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Klima und Wandel

Heat Inequality: Über Klimagerechtigkeit und Hitzewellen

René Walter
Grafik-Designer, Blogger, Memetiker | goodinternet.substack.com

Irgendwas mit Medien seit 1996, Typograph, Grafiker, Blogger. Ask me anything.

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René WalterMittwoch, 28.08.2024

Während in Deutschland ein Gericht gerade einen Klima-Aktivisten der Letzten Generation zu 22 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilte, berechnete eine neue Studie die Anzahl der Toten in Europa, die Hitzewellen zum Opfer fielen, auf rund 50.000. Diese bedrückende Zahl ist laut Studie nur die zweithöchste im Berechnungszeitraum von 2015 bis 2023 und wird nur von den Sterbestatistiken des Jahres 2022 übertroffen. 

Die Forscher von World Weather Attribution berechneten neulich die Wahrscheinlichkeit dieser tödlichen Hitzewellen jüngerer Zeit und kamen zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Hitzewellen im Rahmen der Erwartungen der IPCC-Klimaberichte liegen und ohne anthropogenen, also menschengemachten Klimawandel in den USA und Europa praktisch unmöglich und in China nur alle 250 Jahre auftreten würden. Unsere Klimawandel-gedopten Hitzewellen treten allerdings alle 15 Jahre in den USA, alle 10 Jahre in Europa und alle 5 Jahre in China auf. Ein Großteil der 50.000 Hitzetode aus dem Jahr 2023 und der 60.000 Hitzetode aus dem Jahr 2022 können demzufolge also direkt auf den menschengemachten Klimawandel zurückgeführt werden.

Die Forschungsorganisation World Weather Attribution wurde im Jahr 2014 von Friederike Otto gegründet, die auch als Leitautorin an den IPCC-Berichten beteiligt ist und die das noch junge Feld der Zuordnungsforschung maßgeblich mitbegründete. Die Zuordnungsforschung untersucht die Gründe für Extremwetterkatastrophen und von welchen Klimaveränderungen sie ausgelöst werden. Eine schwierige statistische Aufgabe, die oft an unzureichendem Datenmaterial grade aus dem globalen Süden scheitert. Was uns zum eigentlichen Pick bringt.

Jonathan Watts und Isabella Kaminski haben Friederike Otto für den englischen Guardian interviewt und schreiben in ihrem Text über das (eigentlich nicht) neue Phänomen der "Heat Inequality", also Hitzetode in ärmeren Ländern, die in Statistiken nicht auftauchen und deshalb das tatsächliche Ausmaß der bereits heute durch anthropogenen Klimawandel geforderten Todesopfer verzerren:

„Heatwaves are the deadliest type of extreme weather but they don’t leave a trail of destruction or striking images of devastation. They kill poor, lonely people in rich countries, and poor people working outdoors in developing countries“, said Otto, who is also a senior lecturer in climate science at the Grantham Institute of Imperial College London. „In the last 13 months, there will be thousands and thousands of stories of poor people dying in heat that will never be told.“

António Guterres, Generalsekretär der UN, warnte noch im Juli vor dem "rapiden Anstieg in Ausmaß, Intensität, Anzahl und Dauer von Extremhitze-Events", die Schätzungen zufolge "eine halbe Million Menschen pro Jahr töten (...), rund 30-mal mehr als tropische Wirbelstürme". Eine erschreckende Zahl, die noch erschreckender wird, wenn man sie in den Kontext der Attributionsforschung und den Aussagen von Friederike Otto setzt.

Die Pionierin der Attributionsforschung ist ebenfalls Autorin des hervorragenden Buches "Klimaungerechtigkeit: Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat", das ich jedem empfehlen möchte, vor allem wenn man (wie ich) den Klimawandel (bislang) primär als physikalisch-ökonomisches Problem betrachtet, das zuvorderst durch Politik, Gesetze und Engineering gelöst werden muss. Denn die unsichtbaren Hitzetode aus dem globalen Süden sind nur eine von vielen Facetten einer Klimagerechtigkeit, die Erleichterungen für die Anpassung ärmerer Länder an den Klimawandel fordert. Grade hinsichtlich der Tatsache, dass der Klimawandel nicht nur menschengemacht, sondern ganz konkret von Kolonialmächten und dem industrialisierten Westen in den zwei vergangenen Jahrhunderten erst auf den Weg gebracht wurde, sind solche Forderungen nach Ausgleichszahlungen für diese Anpassungen zwingend.

