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In einer Welt, die von Informationen förmlich überflutet wird, in der es jedoch an Weisheit mangelt, hat sich Wut – aus Schmerz hervorgegangen – zu der bestimmenden Emotion entwickelt. Das falsche Versprechen der digitalen Technologien des 21. Jahrhunderts ist aufgedeckt worden. Zurück bleiben Menschen, die sich verzweifelt nach sinnvollen menschlichen Verbindungen und einem Gefühl der politischen Handlungsfähigkeit sehnen.
Elif Shafak ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der Türkei. Zu ihren Büchern gehören Der Bastard von Istanbul (The Bastard of Istanbul), Der Geruch des Paradieses (Three Daughters of Eve) und zuletzt Das Flüstern der Feigenbäume (The Island of Missing Trees).
LONDON – Wir leben im Zeitalter der Angst. Es ist eine Ära des Zorns, der Besorgnis, der Furcht, der Verwirrung, der Spaltung, der Polarisierung und des zunehmenden Misstrauens und der Verachtung gegenüber Institutionen. Dank der Verbreitung digitaler Technologien sind wir Zuschauer und Gladiatoren zugleich. Wir können die Rollen im Handumdrehen wechseln und zwischen den Zuschauerplätzen und der trockenen, staubigen Arena hin- und herspringen.
Die Plattformen der sozialen Medien sind zum Kolosseum des 21. Jahrhunderts geworden. In diesen digitalen Arenen – kleinen und großen, lokalen und internationalen – wird fast jeden Tag ein neuer Kampf ausgetragen und obwohl die Kontrahenten oft wechseln, die Sprache des Hasses und des Misstrauens ändert sich nicht. Doch während die alten Römer sich an ihren brutalen und blutigen Spektakeln ergötzen konnten, werden wir moderne Menschen durch unsere nur noch wütender.
Die Etymologie des Wortes ist wichtig. Ärger kommt aus dem Altnordischen angr, was so viel wie Not, Bedrängnis, Kummer, Qual oder Schmerz bedeutet. Die Wut steht in direktem Zusammenhang mit dem Schmerz, den so viele von uns in Ost und West empfinden, auch wenn wir sie vielleicht nicht in diesen Worten ausdrücken. Hinter den Schreikämpfen und dem allgegenwärtigen Schweigen, das sie antreibt, steckt die einfache Wahrheit, dass wir verletzt sind.
Vor nicht allzu langer Zeit sah die Welt noch ganz anders aus. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren herrschte Optimismus im Überfluss. Aber es war ein Optimismus, der gefährlich an Selbstgefälligkeit grenzte. Die Geschichte, so meinten viele Kommentatoren, könne sich nur in eine Richtung bewegen: linear, vorwärts. Ihr Bogen würde sich unweigerlich in Richtung Gerechtigkeit biegen. Damals benutzten wir gerne Ausdrücke wie „auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“. Dahinter steckte die Annahme, dass das Morgen demokratischer, integrativer, egalitärer und vernetzter sein würde als das Gestern.
Die größten Optimisten jener Tage waren die Technik-Visionäre. Ihr Überschwang kannte keine Grenzen. Wann immer sie das Silicon Valley verließen und an internationalen Konferenzen oder Kultur- und Literaturfestivals teilnahmen, versicherten sie uns zuversichtlich, dass Informationen pures Gold sind. Das war alles, was wir brauchten, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Mithilfe von immer mehr Informationen würden die Menschen gewiss die richtigen politischen Entscheidungen treffen. Die rasche Verbreitung von Informationen würde Diktaturen stürzen und den dringend benötigten sozialen Wandel herbeiführen.
Das Wachstum der digitalen Plattformen würde die demokratischen Ideale bis in die entferntesten Winkel der Welt tragen. Selbst die Länder, die bei der Demokratisierung hinterherhinkten, würden sich früher oder später der „zivilisierten Welt“ anschließen müssen. Zu Beginn des Arabischen Frühlings war diese Stimmung so weit verbreitet, dass viele davon ausgingen, dass Facebook einen positiven Einfluss auf die Welt hat. Experten feierten den Aufstand im Iran nach den Wahlen 2009 als „Twitter-Revolution“.
Etwa zur gleichen Zeit nannte ein junges ägyptisches Paar seine neugeborene Tochter „Facebook“. Ein paar Monate später nannte eine israelische Familie ihr drittes Kind „Like“. Ich denke oft an diese Kinder, Facebook in Ägypten und Like in Israel. Was für eine Welt haben wir ihnen hinterlassen?
Schall und Rauch
Die Verbreitung von Informationen ist natürlich weder ein Garant noch eine Voraussetzung für Demokratie. Heute leben wir in einer Welt, in der es viel zu viele Informationen gibt (ganz zu schweigen von willkürlichen Fehlinformationen und böswilliger, systematischer Desinformation), aber sehr wenig Wissen und noch weniger Weisheit. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge und indem wir uns nur auf Informationen konzentrieren, vernachlässigen wir das Wissen und geben die Weisheit auf.
