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Die Türkei nutzt den Nebel des Krieges

Project Syndicate
The World's Opinion Page
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Project SyndicateDonnerstag, 19.05.2022

Wir veröffentlichen regelmäßig Übersetzungen ausgewählter Meinungsstücke von Project Syndicate. Diese sind zunächst als Service-piqs exklusiv für unsere Mitglieder zugänglich.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die politische Deckung gefunden, die er braucht, um weiter gegen potenzielle Dissidenten und Oppositionelle im eigenen Land vorzugehen. Und zwar indem er die Ukraine unterstützt und sich als regionaler Vermittler und Friedensstifter präsentiert. Die schamlose Verfolgung des Philanthropen Osman Kavala ist ein typisches Beispiel für das Vorgehen.

Seyla Benhabib ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Yale und Senior Scholar in Residence an der Columbia Law School.

NEW YORK – Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan instrumentalisiert den russischen Angriff auf die Ukraine, um sich in der Region als Staatsmann und Friedensstifter zu inszenieren. Gleichzeitig häufen sich zu Hause seine Verstöße gegen demokratische Grundsätze und die Menschenrechte. Da ist zum Beispiel die Leidensgeschichte von Osman Kavala, einem prominenten Philanthropen und Menschenrechtsaktivisten, der vor vier Jahren nach seinem Freispruch erneut verhaftet, vor ein durch Erdoğan kontrolliertes Gericht gestellt und vor Kurzem zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der Bewährung verurteilt wurde.

Die Behandlung Kavalas in der Türkei übertrifft sogar noch die Verfolgung von Alexei Nawalny in Russland, dem oppositionellen Politiker, der gerade eine neunjährige Haftstrafe absitzt. Die Türkei hat Kavala zu etwas verurteilt, das Hannah Arendt als „die Höhlen des Vergessens“ bezeichnet, die totalitäre Herrscher für ihre Gegner bereithalten. Eine ungerechtfertigte lebenslange Haft löscht nicht nur die bürgerliche Persönlichkeit und soziale Identität des Verurteilten aus, sondern zerfetzt auch das Gedächtnis und Narrativ, das die Gesellschaft zusammenhält, und schafft Voraussetzungen, unter denen ein Regime ungestraft Gewalt einsetzen kann.

Das erschreckende Urteil gegen Kavala ist mit der lebenslangen Haftstrafe des Führers der separatistischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan und der Internierung des Führers der kurdischen HDP Selahattin Demirtaş zu vergleichen. Aber anders als Öcalan und Demirtaş ist Kavala weder Politiker noch ein Soldat oder eine Medienpersönlichkeit. Er ist ein gewöhnlicher Bürger, der in der türkischen Zivilgesellschaft aktiv war und zum Aufbau unabhängiger Kultur- und Wissenschaftsforen beigetragen hat.

Kavala hat die Stiftung Anadolu Kültür gegründet und war unter anderem im Vorstand der Open Society Foundation, der Türkischen Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien und der History Foundation (Tarih Vakfi). Für seine Arbeit zur Förderung von Menschenrechten und kulturellem Austausch erhielt er 2021 den Courage in Public Scholarship Award der New School for Social Research in New York, eine Ehre, die er mit der verstorbenen Philosophin Ágnes Heller, dem polnischen Historiker Jan T. Gross und der verstorbenen amerikanischen Feministin und Aktivistin Ann Snitow teilt.

Der Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 erschien zunächst wie eine Befreiung der türkischen Zivilgesellschaft von dem laizistischen, aber repressiven Staat, den Mustafa Kemal Atatürk Anfang der 1920 gegründet hatte. Kavala schätzte das multikulturelle Erbe der türkischen Republik und wollte die Bedingungen wiederbeleben, dank derer einst in der ganzen Türkei die Monumente, Lieder, Gerichte und Erinnerungen von Armeniern, Griechen, Kurden, Aleviten, Juden und Tscherkessen zu finden waren. Während der französische Historiker des Nationalismus Ernest Renan davon überzeugt war, für das Leben als Nation müssten die gewaltsamen Kämpfe der Vergangenheit verdrängt werden, erkannte Kavala, dass die Demokratisierung der Türkei Akte des Gedenkens erfordert.

Kavalas Verhaftung, Inhaftierung und Verurteilung sind offensichtliche Rechtsverstöße und haben die Türkei in eine offene Konfrontation mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) getrieben und die Mitgliedschaft des Landes im Europarat gefährdet. Während seiner mehr als vier Jahre dauernden Untersuchungshaft wurden Kavala unter anderem gewaltsame Proteste, ein Umsturzversuch und Spionage vorgeworfen. Da das 13. Assisengericht in Istanbul noch kein schriftliches Urteil vorgelegt hat, bleibt unklar, auf welchen Anklagepunkten das Urteil beruht.

