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Dieses Gespräch wurde im englischen Original von Christian Gesellmann bereits am 24. Juli 2022 auf piqd empfohlen. Der ukrainische Schriftsteller Wolodymyr Rafejenko begann nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine Korrespondenz mit Marci Shore, einer Professorin für Geschichte an der Uni Yale. Gesellmann schreibt:
Project Syndicate hat eine gekürzte Version dieses faszinierenden Gesprächs veröffentlicht, in dem es um Wahrnehmung und Wahrheit im Krieg geht beziehungsweise wie der Krieg verändert, was Wahrheit ist und wie Wahrnehmung funktioniert. Ein kurzer Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen zwei großen Kennern der osteuropäischen Literatur, das nicht nur wegen seiner Aktualität (teilweise geführt während Artilleriebeschuss) so relevant ist, sondern weil es auch ein aufrüttelndes Gespräch über die Funktion von Literatur und Philosophie ist
Wolodymyr Rafejenko ist der Autor von Mondegreen: Songs about Death and Love (Harvard Ukrainian Research Institute, 2022) und The Length of Days.
Marci Shore ist außerordentliche Professorin für Geschichte an der Yale-Universität und Autorin von The Ukrainian Night: An Intimate History of Revolution (Yale University Press, 2017).
Laut dem Schriftsteller Adam Gopnik "atmen wir in unserer Muttersprache und schwimmen in unserer zweiten." Doch für viele russischsprachige Ukrainer bedeutet der Krieg gegen ihr Land, den Russland 2014 begonnen hat und der im Februar eskalierte, die Auseinandersetzung mit dem moralischen und politischen Gebot, neu atmen zu lernen.
Der ukrainische Schriftsteller Vladimir Rafeenko/Wolodymyr Rafejenko wurde 1969 in Donezk geboren und lebte dort bis 2014, als die vom Kreml unterstützten Separatisten den Krieg in den Donbass brachten, als Schriftsteller und Professor für russische Philologie. Er floh in ein Dorf außerhalb von Kiew und hat seitdem einen Roman auf Russisch über die groteske Absurdität des Krieges, The Length of Days (übersetzt von Sibelan Forrester, erscheint demnächst) und einen Roman auf Ukrainisch, Mondegreen (übersetzt von Mark Andryczyk) über Sprache, Vertreibung und das Flüchtlingsdasein im eigenen Land geschrieben. Dieses Gespräch fand im März und April 2022 statt und wurde aus dem Russischen übersetzt, gekürzt und redaktionell überarbeitet.
Marci Shore: In Ihren Vorträgen und Gesprächen kommen Sie im Sinne eines literarischen Refrains oft auf die Idee des „Zdes’ i seichas“ – Hier und jetzt – hier und jetzt ist es notwendig, Mensch zu sein“, zurück. Was bedeutet das für Sie heute?
Wolodymyr Rafejenko: Der aktuelle Kontext meines Lebens ist klar: Russlands Krieg gegen die Ukraine, ein Krieg, den Russland vor acht Jahren entfesselt hat und der am 24. Februar in eine infernalische Phase eingetreten ist. Im Moment bedeutet Menschsein vor allem, bei meinem eigenen Volk zu sein. Das zu tun, was ich für den gemeinsamen Sieg tun kann.
MS: Am 25. Februar, dem Tag nach der Invasion, schrieben Sie mir: „Krieg. Ein echter Krieg“. Wo waren Sie damals?
VR: Als der Krieg begann, befanden meine Frau und ich uns in einem von russischen Soldaten besetzten Gebiet. Wir waren gezwungen, über einen Monat dort zu bleiben, und erst im April wurden wir wie durch ein Wunder von Freiwilligen evakuiert.
MS: Wie haben sich die russischen Soldaten verhalten? Haben Sie und Ihre Frau überhaupt mit ihnen gesprochen?
VR: Nein, wir haben nicht mit ihnen gesprochen. Worüber hätten wir denn reden sollen? Es wäre nichts Gutes dabei herausgekommen – umso mehr, als uns seit den ersten Tagen der Besetzung Nachrichten erreichten, dass die Russen Zivilisten in den umliegenden Dörfern töteten. Eine Person, der ich voll und ganz vertraue, erzählte mir von der Hinrichtung einer ganzen Familie, sowohl der Kinder als auch der Erwachsenen, durch Kadyrowiten [kremltreue tschetschenische Kämpfer – Anm. d. Red.] in einem Dorf nicht weit von uns. Sie waren nur deshalb schuldig, weil sie sich geweigert hatten, die russischen Soldaten mit Lebensmittel zu versorgen.