Bei Informationen geht es um Geschwindigkeit, einzelne Datenschnipsel, Zahlen. Zwischen „Zahlen“ und „Gefühllosigkeit“ gibt es mehr als Rhythmus und Reim. Wenn wir mit so vielen Informationen bombardiert werden, können wir das, was wir lesen oder hören, nicht verarbeiten. Eine ständige Informationsflut gibt uns die Illusion, dass wir über alles Bescheid wissen.
Information is about speed, discrete snippets of data, numbers. Between “numbers” and “numbness” there is more than rhythm and rhyme. When we are bombarded with so much information, we do not process what we read or what we hear. A constant overload of information gives us the illusion that we have knowledge about anything and almost everything.
So haben wir nach und nach verlernt, „Ich weiß es nicht“ zu sagen. Sind wir mit einem Thema nicht vertraut, dann können wir es einfach googeln und in den nächsten fünf bis zehn Minuten können wir etwas dazu sagen. Und wenn wir uns noch ein paar Minuten mehr Zeit nehmen, können wir uns sogar selbst davon überzeugen, dass wir Experten sind – auch wenn diese Informationsschnipsel kein Wissen darstellen.
Wie können wir die Menge an Informationen, mit denen wir täglich konfrontiert werden, verringern, aber unser Wissen und letztlich unsere Weisheit vergrößern? Um Wissen zu erlangen, müssen wir das Tempo drosseln und uns vor Dogmen hüten, auch vor unseren eigenen. Wir müssen aufstehen und die Zuschauerplätze und die trockenen, staubigen Arenen verlassen. Wissen erfordert Bücher, fachübergreifende Lektüre, gewissenhafte Recherche, gründliche Analysen, nuancierte Gespräche und das Vermeiden vorschnellen Urteilens. Und Weisheit verlangt von uns, dass wir Verstand und Herz vereinen. Um Weisheit zu erlangen, brauchen wir nicht nur eine rein rationale Analyse, sondern auch emotionale Intelligenz, Einfühlungsvermögen, Demut und Mitgefühl.
Wir müssen uns die Geschichten der anderen anhören und den stillen Momenten Aufmerksamkeit schenken.
Die Wurzeln der Weisheit
Zu Beginn der Pandemie, als die Londoner in den öffentlichen Parks spazieren gehen durften, fielen mir die Schilder auf, die hier und da aufgestellt waren. „Wenn das alles vorbei ist, wie soll die Welt dann aussehen?“, stand darauf. Unter die Frage hatten Passanten ihre eigenen Antworten gekritzelt. Jemand hatte geschrieben: „Wenn das alles vorbei ist, möchte ich in einer Welt leben, in der man mir zuhört“.
Es ist traurige Ironie, dass in einem Zeitalter, in dem wir dank digitaler Plattformen und der unvermeidlichen, unaufhaltsamen Verbreitung der liberalen Demokratie alle eine Stimme haben, fast das Gegenteil eingetreten ist. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben das Gefühl, keine Stimme zu haben. Inmitten der ohrenbetäubenden Kakophonie wissen sie, dass sie nicht gehört werden.
Unser tägliches Leben ist voll von negativen Emotionen, von denen wir nicht wissen, wie wir sie verarbeiten oder wohin wir sie lenken sollen. Aber wir sprechen nicht gerne darüber, schon gar nicht im Vereinigten Königreich, meiner Wahlheimat, wo der Ausdruck von Gefühlen als Zeichen von Schwäche gilt. Und schon gar nicht in meinem Heimatland, der Türkei, wo viele einfach davon ausgehen, dass Frauen rein emotionale Wesen sind, während Männer rationaler sind (was natürlich völliger Unsinn ist).
Menschen jeden Alters und Geschlechts sind emotionale Wesen. Wenn wir miteinander in Verbindung treten, geschieht dies durch Geschichten und Gefühle. Woran wir glauben oder wofür wir kämpfen, hängt von Geschichten und Emotionen ab. Und woran wir uns erinnern und was wir mitnehmen, selbst wenn wir entwurzelt und entvölkert sind, sind Geschichten und Gefühle.
Ich habe jede Emotion immer als eine Quelle roher Energie betrachtet, wie ein Mineral, das in verschiedene Formen verarbeitet werden kann, ein Metall, das in verschiedene Formen gegossen werden kann. Anstatt zu versuchen, unsere Emotionen zu unterdrücken, scheint es gesünder und vielleicht auch ein wenig klüger zu sein, ihre Existenz anzuerkennen, offen über sie zu sprechen und integrative Räume zu schaffen, in denen wir verstehen und erforschen können, wie unsere psychische Gesundheit belastet wird.
Es ist in Ordnung, wenn es einem in einer Zeit wie der unseren nicht gut geht. Es ist in Ordnung, angesichts all dessen, was geschieht, besorgt oder unzufrieden zu sein. Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir wütend oder verzweifelt, ängstlich oder frustriert sind, sondern wie wir mit diesen Gefühlen umgehen. Können wir rohe Emotionen in etwas Positives und Konstruktives verwandeln, sowohl für uns als Individuen als auch für unsere Gemeinschaften und Gesellschaften?
