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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Catherine Meurisses neuer Comic "Weites Land" ("Les Grandes Espaces") ist eine Einladung in ein anderes Leben und gleichzeitig eine Warnung davor. Zu den großen Entscheidungen, die wir noch treffen können (Kinder oder keine Kinder? Apple oder Microsoft? Bar oder mit Karte?) zählt die Wahl zwischen einem Leben in der Stadt oder auf dem Land. Manchmal gucke ich YouTube-Videos wie dieses, um mich schon einmal darauf vorzubereiten. Aber kann man noch auf dem Land leben ohne Auto? Gibt es da gute Schulen? Muß man dann kompostieren lernen? Was tut man gegen Quecken? Was ist mit den Wölfen? Und wie wird man die Nachbarn los, wenn man nicht einfach umziehen kann?
Glücklich, wer die schwere Entscheidung nicht selbst treffen mußte, weil seine Eltern sie für ihn getroffen haben, und wer deshalb auf dem Land aufwachsen konnte, eine bessere Umgebung für Kinder dürfte es nicht geben. Das war der Fall bei Catherine Meurisse, der französischen Comic-Autorin, von der auf Deutsch zuletzt der Band "Die Leichtigkeit" erschienen ist, in dem sie von Strategien erzählt hat, das Trauma zu verarbeiten, unter dem sie litt, nachdem sie den Mordanschlag auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion überlebt hatte, sie selbst weigert sich von Glück zu sprechen, es war purer Zufall. Schon damals haben ihr Proust, die Natur und die Malerei geholfen, wenn auch langsam, jetzt befragt sie sich nach ihren Wurzeln, die auch im wörtlichen Sinne Wurzeln sind.
In "Weites Land" beschreibt sie ihre Kindheit auf einem alten Gehöft, das ihre Eltern 1987 gekauft haben, als sie und ihre Schwester kleine Mädchen waren. Die Eltern sind Proust- und Loti-Leser (mehr Literatur muß es für sie eigentlich nicht geben, denn die beiden haben bereits alles gesagt) und betreiben eine Form von literarischem Gartenbau, indem sie Ableger von Prousts Rosen aus Illiers-Combray, von einem Rosenstock von Montaigne, einem Feigenbaum von Rabelais, Nelken, die Loti beschrieben hat (und die die Mutter in Versailles findet), bei sich einpflanzen. Aber beginnen tun sie mit Ablegern aus den Gärten ihrer eigenen Elternhäuser, einem Rosenstock vom Großvater, Akeleien von der Großmutter.
Als erstes beeindrucken Catherine allerdings nicht Pflanzen, sondern die Steinmauern des jahrhundertealten, verfallenen Gehöfts, der Mörtel, der aus den Ritzen rieselt, die Wärme, die die Steine nach einem Sonnentag abstrahlen, die geheimnisvoll abgerundeten Ecken. So bekommt Catherine durch das Aufwachsen mit alten Dingen einen Sinn für Wabi und Sabi, für die Patina der alten Gemäuer, für Würde und Schönheit des Schon-da-gewesenen, eine ganz beiläufige ästhetische Erziehung zu einer Sensibilität für Altes, die den meisten Erwachsenen heute abgeht. Schon als Mädchen reagiert sie geschockt, als ihr Vater eine Leichtbausteinmauer setzt (die aber zum Glück mit echten Steinen verkleidet wird.) Die Mädchen richten nach Lotis Vorbild in der Scheune eine Art Museum ein, in dem sie ihre Schätze präsentieren, Muscheln, alte Nägel, Kuhfladen, menschliche Knochen aus einem galloromanischen Grab. Bei Besuchen mit ihren Eltern im Louvre entdeckt Catherine später die Landschaftsmalerei und wird selbst zum Zeichnen angeregt. Der Blick auf die Natur ändert sich durch das Studium der Kulturversion von Natur und umgekehrt.
Von Anfang an wird aber auch klar, daß das "Land" genauso gefährdet von der Industrialisierung ist wie die Stadt, nur daß es vielleicht sogar noch mehr schmerzt, den Prozeß mitzuerleben, weil er so gewaltsam ist. Die Ackerflächen werden vergrößert, dafür wird der Bocage zerstört, als Lebensraum und als Windschutz äußerst wichtige, jahrhundertealte Hecken und Sträucher zwischen den Feldern, ein ökologisches Desaster. Monokultur, Insektensterben, Versiegelung von Flächen, Monsanto, immer größere Traktoren, antibiotikaverseuchtes Blut vom Schlachthof, das auf den Feldern ausgebracht wird (für Mais, der als Viehfutter dient und ohnehin zuviel Wasser braucht für die Region). Aber mindestens so schlimm ist das Marketing, das das Land den Touristen aus der Stadt schmackhaft machen will. Es gibt keine Eigenheit mehr, auf die nicht mit einem Schild hingewiesen würde ("Straße des Cabécou und der Ziegenkäse", "Eigenwillige Altstadt", "Blumendorf"), die Saison verläuft im Rhythmus sinnloser Feste (Strohschuhweitwurf, Riesenomelettfest, LKW-Cross mit Traktoren-Stunts). Das Land wird vermarktet für Airsoft-Kriegsspiel, Quadfahren, Privat-Jagden (bei uns gibt es "Event-Scheunen"). Ausdruck eines Horror vacui entwurzelter Menschen, es scheint nicht mehr möglich, eine Region zu akzeptieren, deren touristisches Potential nicht "entwickelt" wurde. Die größte Pest sind natürlich auch in Frankreich die Selbstverwirklichungs-Architekten, im Buch vertreten durch ein "Futuroland" genanntes Projekt ("Unsere Region soll Vorreiter werden in Sachen Zukunftsorientierung und daher die Schaffung eines Parks mit Attraktionen und starken Eindrücken, der die Gesellschaft von morgen vordenkt.") Kommentar von Catherines Eltern: "Wer hat noch einmal gesagt, die Todesstrafe gehört abgeschafft, außer für Architekten?" Es gibt aber auch noch Überreste von archaisch wirkender Lebensweise, mit Hausschlachtung, authentischen Volkstanzgruppen und einer Nachbarsfamilie, die im Vorratskeller zwischen Eingemachtem auch den von einem Mähdrescher abgetrennten Finger des Großvaters in einem Glas aufbewahrt, weil sie nicht wissen, wo sie ihn begraben sollen.
Der Garten von Meurisses Eltern ist ein Hortus conclusus, also ein Schutzraum, der eigentliche Sinn des Wortes "Garten", nur daß früher damit ein Schutz vor der Wildnis gemeint war, während heute die Wildnis vor den Menschen geschützt werden muß. Catherines Eltern pflegen die Sortenvielfalt, sie imkern, sie pflanzen zahlreiche Bäume und Hecken, es ist alles andere als ein Eskapismus, eine romantische Illusion von Städtern, die weltfremde Projektion von Sehnsüchten auf die Natur, nein, es ist nicht einmal "gärtnern", die Eltern nennen es "im Widerstand sein". Und dieser Widerstand bringt für ihre Kinder ein Paradies hervor, an das sich Meurisse, zu unserem Glück, erinnert hat. Jeder, der Kinder hat, und der den Schritt aufs Land nicht gewagt hat, wird das, wenn er ehrlich ist, sein Leben lang bedauern, spätestens nach diesem Buch.
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