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Literatur

Standardstädte - Ernst May in der Sowjetunion

Quelle: (c) Jochen Schmidt

Standardstädte - Ernst May in der Sowjetunion

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtDienstag, 07.03.2017

Jedesmal, wenn ich auf der Frankfurter Buchmesse war, nahm ich mir vor, doch mal spazieren zu gehen, aber die Innenstadt war einfach so niederschmetternd, daß ich die freie Zeit meistens trübsinnig im Hotel vergammelte. Bis ich anfing, mich für "Das neue Frankfurt" zu interessieren, den sozial motivierten Bau von 12000 Wohnungen, der in Frankfurt/Main von 1925-1930 unter Stadtbaurat Ernst May stattfand und ich mich auf die Suche nach dem Ernst-May-Haus in der Frankfurter Siedlung Römerstadt machte. Tatsächlich umgibt Frankfurt ein ganzer Ring von Siedlungen aus dieser Zeit, und in der Römerstadt, im Nordwesten der Stadt, am Nidda-Tal, befindet sich das Ernst-May-Haus, ein wundervoller Ort gestalterischer Strenge und Vernunft, mit den eigens für Frankfurt entworfenen Holzmöbeln, mit der originalen Farbgestaltung, mit Badezimmer und Bakelit-Telefon, bis hin zur Frankfurter Küche, dem vielleicht berühmtesten Produkt des Neuen Frankfurt. Über diese von Margarete Schütte-Lihotzky entworfene Mutter aller modernen Küchen könnte ich nicht genug schwärmen, obwohl ich gar nicht gerne koche, aber ich liebe praktische Designeinfälle, wie das klappbare Wand-Bügelbrett (obwohl ich auch gar nicht bügle), die Abtropfhalterung für Teller, die blaue Oberfläche der Küchenmöbel, die angeblich Fliegen abschrecken soll, die Idee, Küchenschränke mit Glasscheiben zu versehen, damit man, ohne sie zu öffnen, sieht, was drin ist. Wenn man sich heute fragt, warum eigentlich die Mieten in Berlin ständig steigen, und warum es nicht möglich sein soll, sozial verträglich, gestalterisch anspruchsvoll, aber trotzdem preiswert zu bauen, dann ist das Neue Frankfurt eine ständige Inspiration (oder auch Provokation). Damals hat man es tatsächlich geschafft, die Mieten in der Stadt zu senken, und das in wirtschaftlich unsicheren Zeiten.

Ernst May konnte aber nicht Nein sagen, als er aus der UdSSR das Angebot bekam, dort eine noch viel größere Aufgabe zu lösen. 1930 ist er mit einem Team von Mitarbeitern (aus ganz Europa waren 1500 Bewerbungen eingegangen) in die UdSSR gegangen, um als eine Art oberster Städtebaumeister Dutzende Städte zu planen. Darüber erfährt man sehr viel in "Standardstädte – Ernst May in der Sowjetunion 1930-1933", einem Band aus dem Suhrkamp-Verlag, den der ehemalige Berliner Kultursenator Thomas Flierl herausgegeben und mit Anmerkungen versehen hat (aus denen man z.B. erfährt, daß Bruno Taut 1938 den Katafalk von Atatürk entworfen hat). Dazu gibt es einen hochinteressanten Einführungsaufsatz von Flierl, der übrigen so gut Russisch spricht, daß er viele der versammelten Dokumente selbst übersetzt hat. In der Sowjetunion sind im Zuge der Industrialisierung des Landes in wenigen Jahrzehnten tausende Städte gebaut worden. Da man zunächst planmäßig die Schwerindustrie aufbauen wollte, hat man zuerst die Werke errichtet (oft von amerikanischen Firmen, was mir völlig neu war) und konnte sich erst dann dem Wohnungsbau für zehntausende Arbeiter widmen, die bis dahin in primitiven Holzhütten oder Erdhütten gewohnt haben. Man hat schlicht einkalkuliert, eine ganze Generation den zukünftigen zu opfern. Es ist niederschmetternd zu lesen, was diese Generation zu leiden hatte, und was durch den Stalinschen Terror noch auf sie zukam. Fast alle höheren Chargen, mit denen Ernst May zu tun hatte, sind später umgebracht worden. (Wie auch viele seiner Mitstreiter aus Frankfurt, insbesondere der jüdische Oberbürgermeister Ludwig Landmann, ohne den es das Neue Frankfurt nicht gegeben hätte, von den Nazis verfolgt wurden, die bekanntlich keine flachen Dächer mochten.)