Mit der Zeit änderte sich das Verhalten der Russen – vom gemäßigten Faschismus zum entfesselten Faschismus. Am Anfang, als sie hofften, Kiew schnell einzunehmen, machten sie nicht systematisch Jagd auf Zivilisten. Doch als unsere Streitkräfte heftigen Widerstand leisteten und die ursprünglichen Ziele des Kremls immer mehr in den Hintergrund traten, wurde das Verhalten der Russen immer abscheulicher.
An den Kontrollpunkten, durch die die Freiwilligen mich und meine Frau brachten, amüsierten sich die Kadyrowiten – bevor sie die Kiewer Bezirke verließen – manchmal, indem sie auf einheimische Autos mit weißen Fahnen und Schildern mit der Aufschrift „KINDER“ schossen. Es hieß, dass sie einige Leute durchlassen würden, andere nicht. Und wer durchkam, war unmöglich zu erraten.
MS: Wie haben Sie es geschafft, zu entkommen?
VR: Wir hatten vom ersten Tag des Krieges an versucht, rauszukommen. Aber schon am Morgen des 24. Februar war es nicht mehr möglich. Zwischen uns und Kiew befanden sich russische Panzer. Es tobten heftige Kämpfe. Als das Wasser, der Strom und die Internetverbindung abgestellt und die Geschäfte geschlossen wurden, und als sich abzeichnete, dass sich unsere prekäre Situation noch verschlimmern würde, weil es nirgendwo etwas zu essen gab, versuchte ich, einen Weg zu finden, um zu gehen. Aber die humanitären Korridore reichten nicht bis dorthin, wo wir uns befanden, und wir hatten kein eigenes Transportmittel, mit dem wir zumindest zu den Orten hätten gelangen können, von denen aus die Menschen nach Kiew transportiert wurden. Die Leute, die Autos hatten, begannen, das Dorf zu verlassen. Aber wir waren gezwungen zu bleiben. Und als es keine Hoffnung mehr gab, fand mein Freund Ljubomir Deresch Freiwillige – Wagemutige, die sich bereit erklärten, zu versuchen, die russischen Kontrollpunkte zu passieren, uns einzusammeln und auf demselben Weg wieder herauszubringen. Beim ersten Mal klappte es nicht, und wir waren verzweifelt, aber einige Tage später holten sie uns doch noch ab. Es war unsere zweite Evakuierung innerhalb von acht Jahren. Wie beim ersten Mal ließen wir all unsere Sachen zurück. Aber wir waren unendlich froh, als wir uns auf ukrainischem Gebiet wiederfanden.
MS: Ich denke dabei an Anna Achmatowas Vorwort zu „Requiem“:
In den schrecklichen Jahren der Jeschowschtschina [des Großen Terrors von 1936-38 – Anm. d. Red.] verbrachte ich siebzehn Monate in den Warteschlangen der Leningrader Gefängnisse. Einmal hat mich jemand irgendwie ‚erkannt‘. Da erwachte die Frau mit den blauen Lippen, die hinter mir stand und die natürlich noch nie in ihrem Leben meinen Namen gehört hatte, aus der Erstarrung, die uns allen dort eigen war, und fragte mich, indem sie mir ins Ohr flüsterte (wir alle dort sprachen im Flüsterton):
- Kannst du das beschreiben?
Und ich sagte:
- Ich kann.
Achmatowas „Ich kann“ bekräftigt eine bestimmte Art von erkenntnistheoretischem Optimismus. Ist es möglich, diese Art von extremer psychisch-körperlicher Belastung in Worte zu fassen, das, was der deutsche Philosoph Karl Jaspers eine Grenzsituation nannte?