Wenn es letztlich etwas gibt, das weitaus zerstörerischer ist als jede Emotion, dann ist es das Fehlen jeglicher Emotion: Gefühllosigkeit. Gleichgültigkeit. Geistige Lethargie. In dem Moment, in dem wir gegenüber der Informationsflut so unempfindlich geworden sind, dass wir kaum noch wahrnehmen, was in einem anderen Teil der Welt oder in der Nachbarschaft geschieht, sind wir völlig abgeschnitten und voneinander getrennt. Und das ist eine sehr viel gefährlichere Schwelle. Wir befinden uns an einem Scheideweg. Die Entscheidungen, die wir heute treffen, werden lang anhaltende Folgen für den Planeten, für unsere Gesellschaft und für unsere individuelle und kollektive psychische Gesundheit haben. Wir befinden uns vielleicht im Zeitalter der Angst, aber von hier bis zum Zeitalter der Apathie ist es nur ein kurzer, schicksalhafter Schritt. Wir müssen sicherstellen, dass wir ihn nicht machen.
Flüssige Zeiten
Vor vielen Jahren, als ich in Istanbul lebte und meine Romane schrieb, wurde ich von einer amerikanischen Wissenschaftlerin interviewt, die in der Stadt über „Schriftstellerinnen des Nahen Ostens“ forschte. Wir hatten ein nettes Gespräch, und beiläufig, mit einem sanften, freundlichen Lächeln, sagte sie mir, dass es für mich verständlich sei, Feministin zu sein: Ich sei Türkin und lebe in der Türkei. Die Art, wie sie sprach, machte deutlich, dass sie für sich keinen Grund sah, Feministin zu sein: Sie kam aus Amerika, einem Land, in dem die Rechte der Frauen bereits verwirklicht worden waren und in dem die Demokratie fest, stabil und sicher war.
Doch seit 2016 ist diese dualistische Weltsicht ins Schwanken geraten. Nach dem Brexit, der Wahl von Donald Trump, dem Aufstieg des populistischen Nationalismus in ganz Europa und darüber hinaus, der Aushöhlung der liberalen Demokratie und dem Aufkommen „illiberaler Demokratien“, die mit dem Autoritarismus liebäugeln, hat diese tief verwurzelte Dualität selbst in den Köpfen ihrer entschiedensten Verfechter ihren Halt verloren.
Heute wissen wir, dass es so etwas wie „stabile“ Länder nicht gibt. Wir alle leben in flüssigen Zeiten, um einen Begriff des verstorbenen Soziologen und politischen Denkers Zygmunt Bauman zu verwenden. Die Geschichte schreitet nicht unbedingt linear voran. Wenn dies flüssige Zeiten sind, dann hat man das Gefühl, dass sich die Strömung mit der Pandemie, der Klimakrise und der Ausweitung und Vertiefung der Ungleichheiten – sozial, digital, ethnisch, geschlechtsspezifisch, klassenbedingt – beschleunigt hat.
Dies ist ein Moment, in dem wir globale Schwesternschaft und globale Solidarität brauchen. Wir brauchen Feminismus überall, genauso wie wir uns überall um Menschenrechte, Redefreiheit und Minderheitenrechte kümmern müssen. Ob wir nun Zahnärzte, Studenten, Ingenieure oder Dichter sind, was immer wir tun und wo immer wir leben, wir können uns den Luxus der Passivität nicht leisten. Von der Möglichkeit einer weiteren Pandemie bis hin zu Umweltkatastrophen, von Cyberterrorismus bis hin zu Flüchtlingskrisen – wir stehen vor gewaltigen globalen Herausforderungen, die sich nicht mit der Rhetorik von Nationalismus, Isolationismus, Stammesdenken oder Gruppennarzissmus lösen lassen.
Wir müssen uns mit der Natur verbinden und unsere Verantwortung für unseren Planeten verstehen. Wir müssen uns miteinander verbinden und danach streben, engagierte, beteiligte, sachkundige und weise Bürger zu werden. Sich zu verbinden, ist unser einziger Weg nach vorn.
Während uns Geschichten zusammenbringen, trennen uns unerzählte Geschichten und hartnäckiges Schweigen voneinander.
Vielleicht werden unsere Stimmen von den Machthabern nicht gehört. Aber wir sind nicht ohnmächtig, und wir sind nicht stimmlos. Wir sind in der Lage, die Welt zu verändern.
Übersetzung: Andreas Hubig
Quelle: Elif Shafak Bild: piqd | Project Sy... www.project-syndicate.org
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wenn sie übersetzen und im rahmen eines feministischen aufrufs berufsgruppen nennen, dann sollte für die deutsche sprache gegendert werden. oder nicht? zahnärztinnen, studentinnen, ingenieurinnen, dichterinnen.