Regelmäßig berichtet May in Artikeln für die Frankfurter Zeitung von seiner Arbeit in der Sowjetunion. Man reiste im Eisenbahnwaggon durchs ganze Land, gearbeitet wurde im Zug. Oft blieb man nur drei Tage vor Ort, um die Lage zu studieren und dann entwarf man schon einen Plan für die zu bauende Stadt, der diskutiert und abgesegnet wurde und manchmal begannen schon am nächsten Tag die Arbeiten. Hier und da (leider zu selten, da er sehr gut beobachtet) liefert May auch pittoreske Details: "Wer beschreibt z.B. unsere freudige Genugtuung, wenn unsere Jelenitschka, um unser Abteil besser auswischen zu können, aus einem Becher einen Mund voll Wasser schlürfte, um ihn genauso auszuspucken, wie wir es vom Elefanten im Zoo her kennen, oder wenn sie an einer Station vom hohen Trittbrett herunterturnte, um mit kühnem Griff eine Handvoll unbegreiflicher Masse zwischen den Schienen zu entnehmen, um damit unser Geschirr zu reinigen." Neu war mir, daß man in Stalingrad Kamele sehen konnte: "Wenn man so einen Höckerträger friedlich dahertappen sieht, an ein paar Heuhalmen kauend, die Unterkiefer um Faustbreite seitlich des Oberkiefers hin- und herschiebend, so wirkt das unendlich nervenberuhigend." Und auch ein Lieblingsthema des durch Osteuropa reisenden Westeuropäers kommt zur Sprache, die lamentablen Toiletten: "Erwähnung verdient ein gewisser Ort im Hofe, der zwei getrennte Abteile aufwies. Die Sitze waren mit einer vier bis fünf Zentimeter starken Eisschicht bedeckt, auf die man örtlichem Gebrauche folgend mit beiden Füßen hinaufzusteigen pflegt. Die Kälte des Winters scheint den Ordnungssinn der Benutzer erheblich beeinträchtigt zu haben, denn eine 40 bis 50 Zentimeter hohe festgefrorene Pyramide bekrönte den Sitz hinter der bekannten Öffnung. Wir waren weiter gegen Leninsk."

Wesentlich negativer klingen die Eindrücke, die in privaten Briefen wiedergegeben werden, da ist von einer "seelischen Hornhaut" die Rede, wenn man das Elend ertragen wolle, das sich den Reisenden an den Stationen in Gestalt von Scharen obdachloser, zerlumpter, bettelnder Kinder bietet. Es herrscht Hunger, es gibt außer Lippenstift, billigem Parfüm und rationiertem Brot minderer Qualität praktisch nichts zu kaufen. Auch die Bürokratie und überhaupt eine andere Haltung zu Absprachen und Qualität der Bauausführung werden beklagt. An seiner Bürotür läßt May ein Schild anbringen: "Protiw saftra" ("Gegen Morgen"), da "saftra" die ständige Antwort ist, die man auf die Bitte, daß etwas erledigt werden möge, hört. Aber es fehlte eben an Fachleuten, die meisten Arbeiter waren kurz vorher noch Bauern gewesen.