Denn die nächste Hitzewelle kommt bestimmt: Eine Projektion der bekannten Klimaforscherin Makiko H. Sato (aus diesem PDF) zeigt, dass die derzeit beginnende El Nina-Phase in den folgenden drei bis vier Jahren nur zu einer planetaren Abkühlung auf rund 1.4°C über dem vorindustriellen Zeitalter führen könnte -- mit einer folgenden El Nino-Phase die ganz sicher weit, weit darüber liegen wird. Das Abstract von Satos Paper schließt mit den Worten: "it will be clear that the world is passing through the 1.5°C ceiling, and is headed much higher".

Angesichts dieser Aussichten ist es eine Farce, Klimaaktivisten zu Jahren im Gefängnis zu verurteilen, während die Verantwortlichen wortwörtlich Geld und Öl auf Kosten der gesamten Menschheit verbrennen. Die tatsächliche drängende juristische Frage, die sich Rechtsphilosophen und Gerichte stellen müssen, ist nicht die nach der Hafthöhe harmloser Klimakleber, sondern im Sinne der Klimagerechtigkeit: "Climate Change Is Killing People. Could Fossil Fuel Companies Be Held Criminally Responsible?" Und sollte man Petro-States mit juristischen Mitteln dazu zwingen, die Adaption des globalen Südens an den Klimawandel zu finanzieren? Die Antwort einer Gesellschaft, die Klimagerechtigkeit zu ihren Werten zählt, kann in beiden Fällen nur "Ja" lauten.

Heat Inequality: Über Klimagerechtigkeit und Hitzewellen

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Kommentare 8
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 3 Monaten

    Danke.
    Ergänzend zum Thema Umwelt-/Klimagerechtigkeit und Klimawandel zwei Picks mit weiteren Links: https://forum.eu/klima...

    und hier das lange ZEIT-Gespräch mit Friederike Otto, in dem sie nicht nur die Attributionsforschung anschaulich erklärt, sondern auch das Grundproblem des Klimawandels benennt: die Zerstörung der Lebensgrundlagen armer Menschen. https://forum.eu/klima...

    Nicht zuletzt noch ein hochinteressanter Artikel aus dem Standard (2023) über das Zusammenwirken der Erderwärmung mit den natürlichen Wetterphänomenen El Niño und La Niña:
    Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Innsbrucker Geologen fand in Ablagerungen aus Höhlen im Südosten Alaskas Hinweise auf den Einfluss des menschengemachten Klimawandels. Betont wird die Notwendigkeit weiterer Forschung. https://www.derstandar...

    und Uni Innsbruck: https://www.uibk.ac.at...

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 3 Monaten

    Vielleicht mal das ganze Bild ins Auge fassen: "Cold-related deaths outnumber heat deaths in all countries"
    https://ourworldindata...

    1. René Walter
      René Walter · vor 3 Monaten

      Was hat das mit dem Thema des Klimawandels und der Erderwärmung zu tun? (Abgesehen vom sich abzeichnenden Zusammenbruch des AMOC versteht sich.)

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @René Walter Ganz einfach, mehr Wärme - weniger Kälte, weniger Kältetote. Weniger Tote überhaupt.…..

    3. Michael Praschma
      Michael Praschma · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Du liebe Güte. Und das hier.

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Also erst einmal geht es ja im Pick um globale Entwicklungen und Auswirkungen des Klimawandels, und es steht auch drin, dass wir bei der Zahl der Hitzetoten in ärmeren Ländern von einer erheblichen statistischen Untererfassung ausgehen müssen. Im Artikel auf „Our World in Data“, der auf umfangreichem Quellenmaterial basiert, kommen diese ärmsten Länder gar nicht vor.

      Zur Frage der physiologischen Anpassungsfähigkeit des Menschen an Hitze verweise ich hier nochmals auf ein bereits an anderer Stelle zitiertes FAS-Interview (2023) mit dem Physiologen und Weltraummediziner Hanns-Christian Gunga, Seniorprofessor an der Charité (leider hinter der Paywall).
      Gunga hat den Temperaturhaushalt der Menschen unter extremen Bedingungen erforscht; sein Buch „Tödliche Hitze“ ist im Quadriga-Verlag erschienen.

