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Literatur

Radikale Lehrplanreform: "Kräkaendraggon"

Radikale Lehrplanreform: "Kräkaendraggon"

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMittwoch, 21.02.2018

Die Dokumentation "Alphabet - Angst oder Liebe" wirbt leidenschaftlich für eine Pädagogik, die Schule nicht aus Angst vor PISA-Resultaten oder vor der fleißigen und beeindruckend zahlreichen chinesischen Schülerkonkurrenz als Ort auffasst, an dem das Lernen im Hinblick auf Relevanz für ökonomisch verwertbare Arbeit optimiert wird. Viel lustiger kann es allerdings sein, diese Denkweise zu kritisieren, indem man sie in aller Konsequenz anwendet, und das geschieht (wahrscheinlich unbeabsichtigt) in "Käkaendraggon", einem äußerst amüsanten Comic-Album von Mathieu Sapin ("Libération - Journal d'un journal", "Le château - un an dans les coulisses de l'Élysée") und Lewis Trondheim ("Les petits riens") aus dem Jahr 2014 (erschienen bei "Gallimard Jeunesse". Ich wollte gerade einen Witz über das schwer vorstellbare "Suhrkamp Jeunesse" machen, da merke ich, daß Suhrkamp längst Comics im Programm hat.) In französischen Comic-Alben gibt es meistens eine Liste der Veröffentlichungen der Autoren, auch wenn diese Bücher in anderen Verlagen erschienen sind. Von Trondheim sind in "Kräkaendraggon" ca. 90 Titel aufgelistet (die 35 Alben aus der Donjon-Reihe gar nicht mitgezählt) und von Sapin immerhin auch schon 35. Trondheim veröffentlicht auf seiner Seite sogar eine Tabelle mit seinen Projekten, die die jeweils geplante und bereits fertiggestellte Seitenzahl anführt. Alleine für 2018 sind dort 9 Alben vorgesehen. Und dabei werden beide Autoren graphisch immer besser und detaillierter. Wenn ich mich nicht täusche, wurde "Kräkaendraggon" von Sapin gezeichnet und von Trondheim geschrieben, sofern man das bei so einer Collaboration so genau sagen kann. Die Farben stammen von Trondheims Frau, Brigitte Findakly ("Mohnblumen aus dem Irak"), während Sapin sonst von seiner Schwester koloriert wird. In der französischen Comic-Welt scheint es, anders als im deutschen Literaturbetrieb, eine Tendenz zu freundschaftlicher Verbindung und kollegialer Zusammenarbeit zu geben.

In "Kräkaendraggon" wird eine Vision durchgespielt, die denen gefallen müßte, die sich von der computertechnischen Aufrüstung der Schule Lernerfolge erhoffen (spätestens, wenn jeder Schüler ein iPad gestellt bekommt, um darauf Multiple-Choice-Aufgaben zu lösen, wie es Nicholson Baker in "Substitute" beschreibt, werde ich mit meinen Kindern in den Wald ziehen.) Am Anfang des Buchs wird in den Fernsehnachrichten verkündet:

"Das neue Schuljahr wird radikale Veränderungen für die Schüler bringen. Um der Krise zu begegnen hat die Regierung das Bildungssystem komplett überdacht. Unsere Kinder sollen besser in der Lage sein, in einer immer deregulierteren, komplexeren und vom Wettbewerb geprägten Welt zu überleben. Um in den Zeiten der Krise zu überleben, ist entschieden worden, alles auf den einzigen, weltweit florierenden ökonomischen Sektor zu setzen und daraus die wichtigste Aktivität der neuen Generationen zu machen, die Rede ist vom Computerspiel. Alle klassischen Fächer werden durch Aktivitäten rund um die verschiedenen Formen von Spielen ersetzt."