Im Mai 2019 hatte der türkische Verfassungsgerichtshof in einem Urteil mit Mehrheitsentscheidung (zehn zu fünf), bei dem der vorsitzende Richter Zühtü Arslan mit den Abweichlern stimmte, eine Beschwerde Kavalas zurückgewiesen. Obwohl Kavala am 18. Februar 2020 von den Vorwürfen in Bezug auf die Proteste am Gezi-Park freigesprochen worden war, wurde er kurz darauf der Spionage und der Verschwörung gegen die Regierung angeklagt und erneut verhaftet.

Der EGMR, der Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention durch einzelne Mitgliedstaaten verhandelt, hat entschieden, dass das türkische Verfassungsgericht die Anschuldigungen gegen Kavala, der vor der Anklage mehr als drei Jahre lang in Untersuchungshaft war, nicht ausreichend rasch geklärt hat. Des Weiteren liegen laut EGMR keine Beweise dafür vor, dass Kavala an rechtswidrigen Aktivitäten beteiligt war. Demnach könne er auch nicht wegen des Versuchs, die Regierung mit Gewalt zu stürzen, angeklagt werden. Schließlich stellte der EGMR „zweifelsfrei“ fest, dass die Türkei mit der Verlängerung der Untersuchungshaft gegen den Menschenrechtsaktivisten „ein weiteres Ziel verfolgt, und zwar ihn zum Schweigen zu bringen“, und damit gegen Artikel 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte die sofortige Freilassung Kavalas (und Demirtaş). Als die Türkei dem nicht nachkam, kündigte das Ministerkomitee des Europarats die Einleitung eines „Vertragsverletzungsverfahrens“ an, das sei Februar läuft. Die Türkei reagierte mit der Ankündigung, die Botschafter der Vereinigten Staaten und neun weiterer Länder (Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Kanada, Niederlanden, Neuseeland, Norwegen und Schweden), die das Urteil des EGMR unterstützt hatten, ausweisen zu wollen. Diese Entscheidung sandte eine Schockwelle durch diplomatische und außenpolitische Kreise und nur einige hektische Manöver in letzter Sekunde konnten eine noch ernstere diplomatische Krise abwenden.

Der Krieg in der Ukraine hat Erdoğan nun die Ablenkung geliefert, die er braucht, um Kavala für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen. Die zentrale Position der Türkei in der Region und die Drohnen, die das Land der bedrohte Ukraine gleich zu Beginn des Krieges verkaufte, machen die Türkei für den Westen als Partner unverzichtbar. Und dank seiner guten Handelsbeziehungen sowohl zur Ukraine als auch zu Russland kann sich Erdoğan in dem Konflikt als Vermittler präsentieren.

In der Zwischenzeit setzt die Türkei ihr „Freund-Feind“-Verhältnis zu Russland in Syrien fort. Der Kreml will Baschar al-Assad um jeden Preis an der Macht halten und die Türkei will mit derselben Entschlossenheit verhindert, dass die separatistischen Kurden weitere Gebiete an ihrer Südwestgrenze einnehmen.

Solange sich der Nebel des Krieges in der Ukraine nicht legt, bleibt abzuwarten, ob das Ministerkomitee des Europarats angemessene Sanktionen gegen die Türkei verhängen wird. Höchstwahrscheinlich finden die westlichen Verbündeten der Türkei eine Möglichkeit, Erdoğan seinen Willen zu lassen, und Kavala, ein Mann in seinen Sechzigern, verschwindet in der Höhle des Vergessens.

Die Türkei nutzt den Nebel des Krieges

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Kommentare 2
  1. Jürgen Klute
    Jürgen Klute · vor mehr als 2 Jahre

    Danke für den Hinweis.

  2. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre

    Im Grunde dürfte die Türkei nicht mehr in der Nato sein: sie teilt offensichtlich schon längst nicht mehr deren Werte und Standards und sie gefährdet die Nato durch ihre Kriegspolitik: würde die Türkei etwa von Syrien angegriffen o.ä., wäre das ein Bündnisfall ??

    klar wir sind angewiesen - mal wieder.
    Aber sehen wir nicht aktuell was passiert wenn man Autokraten gewähren lässt?

    Auch Wenns schwer fällt: Türkei raus aus der Nato oder doch zumindest ein Moratorium.

    rein pragmatisch wird man ihr momentan nachgeben müssen um Schweden und Finnland schnell aufnehmen zu können. Aber dann erst mal ... Druck auf die Türkei ausüben, um auch deren demokratische zivilgesellschaft zu unterstützen.

    Ach ja, was waren das noch Zeiten als die Türkei kurz vor der EU-mitgliedschaft stand...
    (und das von CDU u.ä. boykottiert wurde).

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