      So u. a. in einem DFG-Projekt in der Subsahararegion unter Beteiligung von zehn verschiedenen Institutionen. "Eine zusätzliche Belastung von zwei Grad der Wet Bulb Globe Temperature (WBGT), einer zusammengesetzten Größe aus Luft- und Strahlungstemperatur, Luftfeuchte und Windgeschwindigkeit, ... wird in Zukunft nicht mehr zu bewältigen sein. Ich höre häufig, dass die Menschen in Afrika sich in der Evolution an hohe Temperaturen angepasst haben, dass sie das auch weiter tun werden. Aber das stimmt nicht: Die Menschen sind am Limit, sie können nicht mehr arbeiten. Wer arbeitet, stirbt an der Hitze. Wer nicht arbeiten kann, verhungert."
      Gunga erklärt, wie molekulare Prozesse bereits bei 1-2 Grad über normaler Körpertemperatur aus dem Ruder geraten. Die Anpassungsfähigkeit in vielen Regionen werde spätestens in den nächsten 10-20 Jahren erschöpft sein. Die Menschen werden diese Regionen verlassen müssen. https://www.faz.net/ak...

      Zweitens:
      Hitze- und Kältetote sind schon aufgrund des Zeitfaktors schwer zu vergleichen:
      „Epidemiological studies of the topic face important challenges in modelling of temperature–health dependencies. First, the dose-response association, which is inherently non-linear, is also characterised by different lag periods for heat and cold—ie, excess risk caused by heat is typically immediate and occurs within a few days, while the effects of cold have been reported to last up to 3 or 4 weeks.“ https://www.thelancet.... (2015)

      Drittens
      ist die Verbindung zur Todesursachenstatistik zu betrachten, da sich Vorerkrankungen unterschiedlich auswirken.
      Das Fazit einer Analyse aus Baden-Württemberg (2017):
      „So oder so dürfte der Klimawandel zumindest mit einem positiven Effekt verbunden sein: Es könnte künftig weniger ‚Kältetote‘ geben. Ob der Rückgang sogar stärker als ein möglicher Anstieg bei den Sterbefällen aufgrund hoher Temperaturen ausfallen wird oder aber die Hitze doch etwas stärkere Wirkungen als Kälte hat, ist umstritten.“
      https://www.statistik-...

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Lutz Müller Danke für die komplexe Betrachtung. Das etwas schwer zu vergleichen ist, heißt allerdings nicht, dass man es nicht vergleichen sollte. Es mag stimmen, dass wir bei der Zahl der Hitzetoten in ärmeren Ländern von einer erheblichen statistischen Untererfassung ausgehen müssen. Aber wir müssen auch den Anteil von Überbevölkerung, Armut, Korruption, Bürgerkriegen gerade in Afrika mit einbeziehen. Ohne das diese Länder diese Probleme lösen, werden dort mit und ohne Klimawandel weiter unzählige Menschen sterben. Eine Anpassung an die Erwärmung wird ebensowenig möglich sein wie eine vernünftige Klima-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.

      Siehe auch hier:
      https://www.faz.net/ak...

    6. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Danke, Thomas. Daran müssen wir zuerst denken: Kriege und Terror sind unmittelbar lebensbedrohlich.
      Aber auch eine falsche Politik kann Menschenleben kosten.

      Trotz aller methodischer Schwierigkeiten gibt es ja vergleichende Studien zu Hitze- und Kältetoten. Da muss man schon sehr tief einsteigen, um sich ein Bild von der Datenbasis und den Verfahren zu verschaffen, und wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass es kein absolutes Ja oder Nein gibt.

      Bei den Angaben zu den Timelags (wenige Tage bei Hitze- vs. 3-4 Wochen bei Kältetod) habe ich mich darüber hinaus gefragt:
      - Spielen vielleicht auch Unterschiede in der Volatilität der Temperaturen in Hitze- und Kältewellen eine Rolle?
      Und bzgl. der positiven Seite (weniger Kälte):
      - Zunehmendes Extremwetter wie Starkregen und Dürre verursacht ebenfalls viele Opfer von Überschwemmungen und Hunger. Diese Ereignisse sind dem Klimawandel zuzuordnen, kommen aber in dem Vergleich nicht vor.

      Es ist also noch komplexer als ein Vergleich zweier Größen, selbst bei genau definierter Analysemethodik.

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