Das heißt dann konkret, daß im Französischunterricht Fantasy und Science-Fiction gelesen wird, statt Fremdsprachen werden Klingonisch, Elfisch und Zwergensprache gelehrt, in Biologie wird vor allem Monsterkunde unterrichtet, in Geschichte wird es um die Geschichte des Spiels gehen und die Schüler lernen, Karten anzufertigen, in Kunst werden Spielfiguren und Graphiken gemalt, in Sport Paintball gespielt.

Bis auf den reichen Streber, der nie am Computer spielt ("Was? Man kann bei Tetris die Musik ausschalten?") ist das für die meisten Schüler natürlich eine gute Nachricht. Manchen älteren Lehrer (z.B. Madame Novak, "der scheintote Cro-Magnon-Mensch") stellt der neue Stoff allerdings vor Herausforderungen: "Jeder von euch setzt sich bitte hinter einen dieser Art Fernseher … Um euren Apparat in Betrieb zu nehmen, müßt ihr auf den Schalter drücken, der sich äh … befindet." Da nicht nur Madame Novak den Anschluß verloren hat, wird der große Bruder eines Schülers ("Er ist ein richtiger Nolife!") als eine Art Systemadministrator/Lehrer eingestellt. Man sieht vom dicken, jungen Mann immer wieder sein Maurer-Dekolleté, wenn er unter einen Computertisch kriecht, um Kabel zu verbinden. (Von seinen T-Shirts zwischen Atari-Logo und Pacman, hat mir am besten dieses gefallen: "Les jeux vidéo ont ruiné ma vie. Il m'en reste deux".) Die Schüler sind aufgefordert, Vorschläge für die Umbenennung ihrer Schule zu machen und eine Klasse darf für den Siegervorschlag ("Kräkaendraggon") nach Neuseeland fliegen, zu den Drehorten von "Herr der Ringe".

Ich kann nicht beurteilen, wie nah Sapin und Trondheim an der Realität der Smartphone-Generation sind, aber ich mußte zumindest öfter im Urban Dictionary nachschlagen, um die Dialoge zu verstehen. ("Er soll sogar afk im PvP gewinnen.") Zeitlos ist die Lehrer- und Schülertypologie, die ausgearbeitet wird, der Außenseiter, der sich für einen Rebellen hält und seine Skater-Klamotten für einen "Staïyle", der andere Außenseiter, der kurzerhand Brille und kariertes Hemd zum "Staïyle" erklärt und sich zum Meta-Rebellen, der gegen das Rebellentum rebelliert, die drei, die immer zusammen abhängen, weil sie eine Clique sind, der andere, der sie in der Pause sehnsüchtig beobachtet, weil er gerne wüßte, worüber sie reden, aber nie dazugehören wird.

Alle meine Angehörigen haben den Witz an diesem Comic nicht verstanden und auch gar nicht erklärt bekommen wollen. (Schon wenn man auf dem Cover Tom sieht, der mit einer Art Strahlenkanone Zombies zerschießt und der neue Nolife-Lehrer in sein Heft notiert: "Auf den Kopf, du mußt auf den Kopf zielen. Ich geb dir 6 von 20 Punkten. Und für morgen wiederholst du bitte Level 3 von Zombie City.") Das sagt einem entweder, daß man auf dem Holzweg ist, oder man versteht es als Indiz für den eigenen, überlegenen Geschmack ("Staïyle"). Ich kann mich nicht dagegen wehren, Nerd-Dialoge toll zu finden:

Yamina: "Willst du mit mir gehen?"

Tom: "Und wie würde das ablaufen? Wir gehen zusammen ins Burger-Restaurant und diskutieren über unsere Gemeinsamkeiten?"

Yamina: "Oder wir küssen uns gleich, um zu sehen, ob wir Gemeinsamkeiten haben."

Tom: "Das würde vielleicht ein bißchen unromantisch klingen, wenn wir das später unseren Kindern erzählen."

Yamina: "Wenn du willst, können wir ihnen ja erzähen, daß wir vorher zwei Cheeseburger und eine doppelte Portion Fritten hatten."

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