VR: Während der gesamten Zeit, die meine Frau und ich in einem Haus verbrachten, das Tag und Nacht von den Explosionen der russischen Artillerie erschüttert wurde, habe ich ein Tagebuch geführt. Es war fast unmöglich, literarische Texte zu verfassen, aber das Aufzeichnen von Ereignissen, Zuständen, jenem lebenswichtigen Material, in dessen Epizentrum ich mich befand, war für mich nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit. Es lenkte meine Aufmerksamkeit von den unaufhörlichen Luft- und Artillerieduellen rechts, links, vor und hinter der winzigen Datscha-Siedlung ab, in der meine Frau und ich in den letzten Jahren gelebt hatten, nachdem wir gezwungen waren, unsere eigene Stadt, Donezk, zu verlassen. Wir haben unser Haus dort aus demselben Grund verlassen wie das Haus, in dem wir jetzt leben – unser Leben wurde von Russland zerstört.
MS: In Bezug auf das lebenswichtige Material: Der Krieg muss ein Moment sein, in dem das Konkrete und Sinnliche am lebendigsten ist. Doch gleichzeitig ist, paradoxerweise, auch das Metaphysische am lebendigsten: Woher kommt das Böse? Als ob die übliche Beziehung zwischen dem Empirischen und dem Metaphysischen irgendwie zerbrochen wäre...
VR: Die Frage, woher das Böse kommt, interessiert mich jetzt nicht mehr besonders. Welchen Unterschied macht das? Was zählt, ist die Fähigkeit, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Und dort, unter dem ständigen Bombardement Tag und Nacht, gab es keinen Gedanken an die Ursache des Bösen. Doch es gab eine erstaunliche Schärfe der Wahrnehmung. Da war Angst und Schrecken, und man musste gegen Entsetzen und Panik ankämpfen. Das Empirische war lebendiger und erschreckender als je zuvor in meinem Leben.
Und doch kam das Metaphysische sehr nahe, schaute mich an und berührte mich mit seiner Hand. Ich sah den Sommer des Herrn einen Schritt entfernt, und ich wusste, dass es nicht schrecklich war, zu sterben, sondern dass es schrecklich war, einen schändlichen Tod zu sterben. Und ich bat Gott, wenn meine Frau und ich dazu verurteilt sein sollten, unter diesen Datschen zu sterben, uns einen schnellen Tod zu schenken.
MS: Für den Philosophen Leo Schestow, einen Juden aus dem zaristischen Kiew, war die Vernunft etwas sehr Gutes, aber die Vernunft war nicht in der Lage, Regionen der Extreme zu erreichen.
VR: Es scheint mir, dass der Rationalismus den Bereich erkennt, in dem er anwendbar ist. In vielerlei Hinsicht ist der Rationalismus damit beschäftigt, die Grenze zwischen dem, was man wissen kann, und dem, was man nicht wissen kann, zu wahren. Rationalität ist die Vornehmheit des Intellekts, der den Unterschied zwischen der menschlichen Realität und der Realität des Universums kennt, die weit über jede historische oder menschliche Perspektive hinausgeht.
MS: In Grenzsituationen nimmt Zeit – Zeitlichkeit – eine andere Form an. Wie erleben Sie die Zeit jetzt?
VR: Die Zeit existiert jetzt nicht. Das heißt, es ist sehr schwierig, sie zu messen. Schon in der Besatzungszone hat die Zeit ihren Lauf verändert und sich keineswegs korrigiert. Dort waren die Jahre in einem Tag eingeschlossen, und hier vergeht ein Tag wie eine einzige Stunde.
MS: Zusammen mit der Zeit muss auch der Raum verschiedene Bedeutungen annehmen. Der Philosoph Wolodymyr Jermolenko hat kürzlich in einer Zoom-Diskussion in Kiew erklärt, wie sich die Bedeutung eines Fensters und die Bedeutung von Licht verändert haben. Auf welche Weise hat sich der Raum für Sie verändert?
VR: Wenn nicht gerade die Luftschutzsirene ertönt, ist es hier ruhig und gemütlich. Ich hasse Schmutz, deshalb halte ich alles in einem Zustand idealer Sauberkeit. Dies hilft mir im Kampf gegen Panik und Sehnsucht, gegen die Einsamkeit, die mir manchmal die Luft zum Atmen nimmt. Lange vor der Sperrstunde schließe ich die Fenster fest und schalte die Lampe ein – so entsteht die Illusion, dass man seinen Raum unter Kontrolle hat.
