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Literatur

Wunsch, Indianer zu werden

Wunsch, Indianer zu werden

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtSonntag, 14.02.2016

Wenn man selbst zum Schreiben mit dem Laptop zwischen Küche, Wohnzimmercouch und ICE wechselt, je nachdem, wo die Familie einem gerade ein Plätzchen lässt, interessiert man sich besonders für die Lebensweise anderer Autoren in ihren schönen Häusern, die nach ihrem Tod zu Gedenkstätten geworden sind, für die man dann (erfolglos) Aufenthaltsstipendien beantragen kann. In der Buchhandlung fand ich eine Heftreihe, die sich Lebensorten von Autoren widmet, und als erstes kaufte ich natürlich das Heft über Karl May in Radebeul (Bernd Erhard Fischer "Karl May in Radebeul", Edition A.B.Fischer), schließlich war die Villa des in den 80ern rehabilitierten Sachsen mit dem eingebauten Babelfisch einer der kulturellen Trümpfe der DDR: "Ich spreche und schreibe: französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch, chinesisch 6 Dialekte, malaiisch, Namaquq, einige Sunda-Idiome, Suaheli, hindustanisch, türlisch und die Indianersprachen der Sioux, Apatschen, Komantschen, Snakes, Utahs, Kiowas, nebst Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte, Lappländisch will ich nicht mitzählen …" Da ich diese Sprachen alle wirklich spreche und einzuschätzen weiß, wie sperrig besonders die chinesischen Dialekte sind, habe ich besonderen Respekt vor Karl Mays Eifer beim Vokabelnlernen. Das Bändchen ist schön bebildert, man träumt sich in die Villa "Shatterhand", in der Alben mit Porträts von Karl Mays Lesern ausliegen, die er sich von diesen gerne erbat. Besondere Leser bedachte er dann mit einer Strähne blauschwarzen Haars von Winnetou, dem Häuptling der Apachen. Wundervolle Räume hat er bewohnt, Nachschlagewerke und Reiseliteratur bis zur Decke, Teppiche und Löwenfelle, orientalische Möbel, ein Globus, ein Kartentisch und an den Wänden symbolistische Großkunst von Freund Sascha Schneider. Aber wie unglücklich war er! Während er mit Kaffee und Zigarren nächtelang schrieb, von Verträgen geknebelt, und um die Angst vor seinen Feinden zu verdrängen (die alte Geschichten über ihn zu verbreiten drohten und sogar seine in der Jugend unter Pseudonym erschienenen Schundromane neu herausgeben wollten), hielt seine Frau nebenan spiritistische Sitzungen ab oder ging gleich fremd. Würde sie ihn vergiften? Er aß lieber auswärts. Und das nach einer furchtbaren Kindheit und Jugend mit 5jähriger Erblindung, Prügel, Elend, neun verstorbenen Geschwistern und langen Gefängnisaufenthalten wegen Diebstahls und Betrug. Ein nie versiegender Brennstoff für das Schreiben, diese Flucht ins Imaginäre, weg vom Schmutz der Wirklichkeit, hin zum wahren Ich.

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