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Medien und Gesellschaft

Der "Fall Reichelt" ist ein Fall Döpfner und ein Fall Springer

Simon Hurtz
Journalist, Dozent, SZ, Social Media Watchblog

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Simon HurtzDienstag, 08.02.2022

Die Version des Axel-Springer-Verlags geht so: Julian Reichelt hat als Chefredakteur der Bild-Zeitung "Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt". Deshalb wurde Reichelt im vergangenen Oktober "mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden". Springer-Chef Mathias Döpfner will nichts davon gewusst haben, dass Reichelt seine Macht missbrauchte und mehrere Affären mit Mitarbeiterinnen hatte.

Eine monatelange Recherche der Financial Times zeichnet ein anderes Bild. Der Text steht hinter einer Paywall und ist auf Englisch, deshalb piqe ich hier eine deutschsprachige Zusammenfassung. (Das vierwöchige Probeabo kostet einen Euro. Der FT-Bericht ist lang und enthält viele pikante Details, allein dafür lohnt es sich. Wer die Überschrift googelt oder den Link über einen Tweet öffnet, kann den Artikel auch so lesen.)

Die Essenz der Recherche steht bereits im ersten Satz: "In der Führungsetage des Springer-Konzerns war der Fall Reichelt offenbar deutlich länger bekannt als bislang angenommen." Demnach legte die Kanzlei Freshfields dem Vorstand bereits im Frühjahr einen Untersuchungsbericht vor, der zahlreiche Vorwürfe gegen Reichelt erhärtete.

Ein Vorstandsmitglied soll gesagt haben, das Ergebnis sei "not survivable". Jeder Außenstehende, der den Bericht lese, werde sich fragen, wer Reichelt als Bild-Chef ersetze. Und nicht nur das:

Reichelt’s head would not be the only one on the block, the board member shot back. "Also: 'Who is the new CEO?' And: 'Who is the new head of news media?' If this gets out, it’s at the very least difficult for us. We’re all in the same boat."

Das widerspricht der Behauptung von Springer, im Zuge des Compliance-Verfahrens sei kein Fehlverhalten bekannt geworden, das eine Entlassung rechtfertige. Der FT zufolge soll Döpfner sogar einen Anwalt für eine Art Gegenuntersuchung engagiert haben, um unter anderem gegen eine Ex-Freundin Reichelts, zwei "deutsche Satiriker" (Jan Böhmermann und Friedrich Küppersbusch) und Kai Diekmann.
Während man hier offenbar in Bild-Manier am Spin von der rachsüchtigen Ex und der Verschwörung gegen Springer arbeitete, soll Vorstandsmitglied Stephanie Caspar laut FT stets geleugnet haben, von Affären Reichelts am Arbeitsplatz gehört zu haben, obwohl demnach mindestens fünf Angestellte Beschwerden vorbrachten. Freshfields teilte der FT mit, der Untersuchungsbericht habe die Vorfälle, die von mehreren Frauen meist anonym geschildert worden waren, "klar und unvoreingenommen" dargestellt, einer der Anwälte soll Reichelt mitgeteilt haben, seine Mitarbeiterinnen hätten mehr Angst vor ihm als seinerzeit die VW-Angestellten vor ihrem Vorstand Winterkorn.

Eine der ehemaligen Mitarbeiterinnen Reichelts sagte der SZ, sie sei erleichtert, dass der Fall nun so offengelegt sei. Es habe sie "schockiert", wie sehr es für Springer stets nur um die Wirkung in der Öffentlichkeit gegangen sei, während man "für die Betroffenen kaum Verantwortung übernommen hat".

Der Spiegel, der die Recherche der FT ebenfalls zusammenfasste, zitiert den Springer-Verlag. Demnach zeichne der Bericht "ein irreführendes Bild der Compliance-Untersuchung, der daraus gezogenen Konsequenzen, des gesamten Unternehmens und seiner Führung".

Vor fast einem Jahr fragte Stefan Niggemeier:

Die entscheidende Frage ist nicht, ob Julian Reichelt Bild-Chef bleiben wird. Die entscheidende Frage ist, ob Mathias Döpfner Axel-Springer-Chef bleiben wird.

Ich bezweifle, dass die Recherche der Financial Times etwas an der Antwort ändert, die Springer bislang auf diese Frage gegeben hat.

Der "Fall Reichelt" ist ein Fall Döpfner und ein Fall Springer

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