MS: Ich fühle mich wie im Jahr 1939, aber mit dem Internet – alles ist sichtbar, alles ist offengelegt. Wir sehen zu, wie Menschen in Echtzeit getötet werden.
VR: Hier findet ein Krieg statt, ein Krieg, der auf die Vernichtung des ukrainischen Volkes abzielt. Die Russen sind gekommen, um uns als Nation zu vernichten, als ein Volk, das es gewagt hat, seinen eigenen Entwicklungsweg zu wählen, der nicht mit den imperialen Ambitionen des Kremls, mit den revanchistischen Wünschen der Masse des russischen Volkes übereinstimmt. Die schreckliche Wahrheit ist folgende: Eine entscheidende Mehrheit der Russen unterstützt die Vernichtung des ukrainischen Volkes. Auf dem Schlachtfeld sind die Russen gnadenlos; in den besetzten Gebieten verüben sie Gräueltaten. Sie plündern und vergewaltigen, sie töten Frauen und Kinder ohne Erbarmen. In Mariupol und Charkiw. In Tschernihiw und Sumy. Wenn sie merken, dass sie einen bestimmten Ort nicht unterwerfen können, brennen sie ihn nieder.
MS: Das Böse und die Grausamkeit sind nicht neu. Aber die Art der extremen Sichtbarkeit, die das Internet ermöglicht, ist neu. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass diese Art von Transparenz möglich ist.
VR: Ja, das Außergewöhnliche an dem, was jetzt geschieht, ist diese Transparenz. Es ist nicht mehr möglich, den Kopf in den Sand zu stecken und nichts zu sehen. Wenn man die russischen Gräueltaten nicht sieht, wenn man Russland nicht als eine anthropologische Katastrophe sieht, dann sieht man es bewusst nicht. Auf diese Weise treffen Sie auch eine Wahl zwischen Gut und Böse.
MS: Vor etwa drei Jahren schrieb Wladislaw Surkow, Putins Spin-Doktor, „Der langwährende Staat Putins“ („Долгое государство Путина“), eine Art „Entblößung des Mechanismus“. „Unser System, wie überhaupt alles von uns, erscheint natürlich nicht eleganter, dafür aber ehrlicher“. Weiter heißt es
„...Unser Staat ist nicht in das Tiefe und das Oberflächliche geteilt; er bildet ein Ganzes, mit all seinen Komponenten und Symptomen an der Oberfläche. Die brutalsten Strukturen seines Machtgerüsts verlaufen geradlinig entlang der Fassade und werden durch keinerlei architektonische Exzesse verdeckt.“
Wir sehen jetzt die „brutalsten Strukturen seines Machtgerüsts. die durch keinerlei architektonische Auswüchse verdeckt werden“.
VR: Um dieses Regime zu rechtfertigen, will Surkov die Sache so darstellen, als gäbe es keine Werteperspektive, als gäbe es keine Wahrheit und könnte es keine geben, als sei das Gewissen eine Fiktion.
MS: Hier sehe ich eine Verbindung zwischen der Post-Wahrheit und Surkows Entblößung des Mechanismus. Die Abwesenheit von Geheimnissen bedeutet nicht, dass die Wahrheit sichtbar ist. Vor einigen Jahren beschrieb der Übersetzer und Psychoanalytiker Jurko Prochasko bei einer Diskussion in Kiew über Peter Pomerantsevs Buch Nichts ist wahr und alles ist möglich die Wahrheit als eine Grenze. Wenn es keine Grenzen gibt, ist alles möglich – oder wie Dostojewskis Iwan Karamasow sagte, „alles ist erlaubt“. Hannah Arendt beschreibt diesen Zustand des Seins ohne Wahrheit als Bodenlosigkeit. Schestow beschreibt Wahrheit als „zwingende Wahrheit“ und schreibt, dass „die Unterwerfung unter die zwingende Wahrheit die Quelle aller menschlichen Tugenden ist“.
