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Medien und Gesellschaft

Auch für Julian Reichelt gilt die Unschuldsvermutung

Simon Hurtz
Journalist, Dozent, SZ, Social Media Watchblog

Mag es, gute Geschichten zu erzählen.
Mag es, gute Geschichten zu lesen.
Mag es, gute Geschichten zu teilen. Das tut er hier.
Mag es gar nicht, in der dritten Person über sich zu schreiben.

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Simon HurtzSamstag, 13.03.2021

Ich bin selten einer Meinung mit Alexander Kissler und Marc Felix Serrao. Auch diesmal stimme ich beileibe nicht allem zu, was die beiden Deutschland-Korrespondenten der NZZ schreiben. Das beginnt bei der Überschrift:

Böse, böser, Bild-Zeitung? Bei der Berichterstattung über den Chef von Deutschlands auflagenstärkster Zeitung setzen auch seriöse Medien auf feucht-fröhliche Spekulationen.

Damit ist unter anderem der Spiegel gemeint, dessen Recherchen die aufsehenerregendste Mediengeschichte der vergangenen Wochen angestoßen hatten. Man kann darüber streiten, ob man den zweiten Aufschlag wirklich mit "Vögeln, fördern, feuern" hätte betiteln müssen. Doch inhaltlich empfinde ich den Text nicht als "feucht-fröhliche Spekulation", wie es die NZZ suggeriert.

Trotzdem empfehle ich die Gegenrede von Kissler und Serrao, weil sie valide Kritikpunkte an den Reaktionen auf die Vorwürfe gegen Bild-Chef Julian Reichelt enthält. Insbesondere in sozialen Medien ist die Häme schier grenzenlos. Bis zu einem gewissen Grad ist das nachvollziehbar: Schließlich macht die Bild-Zeitung sonst gern selbst genüsslich Affären öffentlich, verletzt die Menschenwürde und ignoriert Rügen des Presserats.

Das darf aber keinen Einfluss darauf haben, wie Journalistïnnen über Reichelt berichten. Das beginnt bei den ziemlich eindeutigen Andeutungen von Jan Böhmermann ("Graf Koks") und Friedrich Küppersbusch und endet bei Lorenz Maroldt. Der Tagesspiegel-Chef schrieb in seinem Checkpoint-Newsletter ein angeblich fiktives Drehbuch für eine "Serie über eine große Boulevardzeitung", in dem er sämtliche Gerüchte versammelte, die derzeit in der Branche über Reichelt die Runde machen.

"Jeder wusste, wen der Autor attackierte, aber weil er sein Geraune als Fiktion darstellte, war er juristisch auf der sicheren Seite", kritisiert die NZZ das Vorgehen. Stefan Niggemeier, bislang eher nicht als großer Verteidiger der Bild-Zeitung bekannt, wird noch deutlicher. Bei Übermedien schreibt er:

In jedem Fall war es eine journalistische Kapitulation. Dadurch dass Maroldt möglicherweise wahre Geschichten als Fiktion erzählte, umging er alle Hürden, die einer seriösen Berichterstattung darüber im Weg standen. Er musste niemanden finden, der die geschilderten angeblichen Ereignisse bezeugte. Er musste die Gegenseite nicht mit den Vorwürfen konfrontieren. Er musste nicht entscheiden, ob die recherchierten Belege und Indizien für eine Berichterstattung ausreichen.

Die Verdachtsberichterstattung erlaubt es, "auch bei zweifelhafter Tatsachengrundlage (…) über einen Sachverhalt zu berichten. Allerdings gelten dafür Hürden. Ein bloßer Anfangsverdacht reicht nicht aus. Medien müssen "einen Mindestbestand an Beweistatsachen ermitteln, die den Verdacht tragen können." (Ich zitiere ausnahmsweise aus der Wikipedia, die Passagen sind aber durch Fußnoten und Quellen belegt.)

Maroldt versucht erst gar nicht, diese Voraussetzungen zu erfüllen, sondern flüchtet sich in die scheinbare Fiktionalität.

Das ist extrem problematisch. Zum einen für die Betroffenen: Nicht nur die Zeitung und ihre leitenden Mitarbeiter sind in der märchenhaften Erzählung leicht zu identifizieren, auch andere handelnde Personen. Sie sehen sich nun öffentlich mit Vorwürfen konfrontiert, gegen die sie sich wegen der Form kaum wehren können.

Ich kenne Julian Reichelt nicht. Die Zeitung, die er macht, trägt nicht dazu bei, dass ich das unbedingt ändern möchte. Die Porträts, die ich über ihn gelesen habe, zeichnen das Bild eines Getriebenen, der sich und seine Mitarbeiterïnnen an die Belastungsgrenze bringt – und manchmal auch darüber hinaus.

Mitleid, wie es die NZZ nahelegt, muss man mit Reichelt eher nicht haben:

"Alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich immer für diesen Laden getan und für die Leute hier." Dieser von Reichelt überlieferte Satz aus einer Redaktionskonferenz in dieser Woche fasst die Tragödie, die ein Hinauswurf für ihn bedeuten würde, gut zusammen.