In der Sowjetunion herrschte ein Richtungsstreit darüber, wie die neue sozialistische Stadt aussehen sollte. Es gab Extrempositionen, z.B. die Umsetzung der von Marx und Lenin vorausgesagten Auflösung des Unterschieds von Stadt und Land durch die Industrialisierung der Landwirtschaft. Die Menschen sollten an Magistralen über die ganze Fläche des Landes verteilt wohnen. Oder das kollektive Wohnen, Häuser, in denen es bis auf Rückzugsräume keine individuellen Bereiche mehr gab. Gekocht wurde in Gemeinschaftsküchen, die Kinder sollten gleich ganz getrennt von en Eltern leben. Ein paar Beispiele solcher Bauformen, wie das Moskauer Narkomfin-Haus, stehen immer noch. Eine andere Fraktion setzte sich zunehmend durch, die die Ideale sozial-egalitären Bauens verriet, weil sie zentrale Repräsentationsbauten wollte, ornamentgeschmückt, Nachfahren der Zarenpaläste (eigenartige Vorliebe der Revolutionäre für Pionier-Paläste, Kultur-Paläste). Heute sind das z.B. die auffälligen Stalintürme, die Moskau umringen, für May war das Tand von Gestern, "Hochzeitskutschen-Architektur". Chrustschow wird in den 50ern einen Richtungswechsel zu industriellem Bauen einleiten, um für weniger Geld mehr Wohnraum zu schaffen. Heute werden die Chrustschowkas in Moskau bereits wieder abgerissen und die Bewohner verdrängt.

Ernst May ist immer mehr auf Distanz mit seinen Auftraggebern gegangen und wurde nach und nach ausgebootet, was aus seinen Texten auch deutlich wird. 1933 ging er nach Kenia, um als Kaffee-Farmer zu leben, er baute aber bald auch in Afrika wieder (worüber andere Bücher Auskunft geben) und nach dem Krieg war er eine wichtige Figur im bundesdeutschen Städtebau (er hat übrigens auch einmal einen Wettbewerbsbeitrag für die Bebauung des Ost-Berliner Fennpfuhls eingereicht).

Im Ersten Weltkrieg hatte der junge May Soldatenfriedhöfe gestaltet. Prägend war ihn das Studium der englischen Gartenstadtbewegung. In Schlesien hat er zuerst sozialen Siedlungsbau betrieben. Seine Ideale, die Trabentenstadt, die durchgehende Zeilenbauweise (weg vom ungeregelten, vom Markt und vom Bodenwert gesteuerten "Wuchern" der kapitalistischen Stadt), sind heute teilweise diskreditiert. Man bevorzugt das neue Ideal der "europäischen Stadt". Damals sollten die bis dahin in elenden Verhältnissen vegetierenden Arbeiter außerhalb der Stadt wohnen, hinter einem Grüngürtel, sie sollten einen Garten haben (in der Römerstadt ist jeweils ein Teil des Gartens jedes Hauses als "Bleichwiese" für Wäsche vorgesehen), bzw. in Grünanlagen Gartenbau betreiben können. Man sollte in der Siedlung arbeiten, so daß der Innenstadtverkehr entlastet wurde. Jeder sollte ein gleiches Maß an Licht und Sonne haben ("Die Proportionen der Wohnräume und die Lage der Zimmer sollen dem Menschen auch eine geistige Befriedigung gewähren; in besonders großem Maße sollen Licht und Sonnenstrahlen in die Wohnungen dringen.") Der Ausbau der Städte durch Trabantenstädte (wie May es als Erster nannte) statt durch wachsende Ringe, ist heute aus verschiedensten Gründen diskreditiert. Man sollte aber nicht vergessen, wie die Wohnverhältnisse zu dieser Zeit waren. (Damals wurden für die Wohnung für das Existenzminimum, die drei Zimmer hatte, nur 44 qm angesetzt.)

Die Siedlungshäuser in der Frankfurter Römerstadt, denen man das neusachliche Erbe noch ansieht, sind von den Bewohnern inzwischen mit allen möglichen Gemütsaccessoires ausgestattet worden sind. Ob in den Häusern noch originale Frankfurter Küchen existieren, und wieviele es sein könnten, ist, wie mir versichert wurde, nicht bekannt, das Museum hätte gar keine Mitarbeiter, um das herauszufinden. Besonders gefallen haben mir im Viertel die Leitern, die auf die Dächer führen, sie können nämlich längs zusammengeschoben werden, die Sprossen klappen ein, dann kann man die Leiter durch ein Schloß sichern, und schon kann sie kein Unbefugter mehr benutzen. Ein genialer Einfall, ein Beispiel dafür, daß Design die Welt verbessern kann, ohne daß es teuer sein muß.

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