VR: Immanuel Kant hat dies in seiner Diskussion über das Sittengesetz viel deutlicher ausgedrückt. Es gibt natürlich eine gänzlich unsichtbare und allbedeutende Wahrheit, die vom inneren Menschen als ein Gesetz wahrgenommen wird, das er zu erfüllen hat. Dieses Gesetz, das man das Gesetz der unsichtbaren Perspektiven nennen könnte und das weder Belohnung noch Strafe verspricht, konstituiert, formt und definiert das gesamte menschliche Leben in seiner Empirie.
MS: Über Kant: Da stimme ich zu. Außerdem ist Kants Verhältnis zum Gewissen insofern provokant, als für Kant die Absichten zählen. Wir sollten in Übereinstimmung mit unseren moralischen Verpflichtungen handeln. Aber natürlich wissen wir nicht – wir können nicht mit Gewissheit wissen – was die Folgen unserer Handlungen sein werden. Kontingenz spielt im Leben eine zu große Rolle. Das Beste, was wir tun können, ist, mit guten Absichten zu handeln...
VR: Sehr oft sind die Menschen nicht in der Lage zu begreifen, dass es nicht die Absicht ist, die gut sein kann, die unseren Handlungen einen Sinn verleiht. Handlungen erhalten ihre wahre Bedeutung erst in der Welt der Anderen. Aus diesem Grund heißt es in einem guten Buch: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“
MS: Kann die Wahrheit uns retten?
VR: Ich bin mir sicher, dass die bloße Anstrengung eines Menschen, im Bereich der Wahrheit zu bleiben, die Verwirklichung der Erlösung ist.
MS: Wie können wir verstehen, was dieser Bereich der Wahrheit ist?
VR: Die Wahrheit wird nie in einer vorgefertigten Form gegeben. Die Wahrheit kann, wie Marcel Proust sagte, nicht mit der Post empfangen werden. Die Wahrheit kann nur von uns selbst verkörpert werden, durch unsere eigenen Anstrengungen an der Grenze zwischen unserem empirischen Leben und seiner Metaphysik. Wir – das heißt wir Menschen – müssen die Tatsache der Ko-Kreation erkennen. Die Wahrheit will, dass wir ihre Schöpfer sind. Dazu fordert sie uns auf.
MS: Proust hatte Recht. Für den tschechischen Philosophen Jan Patočka war die Wahrheit etwas, das ständig gesucht werden musste, auch wenn sie, wie Sie sagen, nie als ein Objekt da ist, das man in einer vorgefertigten Form nehmen kann. Das bedeutet aber nicht, dass es so etwas wie Wahrheit nicht gibt und dass wir sie aufgeben können. Patočka und andere regimekritische Philosophen aus Osteuropa haben darauf bestanden, dass Subjektivität die Wahrheit nicht relativiert, sondern sie begründet. Dass wir Mitschöpfer der Wahrheit sind, macht unsere Verantwortung nicht geringer, sondern größer.
VR: Die Wahrheit ist kein „Was“. Die Wahrheit ist ein „Wer“. Sie wird jedes Mal im Moment unseres Bemühens geboren und vollendet sich an der Grenze zwischen unserer Subjektivität und dem Ding an sich. Sie ist niemals gestern, niemals morgen. Sie ist immer jetzt, in diesem Moment. Und jedes Mal muss sie von uns neu erschaffen werden. Und jedes Mal erschaffen wir uns gemeinsam mit ihr neu.
MS: Ich denke da an Tschechows Zoologen in Das Duell, der zu dem viel jüngeren russisch-orthodoxen Diakon, einem Mitbewohner in einem Dorf am Schwarzen Meer, sagt „Ihr seid von euer Seminarphilosophie so verdorben, dass ihr in allem nur noch Nebel sehen wollt. Die abstrakten Studien, mit denen euer jugendlicher Kopf vollgestopft ist, heißen nur deshalb abstrakt, weil sie euren Verstand von dem abstrahieren, was offensichtlich ist. Seht dem Teufel direkt in die Augen, und wenn er der Teufel ist, sagt ihm, dass er der Teufel ist, und ruft nicht nach Kant oder Hegel, um Erklärungen zu erhalten.“
VR: Tschechows Zoologe lügt immer. Ebenso der Philologe. In der Geschichte bringen von Koren und Lajewskij [der Zoologe und der unbedeutende Bürokrat-Philologe, der mit seiner Geliebten in die Küstenstadt geflüchtet ist – Anm. d. Red.] ein Tschechow-typisches Problem zum Ausdruck, das sein ganzes Werk durchzieht: Glaube ohne Taten und Taten ohne Glauben. Von Koren steht natürlich für Taten ohne Glauben, für Taten, die von zynischen, egoistischen Impulsen angetrieben werden, die die Welt der Werte verachten. Lajewskij ist der Glaube ohne Taten: Idealismus mit leuchtenden Augen, Gelehrsamkeit, geistige Anhänglichkeit an alles Erhabene – Literatur, Philosophie, Kunst –, aber eine Anhänglichkeit, die letztlich nur leere, trügerische Rhetorik unter dem Deckmantel kluger Argumentation bietet. Glaube ohne Taten und Taten ohne Glauben – diese Sichtweise offenbart die allermeisten menschlichen Probleme und Täuschungen. Nicht umsonst hat der Apostel Jakobus in seinem Brief darüber gesprochen.
