des Trial-and-Error vor sich hin experimentieren lässt. Die These einer erzwungenen Ergebnisoffenheit der Gesellschaft ist paradox, da die Ergebnisoffenheit selbst offenbar nicht ergebnisoffen,
sondern erzwungen ist. Die These ist auch witzig, weil sie im Kontext einer Theorie formuliert wird, die sich bislang herkömmlichen Ansprüchen an Falsifizierbarkeit und Ergebnisoffenheit entzieht. Was jedoch die Hauptthese des Buches betrifft, verifiziert dieses
an sich selbst, was es über seinen Gegenstand sagt: Mit der Komplexität steigen zugleich Ansprüche und Enttäuschungsrisiken. Aber sind selbst überzogene Ansprüche deshalb sinnlos?"
In der Zeit auch eine Besprechung:
"Indem er die Sachdimension ins Zentrum der Überforderungsdiagnose rückt, will Nassehi die naheliegende Frage seiner Studentinnen und Studenten beantworten, warum denn, wenn doch ausreichend Wissen, Ressourcen, Instrumente zur Verfügung zu stehen scheinen, um die viel beklagten Probleme der Welt zu lösen, etwa Not zu lindern oder die ökologische Zerstörung aufzuhalten, warum dann ebendies nicht geschehe. Es liegt an der radikalen Immanenz einer komplexen, funktional differenzierten Gesellschaft. Sie nutze, schreibt Nassehi, "ihre Eigenkomplexität zur Lösung von Problemen – und sie stößt gleichzeitig an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität". Sie ist mit sich selbst überfordert, was ein Unbehagen nährt, das sich wiederum in Krisenerzählungen äußert. Dabei zeige ein soziologisch informierter Blick auf die Gesellschaft, dass sie selbst die Krise sei, sich "permanent im Krisenmodus" befinde. Problemen könne sie sich "nur polyphon, eher unkoordiniert" stellen. Dass so viele Gegenwartsdiagnosen heutzutage mit dieser Komplexität nicht rechnen, verbucht Nassehi als weiteres Zeichen der Überforderung. Aber eben in der funktionalen Differenzierung, der Komplexität der Gesellschaft als "Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem" lägen auch die Möglichkeiten der Bewältigung oder Verarbeitung von Problemen beschlossen. …..
Nassehi teilt Luhmanns Steuerungspessimismus, sieht aber durchaus, dass die Gesellschaft sich seit Langem schon auf das Klimaproblem einstellt – nur eben in kleinen Schritten. Wenn es um konkrete Probleme gehe, sei sie leistungsfähig, grundlegenden, ganzheitlichen Lösungskonzepten gegenüber erweise sie sich als unzulänglich."
https://www.zeit.de/20...