Wenn sich die Vorwürfe erhärten und Reichelt gehen muss, hat er sich das selbst zuzuschreiben. Bis dahin halte ich es mit Stefan:

Auch für Julian Reichelt gilt die Unschuldsvermutung. 
Auch für Julian Reichelt gilt die Unschuldsvermutung

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Kommentare 8
  1. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor mehr als 3 Jahre

    Ich frage mich immer: lässt jemand sich als Redakteur freistellen oder gibt sein Bundestagsmandat ab oder tritt sonst irgendwie zurück, wenn er wirklich selber an seine Unschuld glaubt? Ist schon mal jemand "zurückgekehrt" nach dem "move"?

    1. Gabriele Feile
      Gabriele Feile · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

      Gute Fragen. Vermutlich ist das eigene Gewissen das beste Gericht.

    2. Simon Hurtz
      Simon Hurtz · vor mehr als 3 Jahre

      True. Allerdings hatte ich den piq veröffentlicht, bevor sich Reichelt freistellen ließ. Und auch diese Entscheidung ist noch kein Schuldeingeständnis. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf den Bericht von Freshfields und die Konsequenzen, die Springer zieht (oder auch nicht).

    3. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 3 Jahre

      @Simon Hurtz ja mein Kommentar hatte sozusagen nur ums Eck mit deinem piq zu tun. Der sagt, was zu sagen ist, auf den Punkt.
      Ich kann mich von der Häme selber auch nicht ganz freihalten...immerhin hat JR auch im öffentlichen Feld, gerade bei twitter, so oft einen so furchtbaren, menschlichen Eindruck hinterlassen, dass man sich echt gewundert hätte, wenn einem einer versucht hätte zu erklären, dass er persönlich ein total super Typ ist. Entbindet aber natürlich nicht von journalistischer Sorgfalt und auch nicht von Anstand.

    4. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

      Äh — selbstverständlich gibt jede/r, der oder die anständig ist, Ämter oder Mandate auf, wenn Kontroversen um die Person dem höheren Zweck, dem diese durch Amt oder Mandat zu dienen sich entschlossen hat, über Gebühr zu schaden drohen. Schuld oder Unschuld ist da gar keine Kategorie, weil es nicht in erster Linie um das betroffene Individuum geht. That being said ist ein Job oder eine Position bei der BILD vielleicht kein Amt oder Mandat. Aber dass Reichelt hier keinen Trump-Move macht (so: "alle und alles ist scheißegal, Hauptsache ich bin mächtig"), würde ich nicht als Schuldeingeständnis deuten.

    5. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 3 Jahre

      @Oskar Piegsa ...wollte ich auch nicht sagen. War bewusst und absichtlich eine Frage. Ich kann mich aber echt nicht erinnern an einen Fall, dass jemand diesen "jetzt-klären-wir-das-erst-mal-Move" gemacht hat, um dann zurückzukommen. Und Nüsslein oder Reichelt - würdest du in deren Situation zurücktreten oder dich selbst beurlauben, wenn du wüsstest, dass nichts dran ist an den Vorwürfen?

    6. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als 3 Jahre

      @Marcus von Jordan Ich weiß nicht, wie ich handeln würde, aber ich hoffe, dass ich mich beurlauben lassen würde. Ich halte das schlicht für korrekt, um Schaden von dem abzuwenden, was größer und wichtiger ist als das eigene, kümmerliche Selbst (und da nicht dem Narzissmus zu erliegen und die eigenen Interessen, die eigene Kränkung für das Allerwichtigste zu halten, das ist schon eine Leistung).

      Deine Frage nach der gelungenen Rückkehr ist kniffelig, da fällt mir ad hoc auch niemand ein. Aber hat das nun was mit Schuld zu tun, oder z.B. auch mit sozialen Dynamiken, Vorverurteilung und der Frage, wann jemand als glaubwürdiger Funktionsträger verbrannt ist?

      Interessanterweise fallen mir eher Leute ein, die stoisch ihre Unschuld und ihr tadelloses Verhalten behaupteten, und damit durchgekommen sind, auch wenn ihnen nachgewiesen wurde, dass sie sich *nicht* tadellos verhalten haben.

      Donald Trump, zum Beispiel. Oder Hamburgs Innensenator Andy Grote, der nach seiner Wiederernennung Freunde zum Feiern einlud, in frecher Missachtung der Coronaregeln, die durchzusetzen sein Job ist (er behauptete, es sei keine Feier mit ihm als Gastgeber gewesen, sondern eine Verabredung zum zeitgleichen Kneipenbesuch, oder so. Das wurde dann von seiner eigenen Behörde kassiert, hat aber niemanden gekratzt).

      Das spricht aber noch mal mehr für die, die sich nicht an die Macht klammern und mit Hauen und Kratzen ihre Interessen verteidigen.

    7. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 3 Jahre

      @Oskar Piegsa ...so jetzt ist er also wieder da...bin ich schon mal widerlegt....was genau inzwischen geklärt ist, muss ich aber erst klären.

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