MS: Als Trump auf der politischen Bühne erschien, hatte ich den Eindruck, dass ich schneller als viele meiner Kollegen begriff, was geschah, weil ich die Geschehnisse in der Ukraine und in Russland beobachtet hatte. Damals schrieb ich über russische Wörter, die den Amerikanern helfen würden, unsere gegenwärtige Realität zu verstehen: proizvol’ (Willkür mit einem Hauch von Tyrannei); obnazhenie (entblößen, offen darlegen), prodazhnost’ („Verkäuflichkeit“).
VR: Und Zynismus.
MS: Ja, obwohl wir dieses Wort im Englischen haben – im Gegensatz zu prodazhnost’, was etwas mehr als Korruption bedeutet, näher an einem existenziellen Zustand, in dem alles – und vor allem jeder – gekauft oder verkauft werden kann. Trump lebt, wie Putin, in einer Welt, in der es keine Werte gibt. Es gibt nur Preise. Jede Beziehung ist instrumentell, transaktional.
VR: Es gibt wahrscheinlich einen solchen Zustand, in dem ein Mensch seine Menschlichkeit verliert und keine Rückkehr mehr möglich ist. Das gilt für ganze Gemeinschaften, die ihr eigenes Ego zum Maß aller Dinge gemacht haben und alles und jeden außer sich selbst verachten.
MS: Jetzt fällt mir wieder Kant ein: „Was einen Preis hat, kann durch etwas anderes als sein Äquivalent ersetzt werden; dagegen hat das, was über jeden Preis erhaben ist und daher kein Äquivalent zulässt, eine Würde.“ Eine Person hat keinen Preis: eine Person kann nicht ersetzt oder ausgetauscht werden. Eine Person hat eine Würde. Daraus folgt Kants kategorischer Imperativ: Behandle einen Menschen immer als Zweck, niemals als Mittel.
VR: Da haben Sie es: ein absolut treffendes Zitat. Diese Menschen, diese Gemeinschaften sind unfähig, den Anderen als Zweck wahrzunehmen. Sie nehmen den Anderen nur als Mittel wahr. Und das wird dadurch ermöglicht, dass diese Menschen jede Grundlage für nicht-materielle Werte verloren haben. Die Würde kann nicht in der Welt eingeschlossen oder mit dem Körper gleichgesetzt werden. Die Würde ist das nicht-materielle Wesen einer Person, das, was uns als Menschen ausmacht.
MS: Der polnische Dichter Stanisław Jerzy Lec, der im Lemberg der Habsburgerzeit, dem heutigen ukrainischen Liwiw, geboren wurde, prägte den Aphorismus „sumienie czyste, bo nieużywane“ – sein Gewissen war rein, da es nie benutzt worden war.
VR: Das Wichtigste bei der Begegnung mit solchen Wesen aus der Unterwelt – und es sind genau solche Wesen, die Mariupol zerstört haben – ist natürlich, nicht so zu werden, wie sie sind.
MS: Im März sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu den russischen Soldaten: „Wenn Sie sich unseren Streitkräften ergeben, werden wir Sie so behandeln, wie Menschen behandelt werden sollten – nämlich mit Würde. So wie ihr in eurer Armee nicht behandelt werdet. Für mich war dies ein wichtiger Moment: nicht nur das Angebot eines Deals, sondern auch die Bekräftigung eines moralischen Grundsatzes: Wir werden nicht so werden wie ihr. Aber es ist nicht leicht, in einer solchen Situation nicht zu Monstern zu werden. Es erfordert viel mehr Kraft, als die meisten Menschen haben.
VR: Der Westen muss verstehen, dass Putin in diesem Krieg nicht der Schuldige ist. Er hat die Russen nicht erschaffen. Die Russen haben Putin erschaffen. Er ist ihr Instrument, ihr Alter Ego. Er ist das Fleisch der russischen Kultur, wie sie ist, ohne Illusionen oder Sentimentalitäten. Und diese Bestie muss gestoppt werden.
MS: Aber es kann doch nicht sein, dass 144 Millionen Menschen in Russland Sadisten sind.
VR: Aus meiner Sicht ist der grundlegende Systemfehler der russischen Kultur folgender: Sie hat sich bewusst außerhalb und über die allgemeinen menschlichen Werte gestellt ... Die Russen glauben, dass sie nicht nach Gesetzen und Normen, die allen Menschen gemeinsam sind, beurteilt werden können und sollen, und dass in diesem Sinne alles erlaubt ist. „Moskau – das dritte Rom“, so denken sie von sich selbst. Doch ganz plötzlich stellt sich heraus, dass es sich nicht um das Dritte Rom, sondern um das Vierte Reich handelt.
MS: Die Frage nach dem Verhalten der russischen Soldaten erinnert an den Adolf-Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. Eichmann konnte nicht denken. Für Arendt, deren berühmter Bericht über den Prozess in der Zeitschrift The New Yorker publiziert wurde, machte dies Eichmann nicht besser als andere Verbrecher; es machte ihn schlechter. Nicht zu denken, war für sie die größte Sünde.
VR: Zu denken ist das große Privileg des Menschen. Gerade in diesem Bemühen hebt er sich vom Tierreich ab. Ein Verzicht auf dieses Privileg ist fast immer bewusst. Und unverzeihlich.
MS: Glauben Sie, dass es einen Weg gibt, die Russen jetzt zu erreichen?
VR: Ich glaube, dass nur eine vernichtende Niederlage – eine schreckliche und beispiellose Niederlage – und bittere Reue die Russen ernüchtern und in die Realität bringen können – falls sie dazu fähig sind.
MS: In der Beziehung zu den Russen geht es auch um Intimität. Ich denke dabei an das Massaker von 1941 in der kleinen polnischen Stadt Jedwabne: Juden, die von ihren polnischen Nachbarn abgeschlachtet wurden, von Menschen, mit denen sie vorher familiärste Beziehungen hatten. Sie haben Leser in Russland; die Leute, die kommen, um Sie zu töten, sprechen Ihre Sprache. Was kann man in einer solchen Situation zu ihnen sagen? Wenn die Sprache nicht mehr funktioniert ... gibt es dann wirklich keine Brücke mehr?
VR: Zu Beginn des Jahrhunderts habe ich mich als ukrainischer Schriftsteller positioniert, der auch im russischen Kultur- und Sprachraum tätig ist. Es kam mir nie in den Sinn, auf Ukrainisch zu schreiben. Nach 2014 habe ich Ukrainisch gelernt und einen Roman auf Ukrainisch geschrieben, um den Russen und allen anderen zu zeigen, dass es auch für einen russischsprachigen Ukrainer kein Problem ist, Ukrainisch zu lernen – und zwar nicht nur gut genug, um es zu sprechen, sondern auch gut genug, um literarische Texte zu schreiben. Und ich habe mehr als einmal in Interviews gesagt, dass ich von nun an Bücher in beiden Sprachen schreiben würde – einen Roman auf Russisch, einen auf Ukrainisch. Ich wollte unbedingt, dass alle verstehen, dass es das Problem der Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine nie gegeben hat – und auch jetzt nicht gibt, obwohl russische Kämpfer mich und meine Familie eben mit dieser Parole aus unserem eigenen Land „befreit“ haben.
Wir waren gezwungen, nach Kiew zu gehen. Aber wir wussten natürlich, dass die Russen dort nicht Halt machen würden. Und so geschah es. Nach dem 24. Februar habe ich den festen Entschluss gefasst, nie wieder einen einzigen Text auf Russisch zu veröffentlichen. Ich will von diesen Bestien, die ukrainische Kinder ermorden, nicht verstanden werden. Ich habe ihnen nichts zu sagen. Es gibt keine Sprache, in der man mit jemandem reden kann, der in dein Haus gekommen ist, um dich zu ermorden, um deine Frau und dein Kind zu ermorden, um dein Haus zu zerstören und dein Land zu verwüsten. Und ich habe keine Lust mehr, auch nur indirekt, in russischer Sprache zur ukrainischen Literatur beizutragen. Wenn es weitergeht, dann soll es ohne meine Beteiligung weitergehen.
MS: Auch das finde ich furchtbar traurig: Putin hat diese Sprache nicht verdient. Die russische Sprache sollte viel mehr Ihnen gehören als ihm. Er könnte mit dieser Sprache nie das tun, was Sie mit ihr tun. Er könnte Tschechow nie so verstehen, wie Sie Tschechow verstehen. Warum sollten Sie ihm Ihre Sprache überlassen...?
VR: Ich bin einfach nicht mehr in der Lage, auf Russisch zu schreiben. Allein der Gedanke, dass mich jemand für einen russischen Schriftsteller halten könnte, weil ich auf Russisch schreibe, ist unerträglich.
MS: Als ich vor acht Jahren an einem Buch über den Maidan arbeitete, hörte ich mir die Krim-Rede von Putin an. Ich fand sie entsetzlich und voller Lügen, aber ich konnte zuhören. Eineinhalb Jahre später, als Trump auf der Bildfläche erschien, versuchte ich zuzuhören, aber ich konnte es nicht. Es lag nicht daran, dass ich ihn für schlimmer hielt als Putin. Es lag daran, dass ich seine Stimme nicht ertragen konnte. Es war meine Muttersprache, ich hatte keinen Abstand zu ihr. Ich habe jedes Wort zu intensiv gespürt.
VR: Ja, das ist genau das, was ich auch meine ... Das Trauma von dem, was die Russen meinem Land und meinem Leben angetan haben, ist so tief, dass es vielleicht nie heilen wird.
MS: Als im März die Bomben auf seine Stadt Charkiw fielen, erinnerte sich der russischsprachige ukrainische Schriftsteller Andrei Krasniashchikh an Theodor Adornos Aussage: „Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben ist Barbarei“. Adorno, so scheint es, änderte seine Meinung, nachdem er Paul Celan gelesen hatte, der den Holocaust überlebte und danach außergewöhnliche Gedichte in deutscher Sprache schrieb. Als ich mit unserer Tochter schwanger war, wollte mein Mann sie „Sulamith“ nennen, nach der Sulamith in Celans „Todesfuge“: „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“. Und ich war hin- und hergerissen – der Name ist zwar schön, aber traurig, genau wie dieses erstaunliche Gedicht. Celan stammte aus Czernowitz, das heute Teil der Ukraine ist. Und ich stelle mir vor, dass eines Tages ein ukrainischer Dichter die russische Poesie retten wird, so wie Celan die deutsche Poesie gerettet hat.
VR: Ich glaube, dass die russische Poesie als kulturelles Medium durch nichts anderes als sich selbst bedroht ist. Sie muss nur vor sich selbst gerettet werden, und dazu ist niemand in der Lage außer den Russen selbst. Falls sie jemals zur Realität erwachen.
MS: Kurz nach dem Einmarsch der Russen tauschte ich Nachrichten mit Jurko Prochasko aus Lwiw aus. Irgendwann habe ich ihn gefragt: Was kann ich noch für dich tun? Und er antwortete: Glaube. Woher kommt nun der Glaube, das Vertrauen?
VR: Aus dem menschlichen Herzen. Von der Sonne, die über denen aufgeht, die gut sind, und denen, die böse sind. Aus den Schriften Shakespeares und dem Lächeln von Kindern. Aus dem Lächeln deiner Freunde und den Umarmungen deines Kindes. Aus dem warmen Regen des kommenden Frühlings und aus dem dunkelblauen Himmel über unseren Köpfen.
Übersetzung: Andreas Hubig
Quelle: Volodymyr Rafeyenko und Marci Shore Bild: piqd | Project Sy... www.project-syndicate.org
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